Wer schlug Kinder? Alle

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Paulus Hochgatterer versetzt sich in die Psyche traumatisierter Kinder.

„Ich blicke zurück auf unsere Fußspuren und erzähle die Geschichte eines kleinen Pelikans, der von den Menschen gefangen gehalten wird und eines Tages beginnt, in seinem Kehlsack Gegenstände zu sammeln … Mit Hilfe dieser Dinge gelingt ihm schließlich die Flucht.“ Das Pelikanmotiv zieht sich leitmotivisch durch Paulus Hochgatterers beklemmenden Roman, der sich der krassesten Form sexueller Ausbeutung von Kindern widmet. Zwei indische Mädchen als „Pflegekinder“ in einer österreichischen Provinzstadt – wer möchte da, selbst als die jüngere plötzlich verschwindet, etwas Böses wähnen!

Hochgatterer, der als Kinderpsychiater arbeitet, übernimmt aus „Die Süße des Lebens“ (2006) nicht nur die fiktive Kleinstadt Furth am See sowie zwei Hauptprotagonisten, den Berufskollegen Horn und Kommissar Kovacs, sondern auch das bewährte Kompositionsprinzip: Alternierend wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt, wobei es dem Leser überlassen bleibt, daraus die Kerngeschichte herauszuschälen. Das erfordert einiges an Aufmerksamkeit (oder Zurückblättern), da bei erster Lektüre relevante Hinweise leicht übersehen werden. Das Lesen gleicht somit der Arbeit des Psychiaters wie auch der des Kriminalisten, die versuchen herauszufinden, „wie es denn gewesen sein muss“, jedoch beide bis zum Schluss im Nebel fischen, da sie allzu sehr von ihren privaten Problemen abgelenkt sind.

Die dritte Stimme gehört der Volksschullehrerin Stella, deren Geschichte im Präsens geschildert wird. Neben anderen irritierenden Vorkommnissen wurde ein Volksschüler geschlagen; nicht fest, aber doch. Der Täter lässt sich nicht eruieren und die Polizei wendet sich mit der Bitte um Mithilfe an den Psychiater Horn. Doch der Bub, der im Übrigen nicht besonders traumatisiert wirkt, sondern eher so, „als habe er ein Versprechen abgelegt“, schweigt beharrlich. Es bleibt bei keinem Einzelfall, ein Muster wird erkennbar, aber der Kreis der Verdächtigen bleibt unbestimmt, denn: „Wer schlug Kinder. Alle.“ Das muss sich nicht nur Kovacs, sondern auch Horn eingestehen.

Das eigentliche Verbrechen findet jedoch unbemerkt und in Permanenz hinter der Fassade des „Matratzenhauses“ statt. Von hier berichtet – als Einzige in der Ich-Form – die 13-jährige Fanni, die ebenfalls aus Indien „adoptiert“ wurde, doch spart sie ihr eigenes Martyrium weitgehend aus.

Dem Autor kommt hier zweifellos zustatten, dass er sich von Berufs wegen in die Psyche traumatisierter Kinder hineinversetzen kann und die schwierige Materie deshalb unter Vermeidung jedes peinlichen Voyeurismus’ in adäquater Sprache souverän meistert. Fanni möchte ihre jüngere Schwester vor dem Schlimmsten bewahren. Und als dies misslingt, tut sie etwas, wozu Kinder in ihrer Lage gewöhnlich nicht in der Lage sind: Sie beschließt, sich an dem, den sie Bill nennt, zu rächen …

Selbst wenn diese Rache nur literarische (und von Quentin Tarantino filmisch inspirierte) Fiktion bleibt, so lässt sie Hochgatterers ebenso präzisen wie schmerzhaften Text mit dem Hoffnungsschimmer enden, dass zumindest Fanni die Flucht gelungen ist. Der Pelikan fliegt nach Hause.

Das Matratzenhaus

Roman von Paulus Hochgatterer

Zsolnay 2010

294 S., geb., e 20,50

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