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Welthistorische Zufälle

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Das meistzitierte und hypothetische Beispiel für den welthistorischen Zufall lautet: „Wäre die Nase der Kleopatra ein wenig länger gewesen, so hätte die Weltgeschichte eine andere Wendung genommen.“ Doch warum die Nase, und warum gerade der Kleopatra? Aehnliches ließe sich ja von jeder schieksalsentscheidenden Schönheit sagen. In Wirklichkeit besteht die vergessene Pointe darin, daß Kleopatra — wie ein Blick auf ihre Porträtskulptur zeigt — schon sowieso eine recht lange Nase hatte, so daß die Distanz vom Erhabenen zum Lächerlichen verschwin-

dend klein war. Sie, die Nase, stand bereits an der Grenze, wo es gefährlich wurde und sie wäre dann ungefährlich gewesen. Eben dieses Beinah prägte das Sprichwort.

„Der Zufall ist der Gott der Narren“, sagte Swift. Denn der kluge Mann baut vor, zum Beispiel eine Versicherungsgesellschaft, die ja eine Assekuranz gegen den Zufall ist. Und selbst der Hasardspieler, dieser Masochist der Fortuna und Rauschsüchtige des Zufalles, kann es nicht lassen, gegen ihn dennoch mit ausgeklügelten Systemen zu operieren. Menschenplan steht also gegen Zufall, doch das Paradoxe ist, daß die beiden sich aneinander steigern: je gewaltiger der Plan, desto winziger der ihn zerbrediende Zufall — denn die Größe des Zufalles besteht in seiner Winzigkeit. Zentralisiert sidi der Plan, so zentralisiert sich auch der Zufall: einem Arbeiter gerät der Putzlappen in den Generator, und sämtliche Straßenbahnen stehen still wie im Märchen.

Berühmt ist das Wirken des Zufalles beim Untergang der „Titanic“, wo die Arche unserer Zivilisation mit symbolischer Maschinenkraft gegen einen Eisberg fuhr. Hier war der Kampf von Zufall gegen Plan so hartnäckig, so dramatisch, daß der Zufall selber den Anschein des Planmäßigen gewann. Man sehe nur, wie er sämtliche vorgebauten Hindernisse mit List überwindet. Erstes Hindernis: der betreffende Eisberg wird funkentelegraphisch signalisiert. Zufall: man hält diesen neuen Eisberg fälschlich für einen anderen, den man bereits passiert hatte. Zweites Hindernis: bei dem diesigen Wetter stehen zwei Mann vorne am Ausguck, die den Eisberg noch rechtzeitig hätten sichten können. Zufall: diese beiden erhalten keine Ferngläser, weil es deren nur 16 an

Bord gibt. Aber der Distanzunterschied zwischen bewaffneter und unbewaffneter Sehweite gab gerade die Entfernung, in der man noch answeichen konnte. Drittes Hindernis:

der Eisberg ist gesichtet, aber man kann ein Sinken noch dadurch verhindern, daß man direkt auf ihn zusteuert — der Bug wäre geborsten, doch er hätte sich vielleicht auf den Berg stützen können, und jedenfalls wäre ein Abdichten des Vorschiffes durch Schotte möglich gewesen. Zufall: man versucht, doch noch auszuweichen, und dabei wird der Schiffsboden durch einen Unterwassersporn des Eisberges der Länge nach aufgeschlitzt, so daß auch die Schotte nicht mehr absperren können. Nun endlich muß das Schiff sinken. Doch es hätten noch alle gerettet werden können, da sich nicht allzu weit das Schiff „Carpathia“ befand. Dieses war das vierte Hindernis: man stand mit der „Carpathia“ in Funkverbindung! Zufall: die „Titanic“ hatte so viel Depeschen zu versenden, daß sie eine Viertelstunde vor dem Unglück den Operateur der „Carpathia“ bat, die Funkverbindung mit ihr abzubrechen. Dieser junge Mann stellt seinen Apparat ab, verschließt die Funkkabine, steckt den Schlüssel in die Westentasche und begibt sich zufrieden pfeifend in seine Koje. Damit war der Tod von über tausend Menschen besiegelt. Was halfen der „Titanic“ alle Notraketen, die sie dann abfeuerte? Die Leute der „Carpathia" hielten das für ein üppiges Bordfest mit Feuerwerk Seltsamerweise hat dieser letzte furchtbarste Zufall in keinem der „Titanic“-Filme Aufnahme gefunden.

