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Wer hilft Südtirol?

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Die gegenwärtige Erregung über die bedauernswerten Geschehnisse in Südtirol hat in der Tagespresse und Oeffentlichkeit sehr laute Ausdrucksfonnen angenommen. Sehr im Gegensatz zu diesen nicht selten schrillen Tönen, Protesten und Forderungen, die da heute von italienischen Kreisen und deutschsprachigen Gruppen vorgebracht werden, stehen die wirklichen Probleme, die zu lösen sind. Diese heißen: Wer hilft Südtirol? Wie sind die österreichisch-italienischen Beziehungen in Zukunft im Sinne der europäisch notwendigen Zusammenarbeit konstruktiv zu gestalten?

Hinter diesen beiden Fragen stehen zwei andere, ohne die sie selbst nicht verständlich sind. Diese lauten: Was steht hinter den nationalistischen Exzessen eines Teiles der italienischen Presse, hinter den bedauernswerten Aeußerungen des Innenministers Tambroni und dem Fehlurteil über den Linzer Egon Mayr? Und, zum zweiten, wer sind die Nutznießer der gegenwärtigen Entzweiung zwischen Italien und Oesterreich?

Beginnen wir also mit dem Hinterguml Dieser wird durch die Erhebung des Nationalismus in Europa gebildet. Wie nach dem ersten Weltkrieg, so sind es auch jetzt zehn Jahre; anscheinend eine Zeit, die zur Ausbildung dieser Reflexe und Reaktionen psychologisch notwendig ist, die in ganz Europa ein neues Aufflammen nationalistischer Bewegungen und Ideen bringt. In den ersten Jahren nach dem eisten und zweiten Weltkrieg wurden in den Völkern und vielen einzelnen die Enttäuschung und Verbitterung, die innere Versehrung durch Krieg und Niederlage, das Scheitern der Nation und des eigenen Lebensweges etwas verdrängt, zumindest zurückgedrängt durch den Kampf um das tägliche Brot, nicht zuletzt auch durch den Schock des Kriegsendes und die Uebernahme wichtigster Führungsposten in Staat und Gesellschaft durch Menschen, die mit den Spielern des Krieges und dem Feuer des Nationalismus nicht mitgespielt haben. Zehn Jahre genügen, so zeigt sich nun ein zweites Mal, um die verdrängten Gefühle und Ressentiments, oft ein Meer von Erbitterung und Enttäuschung, wieder hochsteigen zu lassen. Es ist zu einfach, hier etwa nur eine Art Renaissance politischer Reaktion, des Faschismus und Nationalsozialismus, zu sehen, obwohl die Führung der italienischen Pressekampagne gegen Oesterreich und Südtirol unzweifelhaft bei faschistischen und neomonarchistischen Kreisen und Gazetten zu finden ist. Diese Renaissance des Nationalismus ist ein viel größeres und komplexeres Phänomen: kein Eiserner und kein Bambus-Vorhang hindert seine Verbreitung. Wir verstehen heute gerade gewisse westeuropäische, aber auch amerikanische Tageserscheinungen, wie also die Vorgänge um Südtirol und in den USA die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Weißen und Negern in gewissen Staaten, besser, wenn wir sie in weltweitem Zusammenhang sehen. Die klugen Russen wußten sehr genau, was sie taten, als sie in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei ihre Partisanen eines rein moskowi-tisch-monolithisch ausgerichteten Blocks zurückpfiffen, Tito weit entgegenkamen und es heute der Intelligenz in den Volksdemokratien und verbündeten Staaten übertragen haben, auf eigene Kosten und eigenes Risiko mit dem Nationalismus ihrer Völker fertig zu werden. Das große Auffangmanöver im Osten, das ja auch den Völkern in der Sowjetunion gilt, verdient bei uns weit mehr Beachtung, als ihm geschenkt wurde. Alle Staaten und Nationen, alle Staatsführungen und Politiker in der ganzen Welt haben sich heute demselben großen Problem zu stellen: gelingt es ihnen, den neu aufsteigenden Nationalismus, hinter dem sich die Sorge und Angst vieler Schichten verbirgt, unter die Räder der Konjunkturen und Krisen zu kommen, aufzufangen, zu sublimieren, ja im allerbesten Falle zu einem gesunden Patriotismus zu läutern — oder werden sie, die Staaten und führenden Staatsmänner selbst, in den Sog mit hineingerissen? In den Sog, dem Hitler, Peron, Nasser und andere unzweifelhaft verfallen waren bzw. sind. Hitler hat das in einer Berliner Rede vor dem Krieg selbst einbekannt, als er den ihm zujubelnden Massen zurief: „So, wie ihr mir verfallen seid, bin ich ja euch verfallen ...“

