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Weltbürger nach Europa

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Unter den höheren Parteiführern und Offizieren der Volksarmee zwischen dem 35. und 50. Lebensjahr (einschließlich des Ersten Parteisekretärs Nicolae Ceausescu) gibt es kaum einen maßgeblichen Funktionär, der nicht mehrjährige Kurse der Moskauer Parteihochschule oder der Frunze-Militärakademie absolvierte. Mit beispiellosem Eifer hatte noch die frühe Ära des 1965 verstorbenen Partei- und Staatschefs Gheorge Gheorghiu-Dej alles darauf angelegt, in die Herzen der Erwachsenen und der Jugend eine glutvolle Begeisterung, ein ehrfürchtiges Aufblicken zum „bleibenden Modell“, der Sowjetunion, einzuwurzeln. Es begann in den frühesten Tagen des Kindergartens mit unschuldigen Sprüchlein und endete mit Schlagworten und dem Vorlesen aus Zeitschriften und Büchern in den Altersheimen.

Ein Nachwuchsfunktionär berichtete uns etwa folgendes:

„Im Winter 1955 56 war ich noch Pionier und nahm an der Adunare (Versammlung) meiner städtischen Organisation aktiv teil. Was wurde uns damals im Auftrag der Partei geboten? Ein Jugendführer las einen sehr langen Artikel aus dem Bukarester ZK-Tagesorgan „Scinteia“ vor, der sich vorzugsweise mit der Überlegenheit des sowjetischen Systems befaßte. Nach jedem Absatz brüllte ein anderer Einheitsführer der Pioniere eine Frage in das Halbrund der sitzenden Sieben- bis Dreizehnjährigen und erhielt als Echo zum Beispiel die Antwort: ,Bastionui päcii e USSR' (,Die Bastion des Friedens ist die UdSSR"). Zum Abschluß des Artikels wurden ähnliche Frage- und Antwort-Spiele zwischen den Pionierführern und der Versammlung etwa ein dutzendmal

durchgeführt. Dann folgte ein Kampflied und die Versammlung war geschlossen!“

Die Frage ist tiefenpsychologisch von Belang, wie sich dieses anhaltende Trommelfeuer sowjetideologischer Indoktrinierung und der Vergötzung aller sowjetischen Führungsmethoden usw. in der heute erwachsenen Gesellschaft und innerhalb der Jugend Rumäniens selbst ausgewirkt habe. Die Antwort wirkt verblüffend: Man ist kritischer denn je gegen Versuche der Sowjetisie- rung, des „Hegemonismus“, der dauernd vorgehaltenen ,;Modell- haftigkeit“ der UdSSR.

Tiefenpsychologie? Es ist zum Beispiel Tatsache, daß die heute bereits erwachsene Jugend nach sieben Schulklassen mit mehreren Wochenstunden Russisch nicht imstande ist, einen mittelschweren russischen Text zu übersetzen. Dennoch verwechselt auch die neue Jugend Rumäniens nicht Volk und Regime, positive Leistung und Vormachtgelüste. Man wird eine ähnliche Reaktion auf die kulturellen Sowje- tisierungsversuche auch innerhalb der jungen Generation anderer Volksdemokratien feststellen — am profiliertesten wohl heute in der tschechischen und slowakischen Jugend.

Wer vergleichsweise an jene junge Tschechin in Brünn denkt, die auf dem Rücken ein Plakat trug: „Sieben Jahre haben wir auf Euch gewartet. Zwanzig Jahre sind wir nebeneinander gegangen. Hundert Jahre werden wir Euch hassen!“ — der wird leicht ermessen, daß es unter jungen Volksdemokraten auch einen größeren Haß gegen „die Russen“ gibt, als heute innerhalb der jungen Generation Rumäniens.

..Weisheiten“ aus Lesebüchern

Nicht bloß der Staat Rumänien und die „Walachen“ (Welsche), sondern auch die Jugend Rumäniens ist in efcf'iffid' Weäf vielfä' hSWs®S®g beurteilt worden: Die erwachsene Führungsgeneration Rumäniens wirkte sogar auf KP-Führer der Nachbarländer „lakaienhaft“; Anfangsschwierigkeiten und Ausbeutung durch den „Großen Bruder“ lassen den Rückschluß zu, daß die Industrialisierung der Sozialistischen Republik Rumänien (SRR) niemals ein gesundes Wachstum erzielen konnte; die neue Generation Rumäniens war gegenüber Westeuropa noch mehr isoliert als vergleichsweise die Jugend der Tschechoslowakei oder Ungarns. Ein Blick in die Schulbücher zeigte bis zum Erscheinungsjahr 1962, daß die ideologischen Umerzieher dem Rumä- nentum seine Vergangenheit gestohlen hatten oder in einer Weise umdeuteten, daß Kirche, Brauchtum, nationale Stemstunden einfach nicht existierten. Von dem ersten König des modernen Rumäniens, Karl von Hohenzollern-Sigmaringen (1866 bis 1916), wußte man nur eine Karikatur zu bringen, die ihn als peitschenschwingenden Junker hinter dem Pflug und den gepeinigten Bauern davor zeigt. Sonst buchstäblich nichts. Rumänische Kontinuität? Bis zur Ausgrabung der Vorgeschichte wachten die Kontrollore darüber, daß die slawische Wurzel der Rumänen einseitig zur Geltung kam.

