"Wer jetzt noch sieht, wird leben"

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Der Schriftsteller Fred Wander ist tot. Ein Nachruf auf einen Freund.

Weißt du", erzählt mir Fred Wander am 18. März 2000 in einem Wiener Café unweit seiner Wohnung, kurz nachdem Schüssel, und damit Haider, an die Macht gekommen ist, "meine Schwester und ich haben bereits früh in unserer Kindheit zu lesen begonnen. Die russischen Klassiker vor allem, die wir beim Vater gefunden haben. Mit zehn Jahren schon Anna Karenina oder Der Idiot, stell dir das vor, und im Grunde nur, weil wir in diesen Büchern etwas über die Sexualität herausfinden wollten, die für uns ein großes Geheimnis war." Mit den Büchern, sagt Wander, habe er immer gelebt, selbst im Lager, sie hätten in ihm gelebt. "Und dann gab es im Lager die Bibelforscher, die Zeugen Jehovas, die immer Stückchen der Bibel hatten und diese auch weitergaben. Da hab ich viel drin gelesen."

Vorahnungen im Lager

"Und natürlich auch die Musik", fügt er hinzu und schließt seine Augen, vermutlich um sie zu hören, "auch die Musik: Schubert, Schumann. Im französischen Lager hab ich eine Pfeife gefunden, 1942, und da haben mich Ahnungen befallen. Und dann hab ich den Kopf der Pfeife verloren." Und er öffnet seine Augen wieder. "Da hab ich die Musik verloren, weißt du, in mir keine Musik mehr gespürt. Und zwei Monate später wurde ich deportiert. Später, es war in Auschwitz, fand ich genau diesen verlorenen Teil der Pfeife. Da fasste ich Hoffnung", sagt mir Fred Wander und lächelt. "Und auch die Musik war wieder da."

Wann immer man sich früher mit Fred traf, lud er einen auf einen Spaziergang ein. Das Laufen, das Flanieren - das seien unterschiedliche Dinge, betont er - ist ihm immer wichtig gewesen. "Warum, glaubst du, hab ich mir den Namen Wander ausgesucht? Und zum Wandern gehört das Schauen. Immer war mir das Schauen, das Betrachten, von größter Bedeutung. Nicht nur Menschen. Etwa, wenn Susanne und ich in den Wald gehen, dann betrachten wir die Bäume. Krüppel gibts unter den Bäumen und voll ausgewachsene, wie bei den Menschen. Solche Analogien sind offensichtlich und wichtig. Und die Schönheit der Bäume. Und jeder hat seine Originalität, seine Lebenskraft. Bei den Bäumen", sagt er und blickt mir tief in die Augen, "bei den Bäumen gibt es Brüche - wie bei Menschen." Für ihn ist das Sehen von ganz spezieller Bedeutung.

"Im kz habe ich die Ereignisse mit tiefer Gelassenheit beobachtet," fügt Fred Wander nach kurzer Pause hinzu, und jetzt scheint er ganz weit weg zu sein und doch ist er so präsent. "Einmal war ich zur Erschießung vorgesehen", sagt er wie beiläufig, "und das Erschießungskommando, es bestand aus zwei Soldaten, ist schon einmal mit mir angetreten. Aber ich verspürte keine Angst. Irgendwie überwog das Interesse an den Menschen, die Faszination für Menschen, die solches auszuführen hatten." Er sei, so sagt er, fast mit der wissenschaftlichen Neugier des Psychologen an den ss-lern brennend interessiert gewesen. Solche Feststellungen, denke ich mir, wenn sie aneinander gefügt sind, führen dann zu einem Meisterwerk wie Der Siebente Brunnen. Man müsste alles, was er einem erzählt, aufnehmen.

Die Assoziationsmechanismen, die ein solches Leben in Gang setzt. "Einmal", so schließt er an, "wurde ich in der ddr von der stasi um Mitarbeit gebeten. Ein paar Mal traf ich mich mit dem Mitarbeiter, weil ich so fasziniert war von Menschen, die sich für so etwas hergeben." Wieder das konzentrierte Schauen: Er wollte sie beobachten, studieren. Für sie zu arbeiten, hat er sich geweigert.

Menschenbeobachter

Aus Notizen mit Gesprächsfetzen und zwischengeschobenen Beobachtungen versuche ich einen Nachruf zu schreiben auf einen Freund, der, das wusste ich schon lang, aber jetzt, wenige Tage nach seinem Tod, noch deutlicher, einer der Wichtigsten war. Einen Nachruf, der Fred Wander selbst zu Wort kommen lässt. Das ist besser, denn wenn ich über ihn schreibe, spricht er ohnehin durch mich. Wenn man ihm einmal zugehört hat, vergisst man ihn nicht mehr.

1942, er war in Auschwitz, machten sie einen Nachtmarsch zu einem anderen Lager. "Diese Märsche waren gefürchtet und gefährlich", sagt er, "denn wenn jemand nicht mehr konnte, wurde er sofort erschossen. Auch Hinfallen konnte sofort mit einem Schuss enden. In den Strahlen der ersten Morgensonne kamen wir durch eine Stadt. Nur wenige Menschen sahen wir, die blickten neugierig aus dem Fenster. Es war eine fantastische Szene - diese Gruppe von Menschen in diesem merkwürdigen Licht, ganz allein durch die Stadt gehend. Da blickte ich um mich", erinnert sich Fred, und man merkt, dass ihn diese Erinnerung anstrengt und der leichte Wienerische Klang, der ihn manchmal, besonders im Kaffeehaus, auszeichnet, ist vollkommen weg, "da blickte ich um mich und sah, dass die meisten Gefangenen zu Boden blickten - wegen der Angst, hinzufallen, weil sie müde waren, warum auch immer. Alle blickten sie zu Boden. Nur ein anderer sah auch um sich, beobachtete wie ich, ein russischer Arzt, Wladimir. Wir sahen uns an und Wladimir sagte zu mir: Wer jetzt noch sieht, wird leben."

Fred Wander hat gelebt, geschrieben, gedacht, getröstet - bis jetzt. Jetzt müssen wir ohne ihn weiterleben.

Der Autor ist Buchautor (siehe unten) und Professor am Institut für Anglistik der Uni Dortmund.

Fred Wander

Leben und Werk

Hg. von Walter Grünzweig und Ursula Seeber

Weidle Verlag, Bonn 2005

255 Seiten, brosch., e 23,70

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