Wer nun in diesen Tagen zunächst einmal italienische Gazetten über Südtiroler Fragen las, wird durch sie an die zunehmende Erhitzung der Presse zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg gemahnt, und näherhin, an die erstaunlichen und überraschenden Invektiven selbst liberal-bürgerlicher, konservativer italienischer Organe vor wenigen Wochen gegen die österreichischen und deutschen Italienurlauber der eben zu Ende gehenden Saison: kein Wort stand da von den Milliarden Lire, die Millionen deutschsprachige Urlauber im letzten Jahr nach Italien gebracht haben, wohl aber war da viel die Rede vom sparwütigen, ja jämmerlichen Gebaren der Gäste. Hier brach plötzlich ein Ressentiment auf, das, unbewußt oder bewußt, viel weniger den Gästen von heute als den „Gästen“ von 1942 bis 1945 und nach 1945, den deutschen, dann amerikanischen Besatzungskräften galt, und das, damals fast heroisch, in einigen Filmen des italienischen Neoverismus zu überwinden versucht wurde. Was damals einer Elite hellwacher Künstler und Intellektueller gelang, gelingt heute nicht mehr breiten Schichten eines in sehr gedrückten Verhältnissen lebenden Volkes. Wer also die erbitterten Angriffe italienischer Organe auf die österreichischen und deutschen Urlauber liest, tut gut, einen Blick auf die Millionen von Italiener zu werfen, die als Publikum diese Zeitungen lesen und die nur selten Urlaub auch nur im eigenen Land machen können. Das gilt nicht nur für untere Schichten, sondern auch für breite Kreise des „Mittelstandes“, in dem etwa Mittelschulprofessoren mit Familie sich sehr, sehr schwer durchbringen können. Was aber denken diese Menschen, wenn im Volkswagen oder „Mercedes“, im Autobus und in hellen Scharen in Sonderzügen die Gegner von gestern ihr Land besuchen? ... Nun, was sie denken und oft unbewußt spüren, bekommen sie in den auf ihre Unlustgefühle spekulierenden Zeitungen zu lesen.

Damit stehen wir bereits in der zweiten Vorfrage: Wer sind die Nutznießer der gegenwärtigen Trübung der Beziehungen zwischen Italien und Oesterreich? Diese Nutznießer sind in einem weiteren Sinne alle Kräfte und Bewegungen, die gegen eine Integration Europas sind; von der extremen Linken bis zur extremen Rechten. Das ist eine Binsenweisheit; hinter ihr steht die bereits aus den Jahren 1928 bis 1933 sattsam bekannte faktische Zusammenarbeit links- und rechtsradikaler Elemente. Das ist ernst genug. Ernster und schwieriger aber ist die Lage gerade heute — zumal in Italien — dadurch geworden, daß nicht nur diese wohlbekannten Gruppen und Kreise zur Macht drängen, sondern noch eine ganze Reihe anderer Männer, anderer wirtschaftlicher und politischer Positionen, die an sich, von Haus aus, gar nicht links- oder rechtsextremistisch sind, die aber ihre Stunde gekommen erachten, um der christlich-demokratischen Regierung den Garaus zu machen. Diese wird als „defai-tistisch“, als Verräterregierung angegriffen, so wie einst in Deutschland das „System“ als „Er-füller“ des „SchandVertrages von Versailles“; bereits De Gasperi hatte alle Mühe, sich der ständigen Denunziation als „Austriaco“, als „Söldling“ und „Kollaborateur Alt-Oesterreichs“ zu erwehren. Hinter der italienischen Verschärfung des Südtirol-Problems steht also vor allem auch ein erbitterter innenpolitischer Machtkampf, in dem bei den nächsten Wahlen auch sehr biedermännische „liberal“ und „konservativ“ sich gebende Männer und Mächte auf Kosten der zehn Jahre an der Regierung befindlichen christlichen Demokraten zur Machtübernahme gelangen wollen, indem sie den internationalen Auftrieb des Nationalismus auszunützen hoffen.

