Wer sich der eigenen Endlichkeit bewusst ist, erntet Lebensfreude

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Die evangelische Theologin und Psychotherapeutin Anita Natmeßnig setzt sich in Film und Büchern mit der Hospizarbeit - und dadurch mit Sterben und Tod auseinander. Das Gespräch führte Elisabeth Gamperl

Anita Natmeßnig spricht gern über den Tod. Die evangelische Theologin und Psychotherapeutin hat in ihrem Buch "Zeit zu sterben - Zeit zu leben“ (Styria premium 2010) einen Einblick in die Welt der Hospizarbeit gegeben. Dieser Tage erschien die überarbeitete Taschenbuch-Ausgabe "Was zählt, ist dieser Augenblick.“ Auch im Dokumentarfilm "Zeit zu gehen“ (2006) begleitete sie sterbende Menschen im Caritas Socialis Hospiz Wien Rennweg.

Die Furche: In Ihrem Buch "Was zählt, ist dieser Augenblick - Leben lernen im Hospiz“, erkennt man Ihre Faszination für den Tod. Was interessiert Sie so am Sterben?

Anita Natmeßnig: Sterben ist das Einzige im Leben, das wir wirklich müssen. Dennoch ist das Thema weitgehend tabu. Als Theologin faszinieren mich die großen Fragen des Lebens und damit auch das Wissen um meine eigene Endlichkeit.

Die Furche: Warum ist das immer noch so?

Natmeßnig: Aus vielen Gründen. In unserer leistungsorientierten Gesellschaft gelten Krankheit, Sterben und Tod als Schwäche und erhalten wenig Raum. Kranke und alte Menschen werden an den Rand geschoben und sterben überwiegend in Institutionen. Da die Kirchen an Stellenwert verloren haben, schwindet auch das Bewusstsein, dass wir mehr sind als unser Körper.

Die Furche: Hilft Religion beim Sterben?

Natmeßnig: Eine persönliche Spiritualität kann hilfreich sein, denn die Religionen bieten Antworten. Eines hat mich während meiner Dreharbeiten im Hospiz jedoch verblüfft. Wer nicht schon einer Religion anhing, wird auch am Sterbebett nicht religiös. Nicht Theologie oder große Worte zählen am Ende, sondern Leben bis zum letzten Atemzug und das Da-Sein der Begleitenden.

Die Furche: Welche Bedeutung hat Lebensqualität am Sterbebett?

Natmeßnig: Lebensqualität ist für jeden Menschen etwas anders. Für manche im Hospiz bedeutet es, an einem warmen Herbsttag mit dem Bett auf die Terrasse geschoben zu werden, um noch einmal den Himmel zu sehen und den Vögeln zu lauschen. Oder einer der Protagonisten im Film wollte ein Himbeerjoghurt essen. Es gab aber nur Erdbeerjoghurt. Lebensqualität hieß, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

Die Furche: Und wenn es der Wunsch ist, sich mittels Sterbehilfe "erlösen“ zu lassen?

Natmeßnig: Ich bin - wie die Hospizbewegung - gegen jede Form von Euthanasie und Beihilfe zum Suizid. Es besteht die Gefahr des Missbrauchs und dass Kranke sich unter Druck gesetzt fühlen, weil sie ihren Angehörigen nicht zur Last fallen wollen. Außerdem zeigen Hospizerfahrung und Statistik, dass der Wunsch zu sterben zumeist versiegt, sobald Schmerzen gelindert wurden.

Die Furche: Wie gehen Sie mit Sterbenden um - Stichwort Mitleid und Mitgefühl?

Natmeßnig: Die Unterscheidung von Mitgefühl und Mitleid ist zentral, um im psychosozialen Feld arbeiten zu können - ohne ins Burnout zu geraten. Wenn ich Mitleid empfinde, dann leide ich mit, fühle mich vielleicht hilflos, habe Angst oder will etwas ändern. Insofern ist Mitleid "persönlich“, Mitgefühl jedoch "überpersönlich“. Ich kann mich vom Leid des anderen berühren lassen, aber ich übernehme es nicht. Wenn ich mir bewusst bin, mehr zu sein als das, wofür ich mich halte, bin ich zu Mitgefühl fähig.

Die Furche: Wie kann man schwer kranken Menschen helfen?

Natmeßnig: Zum Beispiel dadurch, angemessene Fragen zu stellen. Viele getrauen sich etwa nicht, den bevorstehenden Tod oder das Begräbnis anzusprechen. Angehörige wollen den Sterbenden schützen und umgekehrt. Damit wird oft kostbare Zeit versäumt und zugleich auch die Chance, die letzten Wünsche zu erfüllen.

Die Furche: Wie geht man mit Trauer um?

Natmeßnig: Es ist hilfreich, bewusst Abschied zu nehmen und Trauer zuzulassen. Dann kann Trauer zu Dankbarkeit und Verbundenheit über den Tod hinaus führen. Wenn Trauer jedoch nicht gelebt wird, kann sie sich in Depression verwandeln. Grundsätzlich gilt: Trauer braucht Zeit.

Die Furche: Kann sich der Mensch auf den eigenen Tod vorbereiten?

Natmeßnig: Meiner Meinung nach: ja. Wer sich der eigenen Endlichkeit stellt, verliert Angst und gewinnt Lebensfreude. Wenn ich mich immer wieder daran erinnere, dass meine Zeit in diesem Körper und auf Erden begrenzt ist, ist das wie ein Aufwachen. Für mich persönlich folgen daraus auch Dankbarkeit und Freude.

Die Furche: Denken Sie oft über Ihren eigenen Tod nach?

Natmeßnig: Ich denke viel über das Leben nach. Seit meinem Kinofilm "Zeit zu gehen“ über unheilbar krebskranke Menschen im Hospiz lautet mein Lebensmotto: "Zeit zu leben - jetzt“. Dazu zählt unter anderem, meine Träume mutig zu verwirklichen und nicht aufzuschieben auf den Sankt Nimmerleinstag oder bewusst Abschied zu nehmen von Lebensphasen, Dingen und Beziehungen. Mir geht es darum, möglichst präsent zu sein, sprich in der Gegenwart zu leben.

Was zählt, ist dieser Augenblick

Leben lernen im Hospiz Von Anita Natmeßnig

Herder Spektrum, 2012. 207 Seiten, Taschenbuch, e 10,30

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