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Weltumfangendes Mysterium

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Die Aufführung von Paul Claudels „D er seidene Schuh" im’Burgtheater ist das größte Ereignis in Österreichs Theatergeschichte seit vielen Jahren. Claudels dramatisches Hauptwerk .ist, in seiner Originalfassung — die Bühnenfassung entstand unter der Mitarbeit J. C. Barraults — der Faust des 20. Jahrhunderts. Goethes Faust — nicht Wagners „Mysterien" — ist das einzige Werk, das formal, inhaltlich und geistesgeschichtlich dem „Soulier de Satin" zu vergleichen ist. Claudels Werk bezeugt, wie weit das 20. Jahrhundert über das 19. hinausgeschritten ist. Eine gewagte Behauptung, die zu erweisen ist. Um im folgenden nicht mißverstanden zu werden, sei hier eine Vorbemerkung gemacht. Es kann sich uns in keiner Weise darum handeln, etwa Claudel als dichterische Potenz, als Geistgestalt Goethe überzuordnen. Wahre Geistschöpfer — Dichter, Denker, Künstler — stehen unmittelbar zu Gott, um Rankes berühmtes Wort vom Wert historischer Epochen zu variieren. Ihr letzter Gehalt ist durchaus inkommensurabel — nicht nur für den Kritiker. Inwieweit können wir nun konkret von einem „Fortschritt" des 20. Jahrhunderts über das 19. hinaus sprechen, von einer Überlegenheit des „Seidenen Schuhs" über den „Faust"?

Goethe, gültiger Repräsentant der europäischen Bildungswelt „Alteuropas“, um Otto Brunners Terminus zu gebrauchen, der christlich-humanistischen Bildungswelt des 8. bis 18. Jahrhunderts, umschreitet in seinem Faust den Orbis pietus (Comenius!), den mit viel bunten Bildern bestellten Gar-, ten der abendländischen Bildungswelt seiner Zeit. Wesenhaft, end-gültig sind ihm letztlich diese Bilder aus „Himmel“, Parnaß, Olymp, Hölle und Erdengarten nicht, sondern einzig und allein das immanent-innere Schicksal Faustens, dem jenes Gretchens nur blasse Spiegel leiht. Das Schicksal Faustens, des egozentrischen Bildungsmenschen des zweiten Humanismus, das allein in seiner „eigenen“ Brust beschlossen ist; in Raison und Gefühl, in jener säkularisierten Weite des augustinischen Herzens, das sich der Vernunft — Luthers „Hure Vernunft" — in nicht ganz glücklicher Ehe angetraut weiß. Grob und deutsch gesagt: Alles andere ist Staffage: Die beiden Walpurgisnächte, Kaiserhof und Helena, ja auch Gretchen und Mephisto, soweit sie nicht Teile von Faustens Selbstperson sind. Das Spiel geht nur um Faust, um Professor Dr. theol. et phil. Faust, um seine in starken Träumen mit Tauben- und Drachenflügeln ausschwärmenden Gedanken, „Einbildungen": „Phantasia", Melancholie — Dürer, Stoa, ewiger Kreislauf der Gestirne um das in Icheinsamkeit im Abgrund des eigenen Selbst verlorenen Individuum großbürgerlich-klerischer Provenienz. — „Liebe“, „Gott“, „Reich", „Bildungswelt": des Spiels erhabene Masken, Kulissen, die aber letztlich nicht reale Wesenheiten, Essenzen und Substanzen vertreten. Professor Faust bleibt immer in Weimar, er sieht weder Naumburg noch auch da dunkle Auge des dionysischen Hellas, nicht einmal „Europa“. Das Schicksal der Welt, dieser ganzen Welt, ist ihm an sich uninteressant, beeindruckt, ihn nur als Seelenlandschaft, als Becher, Becken und Tummelplatz eigener Empfindungen — „Gefühl ist alles."

Und nun Claudel. Ihm geht es, in seinem großen Liebesspiel u m Proeza und Rodrigo, um die ganze Welt. Das ist das Erschütternde und Ergreifende — der Schritt de 2 0. Jahrhunderts: „Die Menschheit eine Familie“ — in der Sicht der Biologen und Naturwissenschaftler — die Menschheit eine untrennbare Gemeinschaft von Sündern und Heiligen, in der jede Tat, jeder Gedanke jedes Menschen positive und negative, lebensschaffende und todbringende Kraftstöße, Impulse dem bebenden Großleib der Menschheit mittelt — Mysterium magnum humanitatis.

