Welten zwischen den Seiten

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Lesen : ein Wundermittel für jeden, der nicht gewillt ist, pausenlos im Gleichklang mit dem Zeitgeschmack zu marschieren. Gedanken anhand der Lektüre eines Bücherbuchs.

Von 16. bis 21. November 2004 findet im Wiener Rathaus die 57. Wiener Buchwoche statt. Für die FURCHE Grund genug, in einer BUCH-LESE in Wort und Bild einmal mehr auf die Bedeutung des Lesens hinzuweisen und neue Bücher aus heimischen Verlagen und von österreichischen Autorinnen und Autoren wie Martin Pollack, Reinhard P. Gruber, Margit Schreiner und anderen vorzustellen. Redaktion: Brigitte Schwens-Harrant

In einer Welt, in der in erster Linie zählt, was sich rechnet, weiterhin darüber nachzugrübeln, was Literatur zu leisten imstande wäre oder unter den gegebenen Bedingungen überhaupt noch zu vermitteln habe, scheint müßig. Zumal die Autorinnen und Autoren, die auf sich halten, nie respektieren, was ihnen vorgeschrieben wird. Denn: Die heute vorgeben, "was Dichtung zu transportieren und wie sie zu wehen habe, die verlangen morgen etwas anderes und übermorgen wieder anderes." Das jedenfalls konstatiert Christoph Wilhelm Aigner in seiner "Logik der Wolken"; und kopfschüttelnd fügt er hinzu: "Ich aber will auch andere Farben und deren Mischungen kennen und wahrnehmen dürfen als die Farbe der gerade aufgezogenen Flaggen."

Den eigenen Reim machen

Dasselbe wünschen sich wohl auch die allermeisten Leserinnen und Leser. Nur, mit dem Selbstbewusstsein, das aus Aigners Sätzen spricht, hapert es häufig doch gewaltig, die Leser halten also nach wie vor Ausschau nach verbindlichen Lektüre-Versionen oder Muster-Interpretationen. Als wäre es immer noch riskant, auf das, was man liest, sich seinen eigenen Reim zu machen.

Es war ja nicht selten tatsächlich riskant. Schon die Geschichte der Bibel-Auslegung beweist das. - Andererseits kann es aber einem auch leicht passieren, dass man, wenn man allzu selbstbewusst liest, immer nur die Farbe der eigenen Flaggen sieht.

Als Leo Trotzki aus Moskau nach Alma-Ata verbannt wurde, erzählte man sich in der Sowjetunion diesen Witz: Trotzki hat Stalin ein Telegramm geschickt: "Genosse Stalin! Du hast recht, ich habe kein Recht. Du bist der Führer der internationalen Arbeiterklasse. Ich bin gar nichts. Entschuldige. Trotzki." - Stalin ist begeistert, ruft seine Mitarbeiter zusammen und liest das Telegramm vor. Die Versammelten applaudieren; allein Radek weigert sich zu klatschen, lächelt. Verärgert fragt ihn Stalin: "Radek, bist du nicht zufrieden darüber, dass sich die Opposition ergeben hat?" - "Ich bin sehr zufrieden", erwidert Radek, "aber du, Genosse Stalin, hast keine Ahnung, wie man jüdische Telegramme liest. Gib mir den Text, und ich werde ihn dir vorlesen." Und Radek liest: "Genosse Stalin, du hast recht? Ich habe kein Recht? Du bist der Führer der internationalen Arbeiterklasse? Ich bin gar nichts? Entschuldige! Trotzki."

Nicht einmal lesen kann er

Diese kleine Geschichte sagt natürlich vor allen Dingen etwas über Karl Radek, den seinerzeit bekannten Politiker und Publizisten, der später im Räderwerk der stalinistischen Säuberung ums Leben kommen sollte (und noch später in Arthur Koestlers Roman "Sonnenfinsternis" ein Denkmal erhielt; Rubaschow, der Held dieses Romans, ist nämlich eine synthetische Figur, die auf Trotzki, Bucharin und eben Radek zurückverweist). Der Witz verrät jedoch auch einiges über Stalin, und zwar: Vernichtendes. Nicht einmal lesen kann er, der Genosse. Er sieht nur, in seiner Borniertheit, was er sehen möchte, nämlich dass alles, wie es ist, so unverrückbar bleibt.

Nur wenn der Akt der Lektüre glückt, ist Lesen, wie Robert Walser einmal notiert hat, "Gymnastik für die Seele". Ein Wundermittel, mehr denn je, meint auch Evelyne Polt-Heinzl in ihrem jüngsten Buch "Bücher haben viele Seiten"; jedenfalls die Lektüre von Büchern sei immer noch ein Wundermittel für jeden, der nicht gewillt ist, pausenlos im Gleichklang mit dem Zeitgeschmack zu marschieren.