Unheimlich ist auch die Rolle des Zufalles bei der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo, die den Anlaß zum ersten Weltkrieg bot. Da man ein Attentat befürchtete, bekam der Chauffeur des Erzherzogs die Weisung, an einer bestimmten Querstraße vom offiziellen Spalierweg abzubiegen und auf Nebenstraßen weiterzufahren. Der Chauffeur vergißt einzubiegen, erinnert sich aber sogleich daran, bremst das Auto, um umzukehren — und gibt gerade damit dem Attentäter die Gelegenheit! Allerdings wird dieses Walten des Zufalles durch einen seltsamen, aber wohlbezeugten Umstand in Frage gestellt. Der Erzbischof von Agram hatte nämlich in der Nacht vorher den Attentatsvorgang mit allen Einzelheiten geträumt oder visionär gesehen und das dem Thronfolger sogleich geschrieben. Doch als der Brief anlangte, war das, was er beschrieb, dem Adressaten bereits widerfahren.

Ich möchte hier auf zwei weitere welt-

DER KRYSTALL " serre I ItUMMEI? JUMf 1954

historische Zufälle Hinweisen, denen ich auf die Spur gekommen bin. Jener 22jährige Weltkrieg, der von 1793 bis 1815 Europas Boden durch die Französische Revolution umpflügte, begann mit der Schlacht von Valmy und endete mit der von Waterloo. Hier wie dort war der Verlierende völlig siegesgewiß und hatte alle Chancen für sich.

Die Höhe von Valmy liegt in der Champagne und beherrschte den wichtigsten Ver- bindungs- und Nachschubweg jener preußisch- österreichischen Armee, die ausgezogen war, um der Revolution ein Ende zu machen. Dieses Heer der besten Berufssoldaten ihrer Zeit hatte Valmy bereits passiert; nur noch vier Tagesmärsche trennten es von Paris — ein offener, unverteidigter Weg. Dennoch mußte Valmy zuvor genommen werden, weil die Invasionsarmee sonst in einer Mausefalle war. Besetzt war Valmy von Kellermann mit seinen 20.000 zerlumpten, halbverhungerten Rekruten und einer allerdings guten Artillerie (denn das war die Elitewaffe des Ancien régime gewesen). Die Erstürmung der Höhen schien ein leichtes. Die Schlacht hebt mit gegenseitiger Kanonade an, und nun gehen die Preußen unter dem Geschützfeuer zum Sturm vor. Doch trotz unablässig erneuerter Anstrengung mißlingt er. Am Nachmittag stürmen die Oesterreicher, doch ihr Versuch mißlingt ebenfalls. Valmy ist auf keine Weise zu nehmen — und so bleibt den Alliierten nichts übrig, als sich auf einem nordöstlichen Umweg wieder heimzuschleichen.

Bei diesem Uebergang von Siegesgewißheit zu trostlosem Rückzug sprach Goethe sein bekanntes Wort: „Von hier aus beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.“ Man hat sich den Rückschlag nachher nie recht erklären können (ähnlich wie in unserer Zeit das Miracle de la Marne). Ein englischer Historiker, der das Schlachtfeld vor einigen Jahren studierte, machte bei trockenem Wetter denselben Anstieg wie die Preußen und fand ihn kinderleicht auf dem steinharten Boden. Dann gab es drei Tage Landregen, und nun versuchte er als gewissenhafter Mann den Anstieg nochmals, weil die Preußen damals ja auch nach einer Regenperiode gestürmt hatten. Jetzt wurde mir die Sache klar, schreibt er. Der harte Boden hatte sich zu einem Sumpf aufgeweicht, aus dem man den Fuß jedesmal nur mit Anstrengung herausziehen konnte. Jene preußischen Grenadiere haben ich vorwärts schleppen müssen wie ermattete Fliegen auf dem Leimpapier. Der Regen hatte Valmy zu einer uneinnehmbaren Morastfestung gemacht. — Also ist das Heraufkommen jener Epoche der Weltgeschichte, in der wir heute leben, durch einen Regen entschieden worden. Nicht durch einen Herbstregen, nein, durch einen Sommerregen, den kein Mensch voraussehen konnte. Also durch einen Zufall

Wodurch aber wurde Waterloo entschieden? Wie die Alliierten bei Valmy, war auch Napoleon bei Waterloo völlig siegesgewiß, und ebenso hat man sich den Ausgang nachher nie recht erklären können. Sonst pflegt dodi der Sieger nachher alles auf seinen Plan zurückzuführen: „Es kam, wie es kommen mußte!“ Doch in seinem ersten Brief nach der Schlacht spricht Wellington ganz offen von „Providence“ und schreibt also den Ausgang der Vorsehung zu. Napoleon aber ist bis an sein Lebensende von diesein Waterloo- Rätsel gepeinigt worden. General Gourgaud, der auf St. Helena zeitweilig sein Eckermann war, notiert immer wieder, daß Napoleon mit ihm morgens erregt über Waterloo spricht. (Morgens, also offenbar nach schlaflosen Stunden.) Er ruft zum Beispiel schon beim Hereintreten: „ Das Schicksal hat mich bei Waterloo besiegt! Der Feldzug mußte gelingen: die Engländer und Preußen waren in ihren Kantonnements überrascht worden “ Er sucht hastig nach diesem oder jenem Nebenumstand, der zur Erklärung herhalten könnte: „ Große Ereignisse hängen von kleinen Ursachen ab! Ich habe Waterloo verloren durch den Fehler eines Ordonnanzoffiziers, der G yet den Befehl überbrachte, die Grenadiere zu Pferde vorzuschieben “ Dann wieder: „Es war das Schicksal — denn trotz alledem hätte ich diese Schlacht gewinnen müssen.“ Einige Tage darauf: „Ich kann den Verlust der Schlacht bei Waterloo nicht begreifen! Mit 20.000 Mann weniger hätte ich immer noch gewinnen müssen. Das Schicksal hat gewollt, daß ich sie verlor!“ Und spater: „Ich fühlte mich zu sicher, daß ich sie (die Alliierten) schlagen würde; ich hatte ihre Bewegungen erraten.“

