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Wer jemals aus dem Blechnapf aß.

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BEI DER BERATUNG ÜBER DEN URTEILSSPRUCH gegen einen Angeklagten im Jugendgerichtshof Wien stellt eines der Mitglieder des Schöffengerichtes den Antrag, den jungen Mann, der vor den Türen des Beratungszimmers auf sein Urteil wartet, in das Strafentlassungsheim der Caritas einzuweisen, und der Schriftführer schreibt als Begründung: „Der Angeklagte, der eine ziemlich traurige Kindheit hatte und sich fast ständig in Heimen befand, wuchs zu einem ziemlich erziehungsschwierigen Burschen heran. Er wurde zu einer entwurzelten, rückhaltlosen, verwahrlosten Persönlichkeit ohne feste Bindung, dabei ist er jedoch ansprechbar und resonanzfähig. Er ist sicher in der Lage, gute Vorsätze zu fassen, er bedarf allerdings zur Durchsetzung dieser Vorsätze einer verständnisvollen Führung und Anleitung.“ Siegel, Stempel und Unterschrift vervollständigen den Beschluß, der dem Urteil beigelegt wird. Die Akten schließen sich über der traurigen Geschichte von zehn nächtlichen Raubzügen gegen das verwertbare Innere parkender Personenkraftwagen. Der Senat bleibt sitzen. Der Gerichtsdiener läßt den nächsten Angeklagten herein. Das Jugendgericht hat Arbeit genug. Die Missetäter aus den starken Jahrgängen treten vor seine Schranken. *

DER ANGEKLAGTE WIRD NOCH EINIGE ZEIT WARTEN MÜSSEN, bis er die viereinhalb Monate strengen Arrests verbüßt hat. X. Y. aber kann nicht mehr warten. Unter der heutigen Post, die der Heimleiter durchsieht, ist ein Brief des Sozialen Dienstes einer Männerstrafanstalt. „Lieber Herr Reindl“, lautet er, „in letzter Minute hat sich ergeben, daß X. Y. nicht bei seiner Schwester wohnen kann, da diese delogiert wurde und nach Auskunft des Zentralmeldeamtes derzeit unbekannten Aufenthaltes ist. Er weiß nun nicht, wo er die ersten Tage nach der Haftentlassung wohnen kann. Die Eltern sind bereits verstorben, mit anderen Geschwistern ist er nicht in Verbindung. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie den jungen Mann wenigstens für ein paar Tage “in'Ihr Heim aufnehmen könnten Bei dem genannten Jugendlichen handelt es sich wohl um einen typischen Fall von Milieuverwahrlosung. Er war seinerzeit schon in Eggenburg. Der Genannte ist jedoch gut kontaktfähig und scheint bei richtiger Führung einer positiven Beeinflussung zugänglich.“ Dazu ein kleiner Paragraphenkranz, weswegen die 18 Monate waren und weswegen die vier Vorstrafen.

Der Heimleiter legt den Brief zur Seite und merkt einen jungen Menschen zur Aufnahme

vor. Bald wird X. Y. an der kleinen Pforte läuten. Klein wie die in der Downing Street Nr. 10, unendlich unwichtiger im allgemeinen, unendlich wichtig für das Menschenleben, das hier mit dem Koffer in der Hand einzieht. Hier wird mitunter eine Weiche gestellt. Hier hat jeder eine Chance ...

*

DIESES CARITASHEIM, 1952 errichtet und nun für den Aufenthalt von 60 Mann ausgebaut, um in seinem neuen, von Prof. Rainer erbauten Teil durch Erzbischof Dr. König in Anwesenheit von Justizminister Dr. Tschadek eingeweiht und eröffnet zu werden, ist — so sonderbar das klingt, das einzige seiner Art in ganz Oesterreich.

Und mit einem Male hat man alles wieder im Ohr und vor Augen: die Rede des Bundeskanzlers über den Strafvollzug bei Jugendlichen, eine Stellungnahme des Justizministers, einen Zusatz des ersten Wiener Vizebürgermeisters, eine Erklärung des Polizeipräsidenten, das Wortgeschwirre der Symposien, Leitartikel, Leserbriefe, und von Stammtischen, Bahnabteilen und anderen Gesprächsorten her das anschwellende Gemurmel des Volkes. Das Thema der sogenannten „Halbstarken“ und der kriminellen Jugendlichen ist vordergründig geworden, fast ein Thema Nr. 1.

Die Caritas ist Helfer, nicht Richter. Wer hilft, befürsorgt. Wer für andere sorgt, hat es schwer. Wer fürsorgt, kann leicht einen kleinen Fehler machen, eine persönliche Lage falsch einschätzen, einem Mitmenschen, der es übel meint, aufsitzen. Das kann auch der öffentlichen Fürsorge passieren (und es passiert ihr auch).