Unendlich viele Lesarten

"Bücher haben viele Seiten". Schillernd wie der Titel des Buches ist auch das Plädoyer, das in diesem Buch vorgetragen wird: endlich anzuerkennen, dass Bücher grundsätzlich "unendlich vielen Lesarten offen" stünden. "Sie stehen jederzeit bereit für piratische Zugriffe, und die Enterhaken können nach Belieben aus den je eigenen Erfahrungen, Vorstellungen und Phantasien zusammengebastelt werden", meint Polt-Heinzl.

Das Bild der auf hoher See treibenden Bücherschiffe, die zu abenteuerlichsten Reisen in die entferntesten Winkel der Welt einladen, hat allerdings auch eine Kehrseite. Auf dieser sind nicht, wie auf der schöneren Vorderseite, Seeleute zu sehen, die noch tausend Ziele vor sich haben, sondern Piraten, die jedes Boot, das sie in die Hand bekommen, in ihre Heimatbucht abschleppen, um ihm die Farben der dort klirrenden Fahnen zu verpassen. - Bücher stehen (wenn man ihre Autoren fragt) doch nicht für alles allezeit bereit; sogar Günther Nenning hat das zur Kenntnis nehmen müssen.

Dass das Zusammenleben mit Büchern "jede Menge Tücken und Gefahren" mit sich bringt, das weiß natürlich Evelyne Polt-Heinzl auch; und sie kennt und erzählt eine Menge wunderbarer Anekdoten, die um das Thema der Bibliomanie kreisen. Aber trotz allem, das Blättern in Büchern, davon lässt sich Polt-Heinzl keineswegs abbringen, ist nicht nur aufregender, es ist auch anregender als z. B. das Surfen im Netz, und deshalb handelt ihr Buch vor allem von der Materialität des Buches, die nach wie vor ein ganz anderes Lesen befördert als - sagen wir - das Internet.

Ungewohnte Sprachbilder

Die langsame Lektüre nämlich. Eine Lektüre, die, vollkommen unbeeindruckt von dem "Dauerbeschuss der Spaßkultur", sich einlässt auf die unverwechselbaren Mittel der Literatur: auf (Sprach-) Bilder, die sich von der gewohnten, alltagssprachlichen Grammatik und Idiomatik abheben, um unseren Widerspruch herauszufordern oder wenigstens unser Verständnisvermögen zu prüfen oder auch - die Festlegungen der Alltagssprache aufzubrechen, alle die Festlegungen der Mediensprachen, unserer Fachsprachen, unserer Sprach-Spiele im Umgang mit- und gegeneinander.

Alberto Manguel hat nicht die Geschichte, sondern "Eine Geschichte des Lesens" geschrieben. Eine andere, nicht weniger kurzweilig und unterhaltsam, legt Polt-Heinzl nun mit ihrem Buch vor. Gelegentlich schweift sie dabei merkwürdig weit ab von ihrem Thema, von den Büchern, mit ihren vielen Seiten. Ausführungen über die Ausbreitung der Briefkultur in der Goethe-Zeit oder über das Kommunikationssystem in der Gründer-Zeit, in der die Post bekanntlich ebenfalls noch funktioniert hat, oder auch über die E-Mail-Flut unserer Gegenwart, solche Ausführungen sucht und erwartet man jedenfalls nicht ohne weiteres in einem Buch über Bücher. Am Ende allerdings, so scheint es, folgen alle diese Notizen über das Schreiben und das Lesen doch einem phantasievollen Prospekt. Sie führen anschaulich vor Augen, was sie von allem Anfang an thematisieren: dass die Welt der Literatur uns hin und wieder ganz "verträgt", ganz herauszureißen vermag aus der Welt der Zahlenspiele, in der wir leben, und dass sie damit, wenn schon nicht auf die harte Realität selbst, wenigstens doch auf unsere Wahrnehmung der Farben der Wirklichkeit noch immer einwirkt.

Der Autor ist

Leiter des Forschungsinstituts Brenner-Archiv in Innsbruck.

Buchtipp:

BÜCHER HABEN VIELE SEITEN

Leser haben viele Leben

Von Evelyne Polt-Heinzl

Sonderzahl, Wien 2004

208 Seiten, brosch., e 18,-

Zu den Bildern

Bücher, die durch Lektüre lebendig werden, Seiten, die in andere Welten einladen, Buchstaben, die in Bewegung kommen - Peter Feigl hat diese Themen exklusiv für die Furche- BUCH-LESE ins Bild gebracht.

Er ist Theologe und Leiter einer Pfarre in Wien. Peter Feigl, der ebenso gerne liest wie er gerne zeichnet und malt, ist verheiratet und hat drei Kinder. Seine Illustrationen schmücken diese BUCH-LESE auf jeder Seite und laden ihrerseits dazu ein, gelesen zu werden.

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