Gegen diese Internationale der Profiteure, der Ehrgeizlinge, der Positions- und Machthungrigen einerseits und gegen die Internationale der Links- und Rechtsextremisten anderseits gibt es nur ein M.ttel, das Europa und die Freiheit retten und Italien und Oesterreich helfen kann: die nüchterne, geduldige Zusammenarbeit, quer durch alle äußeren und völkischen Fronten hindurch, der wirklich positiven politischen Elemente und Köpfe — diese hat sich gerade in den heute notwendigen sauberen Auseinandersetzungen zu bewähren, ja neu zu bilden und wohl auch zu verjüngen. Der Renaissance der Nationalisten kann nur eine Wiedergeburt und Erneuerung christlicher und demokratischer Kräfte entgegentreten - im Sinne jener Ansätze, die in den Jahren des letzten Krieges und den ersten Nachkriegsjahren überall in Westeuropa zu ersten gemeinsamen Aktionen, Schiedsgerichten und wirtschaftlichen Aussprachen geführt haben. Ohne eine neue konstruktive Zusammenarbeit der positiven, das Staatswohl wahrhaft bedenkenden italienischen und österreichischen Politiker, Parteien und Staatsmänner, die heute alle Hände voll zu tun haben, um sich dem Sog aus dem Untergrund, der Malaise und Misere, dem Unbehagen auch eigener Parteimassen zu entwinden, läßt sich das Problem Südtirol weder erörtern noch auch lösen. Damit sind wir be: der ersten und letzten Frage des Tages angelangt: Wer hilft Südtirol? Wer hilft Südtirol wirklich? - Drei Mächte und Gruppen sind zu dieser Hilfe berufen und verpflichtet, im nacktesten eigensten Lebensinteresse — und alle anderen Gruppen und Mächte haben da als Störer zurückzutreten, mögen sie es auch so gut meinen, wie die deutschen Burschenschaften, die bei ihrem letzten Jahreskongreß in Stuttgart vor etlichen Monaten bereits Südtirol als Thema eins und erstes Anliegen auf ihr Programm gestellt haben, und jene unbera-tenen und reichlich unklugen Kreise zwischen Graz und München, die Oesterreich und Deutschland zu einem Boykott am italienischen Fremdenverkehr veranlassen wollen, nicht unähnlich Hitlers Tausendmarksperre gegen Oesterreich. Die da Manifeste und Aufrufe in sattsam bekanntem Jargon erlassen: „Kein anständiger Oesterreicher fährt nach Italien, wo man unsere Blutsbrüder einkerkert, die Freiheit knebelt. Oesterreicher, Deutsche, kehrt um . . .!“ So geht es nicht. So geht es wirklich nicht. Drei Mächte und Gruppen sind allein berufen und verpflichtet, Südtirol zu helfen: Italien, Oesterreich und die Südtiroler selbst. Wenn diese drei versagen, dann werden allerdings andere Mächte, die heute bereits das Feuer schüren, das gefährliche Spiel der Aufputschung weitertreiben und uns alle ins Verderben zu reißen versuchen: der internationale Untergrund der Nationalisten (wobei hier konkret Faschisten und Nationalisten deutscher Zunge prächtig „zusammenarbeiten“, wobei es ihnen gelingen könnte, über das Nahziel Südtirol ihr nächstes Ziel, die Verhinderung einer demokratischen Union Europas mächtig vorwärtszutreiben).

Wenn diese drei versagen: das muß nämlich, als Warnung an uns alle, in dieser Stunde ausgesprochen werden. Die Möglichkeit des Versagens ist für uns drei gegeben. Für Italien, wenn dort die christlich-demokratischen und weitsichtigen Männer sich gegen die Versuchung aus ihren eigenen Wählermassen, in heißem Nationalismus mitzumachen, nicht durchsetzen können. In Südtirol, wenn es dort einigen Heißspornen gelingen sollte, die „alte Tour“ zu reiten, und gegen das „schwache Wien“ ein „starkes Deutschland“ zu suchen. Gott sei Dank hat in wohlverstandenem eigenen Interesse die Bonner Bundesregierung allen Versuchungen, sich einzumischen, widerstanden, obwohl in mehreren Parteien Gruppen und Personen einer gewissen Einmischung nicht abgeneigt sind — auch als Ablenkung von den schwierigen Beziehungen, besser Nichtbeziehun-gen, zu den östlichen Nachbarstaaten der Bundesrepublik.