Beide, Wellington wie Napoleon, sprechen also von Vorsehung und Schicksal. (Wellington ließ das natürlich bald bleiben; doch solange er noch erregt von der Schlacht war, kam ihm das Wort unwillkürlich in die Feder.) Was aber war entscheidend? Die

Preußen marschierten die Nacht und den ganzen Tag lang auf Waterloo zu und langen an einem bestimmten Zeitpunkt (gegen Abend) dort an. Dieser Zeitpunkt steht unveränderlich fest. Was dagegen nicht feststeht, sondern im Belieben Napoleon liegt, ist der Zeitpunkt des Schlachtbeginnes. Ganz gegen seine Gewohnheit beginnt Napoleon den Angriff erst spät, um 11 Uhr vormittags. Da seine Truppen gesammelt biwakierten und Waterloo nicht als Manövrier-, sondern als Kampfschlacht angelegt war, hätte Napoleon ebensogut früher, etwa um 7 Uhr, angreifen können. Nun war die Lage der Engländer am Spätnachmittag, kurz vor Eintreffen Blüchers, bereits verzweifelt. Also hätte, bei einem Schlachtbeginn um 7 Uhr früh, zwischen dem Zeitpunkt dieser verzweifelten Lage und dem Auftauchen der Preußen eine Lücke von vier Stunden geklafft — was für Napoleon Zeit genug gewesen wäre, um die Engländer endgültig zu zerschmettern und damit die Schlacht zu gewinnen.

Warum aber hat Napoleon erst um elf angegriffen? Hier mischt sich wieder der Regen ein. Die ganze Nacht durch hatte es einen Aufruhr der Elemente gegeben, unablässigen Wolkenbruch mit Blitz und Donner. Wer je bei Platzregen gezeltet Kat, weiß, was das bedeutet. Napoleon zögerte mit dem Angriff, weil er seine Truppen ausgeruht haben wollte.

Dieser Zufall ist anderer Art als der von Valmy. Dort entschied der Regen allein; Kellermann und Braunschweig spielen keine Rolle, und der einzige, der als Person hervor ragt, Goethe, ist bloß beurteilender Beobachter. Doch bei Waterloo ist jene ganze Bewegung längst Person geworden — Napoleon —, und so spielt der Zufall weniger mit der Gesamtlage als mit der Entschlußbildung diese einen Menschen. Napoleon ist seiner Sache sicher und weiß nicht, daß das Schicksal, nämlich Blüchers geschlagenes Heer, Schritt um Schritt auf ihn zustrebt. Er weiß nicht, daß der Regen ihm die eine große Chance gibt: indem das Unwetter den Anmarsch Blüchers so verlangsamt, daß dieser bei normalfrühem Schlachtbeginn zu spät kommen muß. Doch derselbe Regen gibt nicht nur die Chance, sondern er nimmt sie auch. Um jeden Zufall auszuschließen, läßt der siegessichere Feldherr seinen Truppen eine Erholungspause nach den Plagen der Regennacht — und ist damit verloren. Der Regen von Valmy war entscheidend, der von Waterloo aber bestimmend. Je zentralisierter der Plan, um so zentralisierter der Zufall. Und dieser zweite war bitterer, weil er Raum ließ für Selbstanklagen.

Natürlich gab es in jenem Weltkrieg Dutzende Schlachten, wo der Zufall vom Menschenplan in Schranken gehalten blieb. Am Abend vor Austerlitz wurde allen französischen Truppenteilen der Schlachtplan offiziell vorgelesen — und tags darauf auch ausgeführt. Doch es gibt Weltereignisse, hier zum Beispiel der erste und der letzte Akt jenes Riesendramas, wo bei näherem Hinschauen eine gewisse dritte Kraft sichtbar wird. Und sei es auch durch die natürlichste Sache der Welt, durch Regen. Der fällt einem zu, und er ist ein ZufalL

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