Mag sein, daß jemand angesichts des Jugendheimes'sagen möchte: „Für was die Caritas alles Geld übrig hat! Für solche Buam Gewiß,

dies ist, wie gesagt, das einzige Heim seiner Art im Staate, von der sogenannten prifaten Fürsorge geschaffen, und schließlich — man könnte es auch anders machen. Aufschließen da? Gefängnistürl, herauslassen den Burschen, mag er nun hin, wohin er will, seine Freiheit genießen... Eine Freiheit wozu?

*

UND SO GESCHIEHT ES AUCH. Denn es gibt mehr Strafentlassene, als im Caritasheim Platz finden. Und nun, außerhalb der Strafanstalt, außerhalb von Kaiser-Ebersdorf und Eggenburg, kommt es dann zur großen Bewährung. „Wissen Sie“, sagte ein Entlassener, „meine eigentliche Straf beginnt erst bei der

Haftentlassung, denn solange ich im Gefängnis war, habe ich Essen, Kleidung' und Wohnung gehabt.“

Und nachher? Welche Wohnungsvermieterin gibt einem Strafentlassenen schon gern ihr Kabinett? Und wenn: Welche verlangt den Zins nicht im voraus? Und welches Gasthaus gibt Essen bis.zum ersten Verdienst nach der Steh-woche? Und wer gibt das Geld für Frühstück und Jause, für Bad, Seife, Wäsche, für Briefmarken und andere Kleinigkeiten? In den Augen der Umwelt ein Zuchthäusler, zumindest ein Tunichtgut, einer, von dem man sich hüten muß. In den Augen der Gescheiterten einer, der mit Gewalt hinuntergezogen werden muß, wenn sie seiner wieder habhaft werden, denn das Leben — ihr Zeigefinger — ist voller Dämonie, gegen die etwas getan werden muß.

DAS FÜRSORGEHEIM FÜR JUGENDLICHE ist ein offenes Wohnheim. Wer hier einzieht,

soll rasch in den Arbeitsprozeß eingegliedert, die Brücken zum besseren Leben müssen geschlagen werden. Die erste Chance besteht in der Bewährung auf dieser Heimbrücke, die zweite im Bestehen nach dem Ausscheiden.

Im Heim zählen fremde Befürwortungen und mitgebrachte Beschreibungen nichts. Es gilt, was ist. Es ist alles da, was der junge . Mensch braucht, um seinen Weg zu finden. Nahrung und Kleidung, das notwendige geregelte Leben als Voraussetzung für einen sittlichen „Zellwuchs“ in Ruhe, bewahrt vor der Sorge um das tägliche Leben, das gute Wort des Heimleiters, die Freizeitgestaltung, die Diskussion mit Gästen, die Rede eines Vortragenden. Glaubensgut wird in kleinen Dosen angeboten. Wo käme man hin mit einem Zwangsgottesdienst bei innerem Widerspruch. Gott kommt “nicht durch Nürnberger Trichter, und das Damaskutor ist nicht für jedermann. Und wer will, kann abends weggehen. Das Heim ist, wie gesagt, ein offenes Wohnheim. Es kam vor, daß Insassen, im Drang, nach der Haft etwas nachzuholen, sonntags viermal ins Kino gingen — es gibt deren in der LImgebung genug.

So lebt der Bursch und arbeitet, geht in der Früh, kommt abends, ist ruhig, zahlt regelmäßig, nimmt pünktlich sein Essen ein, verbringt einen Großteil der Freizeit im Heim — und das Leben in der freien Gemeinschaft tut ihm wohl. Es ist auch, als Ergänzung zum Heimleiter, eine tüchtige Heimmutter im Hause. Selber eine Mutter, die Söhne großzog. Und in diesen Wochen des Hierseins entscheidet sich — in aller Stille vielleicht am meisten — der Weg durch ein ganzes langes Leben.

*

UND JETZT KOMMT DIE BITTERE WAHRHEIT: nur für ein Drittel der Insassen ist dieses Heim die Brücke zum guten Leben. Zwei Drittel vergessen ihren Wert. Einzelne verlassen das Heim frühzeitig, die anderen geraten später wieder in das Unregelmäßige, in die Verwahrlosung, in alte, böse Freundeskreise, leben von Gelegenheitsarbeiten, verüben kleine Diebstähle, lassen sich von zweifelhaften Frauen aushalten, sinken und sinken, verfallen der Dämonie des Untergrundes. Aber um des Drittels willen, das nachher gute Briefe an den Heimleiter schreibt, sich gerne an das Heim erinnert, Photos und Heiratsanzeigen schickt oder bittet, bei einer Wien-Fahrt im Heim übernachten zu dürfen, „obwohl ich mir ein Hotel ohne weiteres leisten kann, aber dorthin nicht will“ — um des geretteten Drittels willen sind die Kosten für so ein Heim nicht zu hoch, bedürfte es solcher Heime in jedem Bundesland, bedürfte es der Subvention, der materiellen Unterstützung des Staates für dieses Heim.

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