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Welches Europa?

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Vor nicht langer Zeit wurde Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ in der Bundesrepublik Deutschland neu aufgelegt. In dieser Tatsache darf man ein Symptom erblicken: Spenglers teilweise geniale, oft brutale Rückblicke in die Vergangenheit der Weltgeschichte und vorlaute Rufe in die Zukunft kommen einem Pessimismus entgegen, der in gewissen Kreisen Mode ist. Wie oft sah man da „das Abendland“ untergehen, in diesen letzten fünfzehn Jahren ... Der Wohlstand zeugt seine Neurosen, wie er seine Kriminalität erzeugt. Was in den zwanziger Jahren der Notstand zeugte, schießt jetzt in einer von Konsumhysterie vergifteten Luft hoch. Wobei eine gut aufgespielte politische Propaganda unseren lieben Landsleuten, den ungelernten Österreichern, dringend und dringlichst nahelegt, nur ja möglichst schnell aufzuspringen, um den Zug nicht zu versäumen: den Zug nach „Europa“. So, als wenn wir nicht alle selbst mitten in Europa lebten und arbeiteten.

Da ist nun eben diese kleine Peinlichkeit passiert: der Zug steht einfach nicht da. Ja, man weiß gar nicht, auf welchen Bahnhof man gehen soll. Wobei keineswegs der Ostbahnhof gemeint ist. Nein, es scheinen sich, gegen alle Regeln unserer Träume und Illusionen, statt eines Westbahnhofes, auf dem man geradewegs Von Wien nach Passau und weiter gen Westen fährt, mehrere Westbahnhöfc etablieren zu wollen. Drei Westbahnhöfe für Wirtschaft, Politik, für die europäische Integration: mit der Aufschrift „Nach Paris“, „Nach London“, „Nach Washington“.

Quelle Europe? Welches Europa? Es Ist das große Verdienst des französischen Staatschefs de Gaulle (ohne den Schatten einer Ironie wird dies hier festgehalten), einige Illusionen und Wunschträume zerstört zu haben. Es gibt sachliche, sachbezogene Gegnerschaften gegen de Gaulle: in Frankreich, Amerika, England und andernorts. Es gibt aber noch mehr Angriffe gegen ihn, die durch ihre Hysterie nur verdecken wollen, daß sie die einfache Tatsache nicht sehen, nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden — das heißt heute: Europa bedarf in den schweren und schwierigen Zeiten, die uns bevorstehen, in denen es um das Einpendeln eines Weltgleichgewichtes geht, Kerngewichte, die es in die Waagschale legen kann.

Nun, da haben wir es ia, da ist die Katze aus dem Sack — erklären uns da mit gerötetem Gesicht einige Freunde und Gegner: de Gaulle will doch nichts anderes als ein reaktionäres, unter seiner Führung stehendes Kleineuropa, mit dem Zentrum in Paris, mit Madrid und Bonn als Achsenenden. De Gaulle will nichts anderes als alleiniger „Führer“, Duce, Caudillo, Adenauer-Nachfolger werden.

Nun, so einfach ist es wieder nicht. Bei aller ansehnlichen Hochschätzung, die General de Gaulle seiner eigenen Persönlichkeit entgegenbringt — er ist frei von Selbsthaß (Selbsthaß ist die Basis der Aggressivität vieler Politiker und DemagOigen), dieser Mann läßt sich nicht auflösen (wie die Zwiebel in „Peer Gynt“) in antiamerikanische, antibritische Ressentiments, in. die fragwürdigen Schalen von Idiosynkrasien und andere mehr oder minder krankhafte Eigenwilligkeiten. Aus seiner schwierigen Zeit in Amerika im letzten Kriege stammt ein Wort, das dem Präsidenten Roosevelt zugeschrieben wird: er könne sich recht gut mit Jeanne d'Arc verständigen, auch mit Clemenceau, nicht aber mit der Mischung aus Jeanne d'Arc und Clemenceau: mit de Gaulle.

Diesem Bonmot entspricht ein Wahrheitskern: De Gaulle verkörpert nahtlos in seiner Person die beiden Frankreich, das tausendjährige Frankreich vor 1789 und das republikanische Frankreich. Das ist sein größtes, offenbares Geheimnis: diese Verbindung gab ihm die motorische Kraft, Führer der Resistance zu werden und den siebenjährigen Bürgerkrieg in und um Algerien zu beeuden. Den beiden in ihm verkörperten Frankreich verdankt er seine politische Optik.

De Gaulle ist kein Mann der Wirt-ichaft, sondern ein Mann der Politik. Als ein Mann der Politik geht es ihm beute und morgen um eines: einen harten Kern für ein kontinentales Westeuropa zu schaffen. Einen harten Kern, der weder durch weltweite wirtschaftliche noch auch durch anderweitige Verbindungen erweicht wird. De 3aulle beobachtet seit Jahren die amerikanischen und russischen Bemühungen, zu einem großen Ausgleich zu kommen. Er befürchtet, daß Europa dabei zu kurz kommen kann, wenn es nicht selbst seine Rechte als ein mög-ichst geschlossener politischer und militärischer Körper wahrnimmt. Amerika und auch England sind ihm irgendwie unheimlich — lange vor den Besprechungen zwischen Kennedy und MacMillan auf Nassau. Durch F.ng-'ands weltweite Interessen und Verpflichtungen, die über das Common-ivealrh hinaus bis China reichen, fühlt ;r Europa, das kontinentale West-;uropa, überfordert.