Eine Liebesgeschichte also? Jawohl — in sie hinein aber ist verwickelt, leidschwer und lustvoll verwoben das Schicksal der fünf Kontinente. Mächtige, strahlende, weltumspannende Gebärde des Dichters! Der Lebensweg Rodrigos und Proezas: China und Amerika, Europa und Afrika, Deutschland, der slawische Osten, Spanien

— alle Länder und Völker spielen mit in dem großen Schauspiel, dessen Held d i e Menschheit ist. Aus den Nebeln der Vergangenheit, aus der Enge und Uneinsichtigkeit dorf- und kirchturmspitzbeschränkter kleineuropäischer Individuen wind. hier der Schritt gewagt zur liebenden Annahme des Schicksals dieser ganzen, einen Welt! Und sieh da; in das Stöhnen der durch Sdmld und Gnade und Weltmeere getrennten Liebenden mischt sich der Sang der aus den dunklen Fluten zur Erlösung, zur Klarheit der Ratio und fides, der wahren All- Einheitskultur aufsteigenden Kontinente. Da ruht, vielleicht am erschütterndsten, Afrika, schwarze Mutterbrust der Sklaven und Barbaren, dem bleichen Antlitz Europas zugewandt. Hinter ihm steigt der ferne Osten aus den Fluten, die Weisheit, Kälte, Ironie und Überlegenheit Chinas. Wohin muß durch Gottes Fügung Rodrigo vor Proeza, der Geliebten, der Gattin Don Pela jos, fliehen? Tausend Meilen in einem Traum, in ein Schloß am Mond? Nein, nach Amerika, dem er als spanischer Vizekönig gerechte Herrschaft, Maß und Gewicht Europas bringen soll — weil der Zusammengesang der beiden Liebenden nur Wirklichkeit werden kann im Zusammengesang aller Länder dieses Planeten Erde, weil er Erfüllung nur findet in der Vergangenheit, Gegenwan und Zukunft einenden Gemeinschaft der Heiligen. Dies der große Hintergrund des Claudelschen Werkes: ein Katholizismus, der eine neue We11 g üllig keit und Well ha11ig keit offenbart, real ausweist, die als das größte geschichtliche Faktum unseres Jahrhunderts angesehen werden muß. Eine Gläubigkeit, eine Christi- onität, die sich anschickt, in ihrem Schoße — um an G. von Le Forts Hymnen an die Kirche anzutönen — alle Rassen und Farben, alle Zeiten und Kontinente zu sammeln: beginnend mit den Himmelstürmen der alten Heidentümer im Aufgang der Menschheit und ausgreifend, bis zu den Wolkenkratzern des Okzidents. Das die Weltgültigkeit dieses Katholizismus. Sie bedeutet konkrete Verantwortung des Christen in dem kleinen spanischen Nest für das Schicksal der Menschheit in Prag und Mogador, in China und Südamerika (dem Rodrigos Bruder, der Jesuitenpater; zueilt). Eine Welt, für die wir verantwortlich sind, die wir in Taten des Opfers aufbauen und in Taten des Eigentrotzes, der versuchten Selbstbehauptung, zerstören. Und dies ist die zweite, dem ersten Aspekt untrennbar verbundene Komponente: die neue Welthaltigkeit dieses Katholizismus. Vielgeliebte Erde! Claudel schlürft, saugt, atmet mit allen Fiebern ihre Düfte ein, bettet sich in ihr Fleisch, wütet in ihre Flanken. Nein, die Erde ist nicht einfach ein Tränental, sondern ist Gottes teuerste, schwerste, liebste Last! Last, die er durch sein Kreuz trägt. Rodrigo und Proeza lieben einander, in einem leidenschaftlichen Begehren und Verlangen, das die Kontinente zerfetzen und die Sterne vom Himmel reißen möchte, um zur letzten Vereinigung zu gelangen. Sie, die Frau eines anderen, er der unstet landlose Mann, König und Bettler. Kein heidnischer Dichter hat diese Welt so blutschwer und sö blutend begehrt und geliebt wie dieser1 christliche, dieser neu-katholische Mann und Diditer. Und nun das Große: durch die Mitte dieser Welt erfolgt der Einstieg in die Tiefe — durch die Sünde führt der Weg zu Gott. Vorwort' des Werkes: „Gott schreibt gerade auf krummen Linien.“ Maßlose Leidenschaft, Sünde und Schuld — als der Weg des Menschen, als der Weg des;

2 0. Jahrhunderts zu Gott. — Faust, siehe hier deine Erlösung! Nicht in vorwagnerianischen scheinsakramentalen „Mysterien“, sondern in der Eingeschlossenheit des Menschen in den durch Gottes Gnade zur heiligen Einung geführten Kosmos. Hinkend, strauchelnd, stöhnend und trotzend, fallend, ziehen Proeza und Rodrigo die Pilgerstnaße ihres Lebens -— und sie werden gerettet, nicht durch Aufschwünge des Gefühls, sondern durch ihre Einwilligung in die Gnadentat der weltumfangenden Erlösung.

Planet Erde: die Menschheit eine Familie; in Schuld und Sühne geeint durch das Opfer Christi, das Opfer der Christträger, der Heiligen, das die Welt erhält. Das einzige wahre Gegengewicht gegen die Schale des Gerichts. Erlösung: gewiß; immer des Einzelnen, einer unsterblichen Seele, aber nur im Mitgesang des zur Erlösung drängenden, auf.brechen den Kosmos. Atlantisches Zeitalter! Ströme, Ozeane einer neuen Weltstunde. Katholizismus des 20. Jahrhunderts.

Der Dank Wiens für die hervorragende Aufführung gebührt allen Mitwirkenden. Wenn Namen genannt werden sollen, dann diese drei: Josef Gielen als Regisseur, Theo Otto als Bühnenbildner, Maria Becker als Proeza.

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