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Weltkind und Karmelitin

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DREI WEISSE SCHLEIER FÜR ALESSANDRA. Die Lebensgeschichte der Marchesa Carlotti di Rudini. Von Lucy Napoli Pario. Herold-Verlag, Wien-München. 279 Seiten. Preis 69 S

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DREI WEISSE SCHLEIER FÜR ALESSANDRA. Die Lebensgeschichte der Marchesa Carlotti di Rudini. Von Lucy Napoli Pario. Herold-Verlag, Wien-München. 279 Seiten. Preis 69 S

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Exzentrisch und bizarr, stolz und hochmütig in ihrer leidenschaftlichen Neigung zur Unabhängigkeit — das sind die Wesenszüge, die die italienische Hocharistokratie der Marchesa Carlotti di Rudini nachsagte, in deren gesellschaftlichem Leben die schöne Alessandra um die Jahrhundertwende eine glänzende Rolle spielte. Schon das halbwüchsige Mädchen mußte, seiner mutwilligen Streiche wegen, das von Klosterschwestern geleitete Institut Trinitä del Monte verlassen. Aber dieses gleiche ungebärdige Mädchen hatte bei seiner Erstkommunion eine Vision und war fast sehr nett. Zwei Ströme nebeneinander. Das wird noch lange so bleiben in Alessandras Leben. Zunächst folgen für die Zwölfjährige glückliche Monate auf den väterlichen Gütern in Sizilien, wo Hunde und Pferde Alessandras liebste Gefährten sind; waghalsige Ritte in den weiten Wäldern; viel Einsamkeit, die schon das Kind sucht; ein freies ungebundenes Dasein, das zu den schönsten Zeiten von’ Alessandras Leben in der Welt gehört. Fortsetzung der Studien, sodann im Internat von Poggio Imperiale bei Florenz, das eine „nichtbigotte“ Erziehung garantiert, wie der Vater es wünscht. Das hochintelligente Mädchen gerät in dieser Umgebung immer tiefer in Glaubenszweifel, bis schließlich die Lektüre von Renans „Leben Jesu" alle von der inzwischen gestorbenen Mutter sorgfältig gepflegten Bindungen der Kindheit zerstört. „Nichts Festes war mehr vorhanden: alles konnte auch .nicht wahr’ sein: alles konnte eine Erfindung der Menschen sein "

Ohne festen Daseinsgrund also wird die Sechzehnjährige in die Gesellschaft eingeführt, in der sie, dank ihrer Herkunft und der einflußreichen politischen Stellung ihres Vaters, und nicht weniger wegen ihres Charmes und ihrer Intelligenz, von Anbeginn bewundert und umworben ist; in Paris, London, Wien und Petersburg genau so wie in ihrer italienischen Heimat. Achtzehnjährig, im Jahre 1894, heiratet Alessandra den Marchese Carlotti, ihr Leben hinfort abwechselnd auf dem Familiensitz der Carlottis in Garda und auf Reisen verbringend, bis der frühe Tod ihres Gatten sie mit ihren zwei kleinen Söhnen allein zurückläßt, in einem inneren Aufruhr, der nicht nur von dem schweren Verlust ausgelöst ist. Schon während der langen Krankheit ihres Mannes hatte Alessandra sich wieder mit religiösen Problemen zu beschäftigen begonnen. Sie, die doch selbst nicht mehr glaubte, nicht glauben konnte, wie sie verschiedentlich bemerkt, litt unendlich unter der Vorstellung, der Marchese — ein überzeugter Atheist und Materialist — könnte unversöhnt mit Gott sterben, was schließlich auch geschah. Völlig verstört saß Alessandra vierundzwanzig Stunden am Totenbett. „Sie betete für ihren Gefährten, betete, obwohl sie sich voll Angst sagte, daß dieses Gebet, ein Gebet ohne Glauben, vergeblich sei.“

Und nun beginnt jenes Jahre währende Wechselspiel in Alessandras Leben, jenes Schwanken zwischen den Verlockungen der schönen Welt und der Sehnsucht, Gott zu finden und zu dienen. Ihr Stolz und ihr scharfer Intellekt erschweren ihren Weg sehr. „Sie setzte ihre Intelligenz ein, wo sie hätte das Herz fragen sollen; sie fühlte auch bei jenen Pro- ‘blemen, die sie nicht lösen konnte, das Bedürfnis, zu beweisen, zu dokumentieren. So wurde durch die intensiven geistigen Kämpfe, in die sie sich verstrickte, ihr Aufstieg mühevoll und schwierig…" Er wird noch einmal völlig unterbrochen durch die Bindung an d’Annunzio, mit dem Alessandra mehrere Jahre zusammenlebt, alle Brücken hinter sich abbrechend, die zur Gesellschaft und, schmerzlicher noch, auch die zur Familie. Erst nach dem traurigen Ende dieses großen Abenteuers schwankt sie nicht mehr. Aber, man denke nicht an eine billige Flucht aus der Verzweiflung in den himmlischen Hafen, weil die Welt schal geworden ist. So einfach macht es sich ein Mensch von Alessandras Format nicht. Sie hat nur gelernt, sich offen zu halten für die Anrufe Gottes. Während eines Aufenthaltes in Lourdes schließlich erlebt sie ihre endgültige Bekehrung, in der alle ihre quälenden Zweifel und intellektuellen Einwände zusammenbrechen, die ihr den Glauben wiederschenkt.