Die schweigsamen Studenten

Man hat sich gewundert, weshalb die rumänische Jugend, vornehmlich die Hochschüler, keine wilden Demonstrationen an den Universitäten und Fachhochschulen des Landes durchführten. Die schlichte Antwort lautet: Seit 1962, seit Gheorghiu-Dej (t 1965) den „Alleingang“, den Weg zum nationalen Selbstbewußtsein begann, schwanden scharfe Oppositionen und Widerstandsgeist gegen die Bukarester Führung wie Schnee an der Sonne. Es gibt heute bereits Hunderte junger Studenten, Hochschulabsolventen oder Dozenten, die ihre Fortbildung auch in westlichen Staaten suchen.

Die rumänischen Hochschüler sind von einer Genügsamkeit und von einem oft beispiellosen Fleiß, daß jeder nüchterne Beobachter von den früheren Vorstellungen und Legen

den über das „Walachentum“ abrücken muß. Wieviel Studenten weist die SRR heute auf? Gegenwärtig. . dürften, jnebr ,gls',. 15(1000 Hörqr schulen eingeschrieben sein (einschließlich Abend- und Fernstudium). Für Bukarest galten zum Beispiel für 1965 66 folgende Angaben: 13 Fakultäten mit 53 Fachrichtungen, 13.936 Studierende. Hinzu kamen die künftigen Pädagogen mit insgesamt 8592 Höhrern und Hörerinnen (davon allein 3484 Fern- und Abendstudenten). Somit studierten allein in Bukarest insgesamt 22.528 Studenten und Studentinnen.

Das eigentliche Problem liegt heute nicht nur in der Befriedigung des Nachholbedarfs, sondern vielmehr in den steigenden Anforderungen an eine verbesserte Qualifizierung der Hochschulkader. Seit wenigen Jahren kann man von der durchgehenden Anwendung des Leistungsmaßstabes bei der Zulassung zur höheren

Bildung sowie bei der Vergebung von fachlichen Schlüsselpositionen sprechen.

Nach dem „Alleingang“

Am 9. und 10. Februar 1968 fand der Landeskongreß der Uniunea Tineretului Comunist (U. T. C.) = Union der Kommunistischen Jugend statt. Die enge Bindung an die Partei wurde im Rechenschaftsbericht des Sekretärs des ZK der U. T. C. unterstrichen. Bis zu dem neuen Statut, das dieser Kongreß verabschiedete, hatte die Einheitsorganisation der Jugend Rumäniens eine Unzahl von „Wegkehren“ zu bewältigen: Antifaschistische Organisationen mit „hartem Kern“ einer kommunistischen Jugend, nach 1948

eine Massenorganisation, die vom siebenjährigen Kinde bis zur Großjährigkeit die junge Generation politisch zu erziehen hatte. Einerseits sollte die Jugend die Nachwuchskader für die Partei liefern, anderseits die lückenlose Erfassung und Indoktrinierung sicherstellen, „Klassenkampf“ gegen „Reaktionäre“ führen usw. Und in Wirklichkeit brachte die Stalin-Ära nur zuwege, daß viele Schüler, Gewerkschaftsjugendliche, Studenten ihr „Soll“ in den Versammlungen abdienten, ohne daß von einer Jugendbewegung hätte gesprochen werden können. Denn das Einsammeln von Altmaterialien und Papier, die gelegentliche Pflanzung von Bäumen und Aufmärsche waren nicht angetan, Begeisterung zu wecken.