Diese Möglichkeit des Versagens ist zuerst und zuletzt auch für uns in Oesterreich im allgemeinen, in Wien im besonderen gegeben. Alle gegenwärtigen Proteste, . Volksversammlungen und Aktionen können das große Vakuum nicht erfüllen, das seit 1945 bei uns besteht, genauer, zumindest seit 1918: infolge des Fehlens einer konstruktiven außenpolitischen Grundhaltung in Staat, Regierung, Volk, Intelligenz, der außenpolitischen Perspektive einer Zusammenarbeit im Donauraum zu allererst, tritt bei uns immer wieder, aus mehr oder minder tagesgegebenem Anlaß das Südtirolproblem zu einer kurzlebigen Scheinblüte als Lückenbüßer in, den Vordergrund. Wann werden wir endlich einsehen, daß wir mit diesen gelegentlichen Kurzschlußreaktionen und Demonstrationen, die unser wahres Elend, das Fehlen einer zukunftweisenden schöpferischen außenpolitischen Haltung — und diese kann nur eine Integration des Donauraumes in einem freieren und größeren Europa sein — verdecken, in der Welt nichts erreichen, in Italien uns lächerlich machen, und Südtirol eher schaden als nützen?

Oesterreich kann nur dann wirksam Südtirol helfen, wenn es ihm gelingt, die Mitarbeit Italiens zu erringen, ja zu erkämpfen: als ein sehr beachteter Partner. Als eine Kraft, die beachtet und berücksichtigt werden muß — nicht weil hinter ihr ein „Anschluß“, eine Anschlußgefahr steht, sondern weil Volk, Staat, Wirtschaft und Kultur dieses Landes heute bereits durch Potential und ihre Leistungen und umsichtigen Vorarbeiten anzeigen, daß der Donauraum morgen, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Böhmen-Mähren, nicht ohne eine Zusammenarbeit mit Oesterreich gedacht werden kann. Wirksam, und auf lange Sicht kann Oesterreich Südtirol nur helfen, wenn es die Achtung, die hohe und realistische Beachtung Italiens durch seine eigene Potenz und eine weitsichtige konstruktive Außenpolitik erzwingt.

Erwarten wir uns nicht zuviel von anderen Mächten. Wohl exzellieren westliche Politiker heute nicht mehr in den exzessiven Fehlhaltungen und Fehlurteilen Oesterreich gegenüber, wie 1918, wie 1934 bis 1938, wie während des letzten Krieges; wie wenig wir aber von der wichtigsten Macht des Westens, Amerika, in diesem Falle erwarten dürfen, zeigen nicht nur die Fehlmeldungen der Unittd Press über Südtirol in diesen Tagen, die auch durch die deutsche Presse gingen (die United Press hatte u. a. gemeldet, die angesehene Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ habe den Besuch des Staatspräsidenten Gronchi in Bozen völlig ignoriert; hatte ferner „gemeldet“, die „Dolomiten“ träten für eine Rückkehr Südtirols an Oesterreich ein. Zwei bösartige Falschmeldungen zur Vergiftung der Atmosphäre!). Gewichtiger ist eine andere Tatsache: alle Parteien und führenden Politiker in den USA müssen äußerste Rücksicht auf die starke italienische Volksgruppe in Amerika nehmen. Was das in einem Wahljahr bedeutet, versteht man wohl. England und

Frankreich sind zwnr Italien gegenüber nicht übermäßig entgegenkommend, da Italien eine kluge Zurückhaltung im Suez-Konflikt zeigt und seinerseits durch England und Frankreich sein afrikanisches Reich verlor; aus eben diesem Grunde haben aber westliche Politiker immer wieder Südtirol als eine Entschädigung Italiens für das, was sie selbst ihm genommen haben, angesehen.

Also bleibt es dabei: die Südtiroler Frage kann nicht durch Appelle und Demonstrationen, auch nicht durch scheinbar großangelegte internationale diplomatische Versuche Oesterreichs bereinigt werden, sondern einzig und allein durch eine neue, sachliche, geduldige Auseinandersetzung und Zusammenarbeit zwischen Italien, den Südtirolern und Oesterreich. Für diese das Klima zu reinigen, ist eine der vornehmsten Aufgaben der Presse heute, hüben und drüben. Das Fehlurteil über den jungen Mayr wird zu revidieren sein — genau so wie die Fehlhaltungen italienischer Politiker und eine Reihe von Fehlmaßnahmen im „Ober-Etsch“ — alle diese notwendigen Revisionen hängen von einem gereinigten Klima und von dem ruhigen Vertrauen Oesterreichs in seine eigene Kraft ab.

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