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Welt und Zeit in Stichworten

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Das gewaltige Unternehmen, das unserer Zeit ihr Spiegelbild vorhält, indem es ihr, kritisch beleuchtet, alles für das Gemeinschaftsleben Belangreiche zeigt, nähert sich seiner Vollendung. Der vorletzte Band beharrt durchaus auf der Höhe seiner Vorgänger, und damit ist ihm bereits ein geziemendes, großes Lob erteilt. Diese Summa des Wissens von politischen, juridischen, soziologischen Tatsachen, faßlich und trotzdem in Sprachform und Gedankentiefe niemals Zugeständnissen an vulgarisierende Plattheit verhaftet, blickt und urteilt aus heutiger christlich-katholischer und deutscher Sicht. Wer zum Staatslexikon der Görreil-Gesellschaft greift, ist sich über diese Voraussetzung im klaren. Wir geben uns nilht mehr der Illusion hin, daß in den Bereichen der Disziplinen, die hier zu Worte kommen, echte Voraussetzungslosigkeit denkbar, ja daß sie auch nur wünschbar sei. Das, was der weltanschaulich oder national Andersmeinende von einem derartigen Werk fordern darf, sind einzig: Duldsamkeit, unbefangene Darlegung gegnerischer Standpunkte und Maß beim Verteidigen der eigenen Ansichten. Das Staatslexikon befriedigt in erfreulicher Weise seine Verbundenheit mit der Gegenwart, ohne dabei die Tradition zu verleugnen. Es bekennt seine katholische Überzeugung, ohne dadurch an Verständnis für jederlei gläubiges Empfinden einzubüßen, ja mit liebevollem irenischem Bemühen, dieses zu begreifen und begreifbar zu machen.

Den sechsten Band beherrschen vor allem Ländermonographien, deren Umfang eingehende Erörterung gestattet. Pakistan sind 14, Rumänien 22, Schweden 23, Polen und Portugal je 30 Spalten zugebilligt. Alle diese Artikel haben Niveau und bringen eine Fülle konkreter Daten, gesichtet durch zuständige Fachkenner. Sehr zu rühmen ist die Weitherzigkeit der Herausgeber, die zum Beispiel den besonders heiklen Artikel über Polen zwei von dorther stammenden Gelehrten, darunter dem berühmten Historiker O. Halecki, dann der kundigen und ebenso gutgesinnten wie gutunterrichteten Ellinor von Puttkamer und dem vorzüglichen Wirtschaftsforscher Rochlin anvertraute. Beim, wiederum unter Mitarbeit von Landeskindern, zusammengestellten Stichwort Portugal mutet die Darstellung der Verhältnisse in den Überseegebieten beinahe tragikomisch an, wenn man sie mit der seither eingetretenen Entwicklung vergleicht; allerdings mag sie als ausgleichendes Gegengewicht zu der orchestrierten antiportugiesischen Hetze hingenommen werden. Den Kern und die Krone des geographischen Sektors bilden die Ausführungen über Österreich (40 Spalten) und über die Schweiz (52 Spalten). Es ist schwer zu sagen, worüber man sich beim Österreich-Artikel am meisten entzücken soll: über die Abschnitte Wirtschaft, Recht, Verfassung und Wehrmacht der Professoren Wilhelm Weber, Theo Mayer-Maly und Hans Spanner oder über Professor Adam Wandruszkas (jetzt Köln) lichtvolle Übersicht der Außenpolitik und über des zuständigsten Sonderkenners Erich Bodzenta Schilderung der religiösen Verhältnisse, dann der Sozialpolitik.

Die Schweiz: Politische Geschichte, Staat und Verfassung, Recht und Rechtspflege, Armee und Militärwesen, Außenpolitik erfahren durch Wilfried Schaumann, eine vorbildliche Darstellung. Nicht minder hervorragend sind die beiden Kapitel über allgemeine Landeskunde und Wirtschaft von Willi Büchi.

Nächst den Länderartikeln lenken einige juridische unsere Aufmerksamkeit auf sich: Parlament (G. E. Kafka), Politik (A. Berg-strässer, R. Hauser), politische Parteien (v. d. Heydte, glänzend), Privatrecht (H. Conrad), Recht (herauszuheben wiederum v. d. Heydte, dann Theo Mayer-Maly, Clemens Bauer, zusammen 30 Spalten), Rechts- und Staatsphilosophie (23 Spalten, nochmals v. d. Heydte und besonders blendend Verdross), Rechtsstaat (A. Albrecht, 20 Spalten), Rechtswissenschaft (Erik Wolf, ausgezeichnet, doch Literaturangaben unzureichend), romisches Recht (mustergültig Mayer-Maly), Rechtsvergleichung (P. H. Neuhaus, vorzüglich, weiter Horizont, der sich bis Fernost erstreckt). Vom Jus zur Soziologie hinübergleitend, bemerken wir die bedeutende Zusammenfassung Altmeisters Professor Dovifat über die Presse. Dazu ein paar kleine Berichtigungen oder Anregungen. Die größte Auflagezahl nach den zwei japanischen Mammutzeitungen (die dritte bleibt hinter ihnen erheblich zurück, wahrscheinlich derzeit auch hinter dem britischen „Daily Mirror“) hat die „Prawda“ (6,300.000 Exemplare), und sie erscheint, als einzige sowjetische Zeitung nicht fünfmal wöchentlich, sondern täglich. Unter den wichtigen schweizerischen Zeitungen fehlen „Bund“ und „Tat“. Die Charakteristik der österreichischen Tagespresse ist leider in gewisser Hinsicht eher Wunschbild denn Wirklichkeit.