Da sie nichts halb tun kann, überläßt sie sich nun Gott mit der gleichen Bedingungslosigkeit und Leidenschaft, die schon immer ihr Wesen und ihr Tun auszeichneten. Es beginnt der dornenvolle Weg eines zügellos stolzen Menschen in die Demut, eines verwöhnten Weltkindes in die freiwillige Armut, ein Weg, der schließlich im Karmel endet. Problematisch scheint dabei allein die Loslösung von den halbwüchsigen Söhnen, die beide, einige Jahre nach dem Eintritt der Mutter in den Karmel von Paray, wie ihr Vater an Tuberkulose starben. Aber, das ist wahrscheinlich ein sehr weltlicher Einwand. Von Gott gerufen, mußte ein Mensch wie Alessandra wohl auch den Schmerz der Trennung von ihren Kindern, wie viele andere Leiden, auf sich nehmen, für Ihn, in dessen Hände sie ihr Leben gegeben hatte.

Von 1911 bis zu ihrem Tode im Jahre 1931 führt die Marchesa Alessandra als Schwester Maria von Jesus und später als Priorin des Karmels von Paray ein Leben des Gebets, des Verzichts und der Buße. Alle Gaben ihres reichen Geistes und ihre große Tatkraft stehen hinfort im Dienste Gottes und ihres Klosters. Es ist ihr vergönnt, sehr viel für die Klostergemeinschaft zu tun. nicht nur durch ihren segensreichen Einfluß auf die anderen Nonnen. Sie gründet auch drei weitere Karmeliterklöster: in Paris, Va- lenciennes und schließlich den „Karmel im Gebirge“ oberhalb von Cluses in Savoyen. Mutter Maria von Jesus hat einmal von dem „lieben und heiligen Dienst an Gott, der zugleich das geistliche und materielle Wirken in sich faßt“, gesprochen. Sie gab beides im Uebermaß, genau so, wie sie sich einst an die Welt verschwendete.

Wahrlich ein Leben, das den Menschen unserer Zeit viel zu sagen hat. Schlug sich die Marchesa doch mit all den Problemen herum, die die unseren sind, und an denen wir so oft scheitern. Die Begegnung mit ihr ist heilsam aufrüttelnd.

Ein großer Vorzug dieser Lebensgeschichte ist, daß Lucy Napoli Pario sie so schlicht und unpathetisch erzählt, vor allem aber, daß sie die wichtigsten Persönlichkeiten häufig in Briefen und anderen Dokumenten selbst zu Wort kommen läßt. Dadurch sind wir in der Lage, die außerordentlichen Geschehnisse ganz unmittelbar nachzuerleben.

LEO TOLSTOJ. Werke in zwei Bänden. Bearbeitet und gedeutet für die Gegenwart und herausgegeben von Xaver Schaffgotsch. Verlag „Das Bergland-Buch“, Salzburg. 1085 und 1088 Seiten. Preis 196 S.

Was der Dichter Georg Trakl über Leo Tolstoj gesagt hat, ist eine „metaphysische Definition“ — aber nur aus solchem Abstand kann man diesen rätselhaften Menschen erreichen: „Pan, unter dem Kreuze zusammenbrechend.“ Tolstoj war ein wunderbarer Heide, der sich mit Christus und der Orthodoxie herumschlug; und ein Russe, der mit „west- lerischen“ Problemen beladen war. Aus diesem doppelten Konflikt stammte seine Unruhe — aus der Unruhe sein geniales Werk.

Die von Xaver Schaffgotsch besorgte zweibändige Ausgabe im Bergland-Verlag ist ein Meisterwerk. Die biographische Uebersicht, vervollständigt durch „Tolstoj im Urteil der Zeitgenossen und Nachfahren“, durch Bilder und autobiographische Schriften des Dichters, vermittelt die widersprüchlich-sympathische Persönlichkeit zu lebendiger Begegnung und Anteilnahme. Ohne Kenntnis der Biographie des Dichters bleibt das Werk seltsam fremd; kennt man dieses fruchtbare Leben, kommentieren sich die Schriften beim Lesen selbst. — Die Ausgabe enthält — außer „Krieg und Frieden“, was man bedauert — die großen Romane „Anna Karenina“, „Kreuzersonate", „Auferstehung“ u. a., die weniger bekannten Volkserzählungen die das alte Rußland vor unseren Augen erstehen lassen, von den Dramen „Und das Licht leuchtet in der Finsternis", und endlich aus den theoretischen Schriften religiöse Probleme und solche aus dem Bereich der Kunst, sowie die köstliche Aufzeichnung „Ueber die Medizin und die Aerzte“. — Beiden Bänden ist je eine Erklärung der fremdsprachigen Ausdrücke beigegeben. — Kenner werden diese Ausgabe begrüßen; Neulinge werden diesen „alten Modernen“ liebgewinnen. Dem Herausgeber und dem Verlag kann man nur danken.

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