De Gaulle weiß, daß die beiden Europa miteinander werden sprechen müssen: das unter Führung Moskaus stehende Osteuropa — und? — das unter seiner Führung stehende West-:uropa. De Gaulle weiß, wie sehr die Russen die EWG fürchten. De Gaulle veiß, daß es den Russen leichterfällt, mit einem Bündel von Interessenten, lie zwar täglich der Welt versichern, laß sie ganz einig sind, in Wirklichkeit jedoch keineswegs selbst in sich integriert sind, sich auseinanderzusetzen, als mit einem möglichst homo-jen geschlossenen politischen Faktor. De Gaulle glaubt, daß die lauten Rufer und Bannerträger der euro-Bäischen Integration in Brüssel bereits rlen dritten Schritt vor dem ersten machen wollen: die wirtschaftliche Großintegration vor der Bildung einer soliden, klaren, politischen Gemeinschaft einiger allernächster Nachbarn.

Es ist möglich, es ist wa'irscheinlich, rlaß de Gaulle in manchen seiner Vorstellungen und Pläne irrt. Es sollte nicht mehr möglich sein, nach de Gaulles Veto gegen Englands Aufnahme als Vollmitglied in die EWG, rlies zu übersehen: alle müssen die Probleme der europäischen Integration -,eu überdenken. Die ganze Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist fraglich.

Wir haben hier, in der „Furche“, seit vielen Jahren dies gefordert: die EWG muß neu bedacht und durchdacht werden, sonst kommt es zu gefährlichen Illusionen, dann zu gefährlichen Kurzschlüssen.

In dieser heutigen, für Europa so wichtigen Stunde erklärt einer der angesehensten Wirtschaftspolitiker des deutschen Westens, Wilhelm Röpke, am 31. Jänner 1963 in einem Aufsatz in der „Neuen Zürcher Zeitung“, der den Titel trägt „Fruchtbarmachung des Vetos de Gaulles“, über die Brüsseler EWG:

„Das UWera<ifivorf/icJie war ja immer gewesen, daß man, diesm Bauriß in der Hand, mit dem Bau munter fortfuhr, seine architektonischen Schönheiten hinreißend pries und den dadurch obdachlos werdenden Umwohnern das Mitmachen nahelegte, ohne sich zu vergewissem, daß der Gesamtbau auch gelingen könnte, und ohne den Zweiflern eine über Spott oder Übellaunigkeit hinausgehende Beachtung zu schenken.

Es ist das Fruchtbare der schroffen Geste de Gaulles, daß sie es nicht mehr erlaubt, diesen Weg des Illusionismus fortzusetzen, sondern zu einer neuen Überprüfung des Grundsätzlichen zwingt . . . Wahrscheinlich stehen wir jetzt vor der gewiß höchst unbequemen, aber ohnehin unausweichlich gewordenen und nicht mehr hoffnungslosen Notwendigkeit, das Problem der europäischen Integration neu zu stellen. Das heißt nicht, daß die Lage ausweglos geworden ist, sondern nur, daß sie wahrscheinlich nicht anders als durch radikales Umdenken gemeistert werden kann.“

Das sind goldene Worte. Werden sie Wien erreichen? Alle, die es hier angeht! Und es geht uns alle an!

Seit dem Veto de Gaulles sind die Dinge in Fluß geraten. Washington,

London, die Regierungen aller NATO-Staaten, der EWG- und EFTA-Länder überprüfen die politischen, wirtschaftlichen, militärischen Konsequenzen. Quelle Europe? Weiches Europa? Die alte, gern übersehene Frage stellt sich neu.

Wir wissen nicht, wann de Gaulle nach Moskau fahren wird. Wir kennen aber alle seine in vielen Reden erhärtete Überzeugung, daß Europa mindestens bis zum Ural reicht. Rußland gehört für diesen konservativen Revolutionär ebenso direkt zu Europa wie die Bundesrepublik Deutschland und das Polen mit seiner Oder-Neiße-Grenze.

Die beiden Europa sollen miteinander verhandeln. Soeben wurde nach langen Verzögerungen der russischfranzösische Handelsvertrag abgeschlossen.

Ist es allzu schwer, einzusehen, daß für Österreich die beginnende Neugestaltung im Westen, in Westeuropa, und dessen Beziehungen zu England und Amerika eingeschlossen, neue Chancen eröffnet?

Wagen wir es doch, Optimisten zu sein. Wagen wir es doch. Österreicher zu sein! Haben wir doch keine falsche Angst, den Anschluß an gute Zukunft zu verlieren, weil der Anschluß an einige Tiaumzüge ausfällt. Bittsteller waren wir lange genug. Wagen wir es, uns als Partner vorzustellen. In der Gesinnung, die eben der holländische Ministerpräsident so . ausgesprochen hat: Wirtschaft, ja! Vor allem und über allem aber steht uns unsere Freiheit; für sie sind wir bereit, Opfer zu bringen.

Opfer bringen, für die notwendige Freiheit gerade der ..kleinen Staaten“. In der Schweiz, in Dänemark, in Holland, in Schweden ist man darin einer Überzeugung: das ist eine echte europäische Internationale. Und in Österreich?

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