Die Philosophie hat im Staatslexikon ihren gebührenden Platz. Ihr ist der wohlgeratene, allgemeine Artikel von H. Rombach gewidmet. In ihr Fach gehören, durchweg zu bejahen, die Stichworte Phänomenologie (R. Böhm, W. Heinemann), Positivismus (P. Picard OFM.), Psychologie (H. R. Lückert). Speziell zu beachten ist die geistsprühende Würdigung der Romantik durch 0. Köhler (10 Spalten). Sehr richtig verweist er auf das Klassische in der romanischen Romantik und auf das Romantische in der deutschen Klassik. Die Übersicht ist der Einsichten und der glücklichen Formulierungen voll. Einzuwenden wäre: Das Element des Strebens nach dem Unendlichen gegenüber der freiwilligen Selbstbegrenzung der Klassik könnte deutlicher herausgestellt werden. Die Scheidung der Romantik in eine konservative und linksradikale desgleichen. Es wäre ferner die gewaltige Rolle zu verzeichnen, die von der Romantik nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Politik des Ostens (Rußland, Polen, Ungarn, Tschechen, Südslawen) und der Italiener gespielt worden ist.

Raumrücksicht zwingt uns, über die Stichworte aus Wirtschaft und allgemeinen geschichtlichen Phänomenen nur kurz zu berichten. Es seien erwähnt und mit Beifall bedacht: Preis (W. Mahr), Produktion, Produktivität (G. Bombach), Rationalisierung, Rohstoffe (B. Dietrichs, sehr lehrreich). Dann Panslawismus (A. Schmaus, gut, zu kurz, Literaturangaben völlig ungenügend), Paniberismus (E. G. Jacob, mit sehr anfechtbarer These über das Verschwinden antispanischer Affekte in Lateinamerika; der Autor möge sich einmal in Mexiko oder in Bolivien erkundigen, wie es damit steht).

Es entspricht den Überlieferungen der Görres-Gesellschaft und des Verlags Herder, daß die religiösen Dinge bei ihnen sorgsamst betreut werden. In diesem Lexikonband bezeigen das die Stichworte Orden, Ostkirche (sehr aufschlußreich), Papst, Pfarrei, Protestantismus (J. P. Michael, profunde Kenntnis, wahrhaft ökumenische Gesinnung), Reformation (K. Repgen, ebenso einfühlsam und souverän), Religion, Religionssoziologie, Religionsunterricht (leider nichts über dessen Lage in außerdeutschen Ländern).

Und nun zum Abschluß die Biographien. Beginnen wir, um das wenige Negative vorauszunehmen, mit der Fehlliste. Unbedingt sollten durch eigene Artikel vertretensein: Kaiser Otto III., Paine, Palmerston, der heilige Paulus (mit seiner Staatsdoktrin), Peel, Perikles, Pestalozzi, Pitt, Cecil Rhodes, Richelieu (unentschuldbar ist seine Abwesenheit), Eugen von Savoyen (als Staatsmann nicht minder bedeutend denn als Feldherr).

Nach der Anmeldung dieser Liste ist die Bahn frei, um die stolze Reihe der biographischen Artikel zu preisen, die an uns im sechsten Band vorbeizieht. Stellen wir aus ihr voran: Pius IX., Pius X. und Pius XL Als Beleg dafür, wie frei man in einem katholischen Lexikon über Päpste urteilen darf, darüber hinaus als in ihrer Art beispielhafte Bildnisse großer historischer Gestalten. Eduard Hegel, M. Th. Starke und zumal P. Leiber SJ., des letztverblichenen Pontifex Vertrauter, haben Dank dafür verdient. Sodann, wohl die bedeutendste biographische Würdigung, Piaton (H. Gundert), Pareto, Pufendorf (E. Wolf), Radowitz (O. Köhler, wie stets untadelig), Rathenau, Ricardo, Rockefeller, Rodbertus, Roosevelt (F. D.), warum aber nicht auch Theodore?), J.-J. Rousseau (W. Real), Saint-Simon (A. Kruse), Sa-vigny (H. Conrad), Scheler (H. Kuhn), Sendling (A. Hollerbach), Fr. Schlegel (grandiose Wesensschau, auch stilistisch vollendet — wie es nicht anders von A. Dempf zu erwarten war), Schmoller (v. Beckerath), Schumpeter (E. Schneider). Als weniger gelungen muß der Artikel über die Rothschild, von dem sonst so hochschätzbaren Professor Clemens Bauer, bezeichnet werden.

Mit Zuversicht und Spannung harren wir des letzten, siebenten Bandes, der wohl noch in diesem Jahre zu sehen sein wird.

U'versifflfsprofessor Dr. Otto Forst de Battaglia

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