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Wenn es alle ernst nähmen ...

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Vor Jahren unterrichtete ich Religion in einer Stadtschule. Ich hatte gerade einen gesegneten Tag. Der Frühling hatte sehr lange gezögert, und mit lauter Regen und Kälte war der Mai gekommen. Nun war wie mit einem Schlag alles anders. Das Gras stand in den Gärten so grün und hoch wie noch nie, die Bäume blühten, die Luft ging klar und weich, alles lebte auf und ich auch. Am Abend war ich in den Garten gegangen, hatte mich ins Gras gelegt und in den Himmel geschaut. Auf dem blühenden Apfelbaum saß eine Amsel und schluchzte ihr trunkenes Lied. Ich war aber für das alles noch nicht offen, weil ich mir um etwas Bestimmtes, das mir heute zum Lachen ist, aber damals sehr groß erschien, Sorgen machte. Da erinnerte ich mich plötzlich an die Stelle aus der Bergpredigt, wo es heißt: .Sehet die Vögel unter dem Himmel an. Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, ob er gleich darum sorget?“ Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich fühlte mich so glücklich in der Hand Gottes geborgen wie selten einmal. Ich sah weiter an den weißen Blüten vorbei in den blauen Himmel, ich hörte auf den Jubel der Amsel, und es war mir ein Fenster zum lieben Gott aufgetan. Wer Ähnliches nicht erlebt hat, dem sagt das nichts, aber wer bei Gott und seinem Worte je Trost gefunden, der wird es sehr gut begreifen und wird sagen: „Wahrhaftig, mir ist es auch so gegangen, wenngleich ich nicht unter dem Baume lag, da die Amsel sang, aber in mir brachen alle Blüten auf, mein Herz jubelte mehr als deine Amsel und nicht ein Fenster in die Welt war mir offen, sondern der Himmel selber tat sich auf.“ •

Das ist die Vorgeschichte. Am nächsten Tag ging ich in die Schule, und wenn auch der Abend vorbei war, so erfüllte sein Glanz noch meine Seele, und da ich die offenen Augen meiner Kinder sah, begann ich zu sprechen: .Wißt ihr auch, wo man alles aufgezeichnet findet, was Jesus getan und gesagt hat? Es ist das kostbarste Buch der Welt und heißt das Evangelium.“ Und ich erzählte ihnen, was mir das Herz eingab. Da zeigte Trude, ein gescheites Kind, auf und fragte: .Wenn das Buch so kostbar ist, was muß man dann dafür bezahlen?“

.Kostbar heißt bloß, daß es viel wert ist. Aber dem Preis nach ist es billiger, als man glaubt. Um zwei Schilling kannst du eines haben. Ich habe selber eine Anzahl daheim liegen.“ Da sprach das Mädchen nichts mehr und setzte sich. Aber am gleichen Nachmittag stand sie vor meiner Tür und hielt zwei Schilling in der Hand.

Ich möchte das kostbare Buch haben, von dem Sie heute gesprochen haben.“ Ich führte sie in meine Kammer, suchte ein Evangelium und reichte es ihr. .Hast du die Mutter gefragt?“

.Ja, sie hat es erlaubt.“

Glückselig griff sie nach dem Buch und lief fort. Mir war es peinlich, als ich das Geldstück vor mir liegen hatte, und am nächsten Tag fragte ich die Lehrerin nach dem Kind.

.Es sind sehr anständige Menschen“, sagte sie, „nur haben sie kein Glück.“

„Wieso?“

.Der Vater ist Vertragsangestellter und verdient so wenig, daß er davon seine Familie nicht ernähren kann.''

Dann vergaß ich eine Weile auf Trude und ihr Evangelium, bis sie mir wieder unter die Augen kam. Ich war unruhig, weil ich fürchtete, Trude hätte keinen Zugang zur Heiligen Schrift gefunden und wäre enttäuscht. „Wo hast du dein Buch?“ fragte ich sie.

Zu Hause liegt es auf dem Tisch.“

Hast du schon etwas gelesen?“

Ja, sehr viel, ich lese jeden Abend vor und alle hören mir zu.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Ich wunderte mich nicht, daß sie vorlas, sondern daß die andern zuhörten, und eines Abends nahm ich mir ein Herz und ging zu ihnen. Sie wohnten in einem Gemeindehaus und ihre Fenster gingen in die Gärten. Sie saßen gerade beim Essen und luden mich dazu ein. Ihr Mahl bestand aus gekochten Kartoffeln und Salz. Als die Kinder — Trude hatte eine Schwester — um Brot baten, gab die Mutter jedem eine dünne Schnitte. Ich war erschüttert. Dabei war der Vater ein intelligenter Mann, der die Handelsakademie absolviert hatte. Die Mutter sah elend aus. Ich war niedergedrückt, aber sie rissen mich durch ihr Geplauder bald heraus. Der Vater scherzte, auch die Schweine würden von Kartoffeln fett. Katholisch in unserem Sinne waren sie nichtj politisch standen sie dem Sozialismus nahe, gegen den Nationalsozialismus, der damals gerade seine Arme nach Österreich ausstreckte, wehrten sie sich fanatisch. Geistig waren sie interessiert und nach allen Seiten offen. Bald kamen wir auf das Evangelium zu sprechen. Der Mann sagte: Ich hatte nur eine oberflächliche Vorstellung davon, aber da steckt doch etwas Gewaltiges dahinter. Welch ein Gericht über den Christen, über uns alle.“ Dann bat ich, daß Trude lesen möge; Die Mutter griff nach dem Flickzeug, der Vater lehnte sich im Stuhl zurück und das Kind begann. Ich glaube, das Evangelium kann man nicht schön genug lesen. Man soll es nicht mit den Augen aufnehmen, sondern mit den Ohren. Wie anders klang alles aus dem Munde dieses Kindes. Jedes Wort berührte unmittelbar das Herz. I

Spät ging ich heim, und der Mann begleitete mich. Vor dem Haustor sagte er noch: .Es ist nicht auszudenken, was geschähe, wenn wir das Evangelium ernst nähmen. Sagen Sie mir nur, warum tun wir es nicht?“

Ich wußte in der Eile keine bessere Antwort und sagte: „Bemühen wir uns in aller Bescheidenheit. Es ist nicht leicht.“ Dann trennten wir uns. Ich ging durch den Garten und blieb unter dem Apfelbaum stehen, wo damals die Amsel gesungen hatte. Aber jetzt war sie nicht zu sehen und nicht zu hören, die Blüten waren längst abgefallen, doch dieselben Sterne leuchteten herab. Wir standen im hohen Sommer. „Warum nehmen wir das Wort Gottes nicht ernst? Warum tun wir nichts?“ wiederholte Ich seine Frage und sah in den geheimnisvollen Weltraum hinaus. Es würde sich alles verwandeln. •

Später bin ich noch oft in die Familie gegangen, habe ihnen auch ein wenig geholfen, und wir haben viel vom Reiche Gottes gesprochen, anders als man es in einem „alt“-katholischen Hause tun kann. Sie haben noch bessere Zeiten erlebt, aber jenes Evangelium, das Trude vor Jahren bei mir gekauft hat und das sie sich wirklich vom Munde abgespart hatten, ist ihnen teuer geblieben. Das Wort Gottes hat ihre Herzen berührt und gewandelt.

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