Das ist seit dem „Alleingang“, seit dem neuen Selbstbewußtsein“ der an sich sehr linientreuen Rumänischen Kommunistischen Partei (R.KP) anders geworden. Gewiß will die Jugend auch in Rumänien ein bequemeres Leben als die ältere Generation; sie rechnet mit ihrem beruflichen und sozialen Aufstieg und muß mehr und mehr eine verschärfte Konkurrenz unter den Absolventen der Mittel- und Hochschulen zur Kenntnis nehmen. Die Schnellsiederei, die es noch in den fünfziger Jahren zuwege brachte,

einen 21jährigen Hochschulingenieur mit rudimentären Kenntnissen auf Labors und Industrien loszulassen, ist überholt. Bukarest ist vom sowjetischen Bildungssystem etwas abgewichen und hat westeuropäische und westliche Anregungen aufgenommen. Bis zur Stunde ist unangetastet geblieben „Gesellschafts

lehre“, das heißt die ideologische Erziehung in Marxismus-Leninismus.

Liebe, Ehe, Familie

Wie stehen die jungen Menschen Rumäniens zur Liebe, zur Ehe, zur Familie? Noch vor vier Jahren konnte es geschehen, daß im Wartezimmer der gynäkologischen Abteilung eines Spitals die Oberschülerin den Chirurgen bat: „Bitte, nehmen Sie mich gleich dran, ich muß in drei Stunden Sine Klassenarbeit schreibenT" , Dies ?., neomalthjį§ją- nische Politik des Regimes hatte zum Beispiel bis zum Beginn der sechziger Jahre dazu geführt, daß Anfängerklassen der Pflichtschulen, in denen es normalerweise 30 bis 40 Schulkinder gab, nur noch die Hälfte aufwiesen.

Unter Nicolae Ceausescu wurde Ende 1966 dem Volkstod durch Abtreibung und Geburtenrückgang der Kampf angesagt: Hatte Rumänien bis dahin (ähnlich wie Schweden) fast als ein Eldorado der Kürettage

gegolten, verfügten Dekrete, verbesserte Familienzulagen, die Vermehrung von Kinderkrippen, Tagesheimstätten und ein striktes Verbot dafür, daß tatsächlich seither die Geburtenzahl schlagartig anstieg. Natürlich wird jetzt auch in den früheren Agrarstaaten Südosteuropas die „Pille“ zur Diskussion gestellt.

Gegenwärtig ist diese „westliche“ Errungenschaft .in Rumänien keineswegs verbreitet. Auch die Hippies oder Gammler treten praktisch nicht in Erscheinung. Man liebt Beatmusik, man besucht seit wenigen Jahren auch Bars, der Umgang mit immer zahlreicheren Touristen am Schwarzen Meer oder in den Gebirgsorten trägt zur „Öffnung“ der jungen Generation gegenüber dem Westen bei.

Wege nach Europa

Unter dem ,Ersten Parteisekretär Nicolae Ceausescu hat das Regime auch 'fnäHche'AusWüchse Und 'ÜTÖdr- griffe gegenüber der Kirche und dem Religionsunterricht abgestellt. Die traditionelle Rolle etwa der rumänischen Orthodoxie während der Osmanenzeit oder in der Epoche der nationalen Aufbruchkräfte (seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts) wird anerkannt Auch sonst ist die „Sedintzomanie“ (die Sitzungs- beziehungsweise Versammlungswut) reduziert worden. Die Kinder sollen zwar nach dem Wunsch von Partei- und Regierungsstellen zu Leni- nisten-Marxisten strenger Observanz erzogen werden. Doch der soziale Aufstieg bleibt gleichzeitig gebunden an immer strengere Zulassungsprüfungen zu den Mittel- und Hochschulen. Die nationale Renaissance, die Wiederentdeckung der romanischen Kontinuität, die Begeisterung für die eigene Vergangenheit prägen einen neuen Typ des rumänischen Intellektuellen, der von dem uniformen „Sowjetmenschen“ nur noch wenig Züge aufweist.

Die jüngste groß jährige Generation ist desillusioniert worden durch die Entstalinisierung, durch unfreundliche Akte der Sowjetunion gegenüber der SR Rumänien. Die soziale Wunschliste an den Hochschulen, in den Studentenheimen, die Balance zwischen Absolventen und qualifizierten Posten, die Frage nach verbesserter Mitsprache — all diese Probleme sind erst zum Teil gelöst. Die negativen politischen Eindrücke in der Kinder- und Jugendzeit, die offenen und schwebenden Fragen des akademischen Nachwuchses hindern aber nicht, daß diese Jugend in erster Linie wieder national gesinnt ist.

Die Schockwirkung der Tschechenkrise im August 1968 hat diesen Prozeß der nationalen Selbstgesinnung noch verstärkt. Darüber hinaus bekundet sich aber auch die jüngste Generation als Weltbürger, als Internationalisten, die ohne Voreingenommenheit Ost und West mit der eigenen Einstellung vergleicht und neue Wege sucht. Gewiß sind es Wege des Sozialismus — sie sollten jedoch zugleich rumänische Wege zu Europa sein.

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