Wenn Literatur Zeitzeugen ersetzen muss

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"Geiger macht es dem Leser etwas einfach, denn fanatischen Nationalsozialismus findet man bei den Erzählstimmen nicht (und auch sonst kaum). Sie sind alle auf ihre Weise Opfer des Regimes."

Arno Geiger hat sich dem Erleben des Individuums und dem Alltäglichen verschrieben. Sein letzter Roman "Selbstporträt mit Flusspferd" war eine etwas banal geratenen Fingerübung über einen jungen, selbstzentrierten Mann, dem nichts sonderlich Aufregendes passierte. Sein neuer Roman "Unter der Drachenwand" hat das Erleben des Einzelnen im Zweiten Weltkrieg zum Thema, ein zwangsläufig politisches Thema, das keine nur privaten Zugänge kennt. Nun ist Arno Geiger ein sehr feinfühliger Autor, aber eben kein politischer. Langer Rede kurzer Sinn: Bei dem Gedanken wird einem erst einmal mulmig.

Opfergedächtnis

Der Roman wird eröffnet von Ich-Erzähler Veit Kolbe, einem vierundzwanzigjährigen Wehrmachtsoldaten aus Wien, der nach vier Jahren an der Front schwer verwundet zunächst ins Lazarett und dann zur Erholung nach Mondsee kommt. Eindringlich beschreibt er die Entfremdung durch seine körperliche und geistige Versehrtheit. Seine Erzählung wird unterbrochen von Briefen anderer vom Krieg Betroffener, einer Mutter aus Darmstadt, die ihrer Tochter schreibt, einem jüdischen Zahnarzt, der schrittweise und für den Leser äußert schmerzhaft erkennen muss, dass sich sein Glaube, die zunehmenden Repressionen könne man durchtauchen, als tödlicher Irrtum erweist, dem Jugendlichen Kurt, der seiner in einem Mädchenlager am Mondsee gedrillt werdenden Cousine Liebesbriefe schreibt und sich nach deren Verschwinden als Rekrut meldet. So entsteht ein vielstimmiger Montagtext, erzählt nicht nur aus verschiedenen Perspektiven, sondern auch unterschiedlichen Erzählsituationen, zwischen Lebensmittelmarken und Fliegeralarm, Fronterfahrung und Kriegstrauma, Vertreibung und Mord. Orientierung muss sich der Leser selber verschaffen, was gut ist, Kriegserzählungen vertragen keine Gefälligkeiten.

Einigermaßen befremdlich liest sich hingegen Geigers im News-Interview getätigtes Urteil über die Nachkriegsliteratur, die mit einer "Täter-Opfer-Konstellation" operiere. Die Nachkriegsliteratur war vielfältiger als das, man denke an Ilse Aichingers großartigen und verstörenden Roman "Die größere Hoffnung" oder an die Texte Wolfgang Borcherts, die gerade nicht mit einer einfachen Opfer-Täter-Moral arbeiten, um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen. Gleichzeitig kritisiert Geiger Günter Grass' "Die Blechtrommel", die den Nationalsozialismus verharmlose, was Geiger sich mit Grass' eigener, spät eingestandener Involvierung erklärt.

Nun lässt sich über die Person Günter Grass trefflich streiten; der bitterbösen "Blechtrommel", in der die Beteiligung des scheinbar harmlosen Individuums an einem brutalen, menschenverachtenden System in Szene gesetzt wird, gezielte Verharmlosung vorzuwerfen, weil ihr Autor als 17-Jähriger der Waffen-SS angehörte, verkennt die Trennung von Autor und Werk und den Wert, den der Roman bis heute besitzt. Aus der sicheren Perspektive der Nachgeborenen lässt sich leicht urteilen.

Erinnern für die Zukunft

Bei Texten über den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus stellt sich immer die Frage, was sie Neues hinzuzufügen haben, zumal wenn sie von Nachgeborenen stammen, die nur aus ihrer Vorstellungskraft, aber nicht aus eigenem Erleben schöpfen können. Genau das kann aber nicht nur eine Stärke, sondern bittere Notwendigkeit sein: In Zeiten, in denen es jedes Jahr weniger Menschen gibt, die Frieden, Freiheit und Wohlstand als etwas nicht Selbstverständliches zu schätzen wissen, weil sie selbst noch die Kriegs-und Nachkriegszeit erlebt haben, wird das Erinnern immer wichtiger. Und nicht nur das Erinnern in Form von immer weiter in der Vergangenheit und damit emotional unzugänglichem Schulbuchwissen, sondern Erinnern, das Einfühlung fordert und fördert. Das kann die Fiktion. Darin liegt auch Geigers Leistung und das macht "Unter der Drachenwand" zu einem wichtigen Roman. Doch fanatischen Nationalsozialismus findet man bei den Erzählstimmen nicht (und auch sonst kaum). Die Figuren sind alle auf ihre Weise Opfer des Regimes. Natürlich kommen auch Kriegsbefürworter und Nazis vor, mit ihrer Perspektive werden wir aber nicht belästigt.

Es ist noch nicht lange her, dass der Erinnerungsdiskurs sich um die Frage drehte, wie man in der Nachfolge des Dritten Reiches erinnern dürfe, ob man etwa das deutsche Opfertum des Bombenkrieges literarisch beschreiben könne und solle, wie es W. G. Sebald in seinem Essay "Luftkrieg und Literatur" thematisierte. Mittlerweile hat es eine Verschiebung in diesem Diskurs gegeben. Wir dürfen wieder Opfer sein und niemand hat dagegen etwas einzuwenden. Es steht außer Frage, dass die Deutschen und Österreicher sowohl der Zivilbevölkerung als auch der Wehrmacht auch Opfer waren. Die Täterperspektive so konsequent auszusparen, ist aber fahrlässig. Im Erinnern liegt Verantwortung. Was Geiger geschrieben hat ist gut und berührend. Was er ausspart aber ein zu großer Makel.

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