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„Wer hätte das von dir gedacht?”

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Seit jener Nacht, als braune Parolen durch ein Studentenheim in Niederösterreich hallten, ist für manche Bewohner die Welt nicht mehr in Ordnung.

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Seit jener Nacht, als braune Parolen durch ein Studentenheim in Niederösterreich hallten, ist für manche Bewohner die Welt nicht mehr in Ordnung.

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Studentenwohnheime können eine interessante Sache sein. Man lernt neue Leute aus aller Welt kennen, schließt Freundschaften fürs Leben. Die Lebensqualität läßt zwar manchmal zu wünschen übrig: Essen wird aus den Kühlschränken gestohlen, die Zimmerpreise empfindet man oft als Wucher. Aber das ist noch harmlos im Vergleich zu den Erlebnissen, die man in Studentenheimen auch haben kann. Wenn sich nämlich plötzlich herausstellt, daß man Tür an Tür mit jemandem wohnt, der eigentlich ganz normal wirkt. Bis er ein Tages sein wahres Gesicht zeigt:

„Ich bin sehr enttäuscht vom Hub-si. Wir waren auch schon hin und wieder etwas trinken. Er geht ja in meine Parallelklasse. Irgendwann hat er sich mit mir über den Zweiten Weltkrieg unterhalten wollen. Uber Panzer und andere Waffen, die damals eingesetzt wurden. Ich habe mir nichts dabei gedacht, aber jetzt weiß ich, warum er darüber geredet hat.” Michi” ist erzürnt. „Wer hätte das gedacht vom Hubsi!” Der Hubsi, das ist Hubert Bergmeister. Aufgewachsen ist der heute 19jährige in einer oberösterreichischen bürgerlichen Kleinstadt. Die Mutter ist Volksschullehrerin, der Stiefvater Oberregierungsrat. Auf seinem Anmeldeformular für das Studentenwohnheim in Krems steht Nichtraucher. Baucher oder Nichtraucher ~ das ist nicht das Ausschlaggebende, warum er aus dem Heim ausziehen mußte.

Bis zu jenem Abend in diesem Sommer hat er nicht viel Aufsehen erregt, vielleicht ein bißchen durch 1 sein Äußeres. Aber in der Schulstadt Krems, in der rund 3.000 Schüler und Studenten wohnen, sieht man oft Jugendliche, die sich etwas „sonderbar kleiden”. So auch der Hubsi: Mit schwarzen, hohen „Doc Martins”, jenen festen, klobigen Schuhen, die teilweise schon als Springerstiefel angesehen werden. Wenn er, mit einfarbigen bräunlichen Hosen und Shirts bekleidet, auf der Straße geht, trippelt ein unscheinbares, zierliches Mädchen neben ihm her: seine Freundin.

In jener Nacht ist er nicht in Begleitung seiner Freundin. Es ist schon fast vier Uhr morgens. Während andere noch schlafen, kommt Hubsi mit seinem Zimmerkollegen Gernot Weiß” erst nach Hause. Das ist nicht ungewöhnlich. Jeder Bewohner des Studentenwohnheims, der über 18 Jahre altist, hat einen Nachtschlüssel. Das ist einfacher und billiger, als einen Nachtportier zu beschäftigen. Trotzdem ist etwas nicht wie sonst, wenn die beiden „ein Bier trinken waren”. Bereits von weitem hört man lautes Schreien. „Deutschland über alles! Nur Deutschland kann uns retten!” Braune Parolen hallen durch die Nacht. Die zwei nächtlichen Störer schließen die Eingangstür auf. Es ist niemand da, der sie aufhält. Während sie durch die Eingangshalle stampfen, schallt es unüberhörbar „marschieren, marschieren, eins und zwei und drei und vier: marschieren. Deutschland!” durch die Gänge.

Mittlerweile ist jeder der 96 Hausbewohner hellwach. Aber keiner traut sich aus seinem Zimmer. Die meisten fühlen sich unbehaglich, wollen sich nicht einmischen. Der Mann der

Heimleiterin hat sich in Sekundenschnelle angezogen. „Wo seid ihr her? Ihr wohnt hier?” läßt er die Diskussion in ein dümmliches Frage- und Antwort-Spiel gleiten, denn die beiden Jugendlichen sind stock betrunken.

Der Mann versucht, die beiden auf ihre Zimmer zu schicken. Er erntet dafür n\$r häßliche Schimpfworte. Wieder versucht er es auf die rationale Tour. „Schämt euch. Was soll das überhaupt, braune Parolen zu brüllen?” Die Antwort ist ein hämisches Grinsen, entnervt lehnt er sich gegen die Mauer.

Es wird erst ruhig, als di>Randalierer ins Bett fallen. Tage später sprechen die Studenten immer noch über jene Nacht, als der Hubsi sein wahres Gesicht zeigte. Peter0 wundert sich plötzlich über nichts mehr. Er erzählt von jenen zehn Leuten, die in seiner Parallelklasse ebenfalls mit geschorenen Köpfen, braunen Hosen und Hosenträgern herumlaufen. „Die brüllen hin und wieder braune Parolen im Stadtpark und singen Nazilieder. Und das hier, wo doch hier so viele Nationen zusammenleben.”

Aber das war noch nicht alles. Bereits vor einem halben Jahr hatte sich Bichard Baumer0 etwas unfreiwillig „geoutet”. Das ist der 18jährige mit den dunklen Haaren, der meist als Einzelgänger mit schwarzer Lederjacke und schwarzen Jeans unterwegs ist, aber ansonsten kaum auffiel. Eines Morgens wurden die Putzfrauen auf Brandgeruch aufmerksam. Als sie das Zimmer aufsperrten, stand das unbenutzte Bett in seinem Doppelzimmer bereits in Flammen. Richard hatte vergessen, die Zigarette auszudrücken. Die Heimleiterin kam mit einem Versicherungsvertreter zum Lokalaugenschein, die Studentenvertreterin wurde alarmiert.

Am Abend dann die Hausversammlung: Die Jugendlichen wurden zur Vorsicht ermahnt. Richard saß am Boden, die Knie angezogen. Kein Kommentar, nur eine „Was soll 's”-Regung im Gesicht. Was die Heimleiterin und Studentenvertreterin Charlotte0 außerdem in Richards Zimmer entdeckt hatten, wurde an diesem Abend verschwiegen. Auch Richard hat niemand darauf angesprochen: auf die alte Reichsflagge in seinem Zimmer. Die Studentenvertreterin wurde angewiesen, nichts zu erzählen, „da man die Schüler ja nicht beunruhigen will”. Charlotte: „Ich war entsetzt. Von solchen Menschen liest man doch sonst nur in der Zeitung. Aber sie sehen manchmal nicht wie Neonazis aus. Sie wohnen im Zimmer neben dir und du weißt nichts davon.”

Über Richard wurde nicht mehr gesprochen. Irgendwann wurde er auch nicht mehr gesehen. Die Sekretärin des Heimes macht sich so ihre Gedanken. Durch die Glasscheibe sieht sie jeden kommen und gehen. „Die wissen doch gar nichts von der Zeit, die kennen den Zweiten Weltkrieg doch nur aus Büchern und Filmen.” Die Heimleiterin bleibt eher kühl, auch wenn sie sagt: „Schlimm ist das alles schon.” Das bleibt der einzige Kommentar. Sie muß sich ja auch eher um ihre zwei kleinen Kinder kümmern. Ihr Mann, der die nächtlichen Ruhestörer in die Schranken verwiesen hat, ist wenig zu Hause. Solange der Laden läuft ist doch „eh alles in Ordnung”. Wirklich?

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