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Digital In Arbeit

Wer zu spat kommt, den bestraft...

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Mehr Zeit als früher haben angeblich die Menschen unserer Zeit: mehr Lebenszeit, mehr Freizeit. Warum wird trotzdem vielen die Zeit zu knapp?

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Mehr Zeit als früher haben angeblich die Menschen unserer Zeit: mehr Lebenszeit, mehr Freizeit. Warum wird trotzdem vielen die Zeit zu knapp?

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Wenn Sie diesen Artikel, ja womöglich das ganze Dossier, lesen, kostet Sie das Zeit. Vermutlich werden Sie daher schon jetzt, bei den ersten Zeilen, überlegen: Wird sich die I .ektüre lohnen? Und lohnen heißt heute in der Regel: Kann ich das Gelesene dann auch praktisch verwerten? Hat es für mich Nutzen?

Moment ist diese Fragestellung nicht bereits die Frucht eines mit Zeit verbundenen Regriffes, des schönen Wortes „Zeitgeist”? Müßte die Fragte nicht mehr der Sinnhaftigkeit als dem praktischen Nutzen einer Tätigkeit gelten? Kann nicht auch manches viel Sinn ergeben, was keinen unmittelbaren Zweck hat? Oder ist uns diese Retrachtung heute, wo zum Reispiel Rildung immer mehr mit Ausbildung gleichgesetzt wird, schon ganz fremd geworden?

Kein Zweifel: Zeit ist kostbar, denn nichts kehrt auf die gleiche Art wieder' vergeudete Zeit gibt einem niemand zurück. Aber der hektische Versuch, jede Sekunde „effizient” zu verwenden - sei es zur Arbeit, sei es zur Unterhaltung - ist äußerst fragwürdig. Muß es so sein, daß der volle Terminkalender, das ständige Im-Streß-Sein heute geradezu als Statussymbole des erfolgreichen Zeitgenossen empfunden werden?

Zeit hat viel mit Geduld und Ungeduld zu tun. Der moderne Mensch ist gierig und ungeduldig: Er will alles und das sofort. Geschwindigkeit bestimmt sein Leben: Wer im Sport um Sekundenbruchteile schneller am Ziel ist, siegt. Unsere Epoche ist geprägt von zwei Slogans: Zeit ist Geld. Und: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Die Weltgeschichte könnte uns freilich auch Reispiele liefern, daß Leute, die mit ihren Ideen zu früh dran waren, gescheitert sind. Das alttestamentarische Ruch Kohelet betont, daß alles seine Stunde, seine bestimmte Zeit hat.

Alles hat seine Stunde

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte 7,eit: eine Zeit zum Gebären und eine zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine zvim Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tan/.; eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.

Altes Testament, Kohelet, J, 1 8 '

Redaktionelle Gestaltung: Heiner Boberski

Zeit ist nicht nur, wie uns die Physiker seit Albert Einstein belehren, etwas Relatives, sie relativiert auch selbst alles andere. Man mag Macht haben, Reichtum, Gesundheit, Jugend, Schönheit, Freiheit - dahinter wird immer die Frage stehen: Wie lange noch? Denn wie sagte schon Johann Nestroy im „Talisman” so treffend: „Ja, die Zeit, das ist halt der lange Schneiderg'sell, der in der Werkstatt der Ewigkeit alles zum Ändern kriegt. Manchsmal geht die Arbeit g'schwind; manchmal langsam, aber fertig wird's, da nutzt amal nix, geändert wird all's!”

Zeit ist - innerhalb eines bestimmten Systems einteilbar, meßbar, berechenbar; man kann ihren Ablauf mittels Kalendern oder Uhren (am augenfälligsten wohl mit der Sanduhr) darstellen. Aber was im Laufe der Zeit geschieht, entzieht sich jeder Berechnung, und genau das macht Zeit wahrscheinlich so faszinierend. Denn die Existenz von Zeit bedeutet auf jeden Fall keinen Stillstand, sondern Entwicklung und Veränderung und somit Chancen und Gefahren.

Für die, denen es gerade sehr gut geht, müßte Zeit Grund zur Sorge sein, denn sie müssen damit rechnen, daß für sie eher schlechtere läge kommen werden. Für jene aber, die am Verzweifeln sind, bedeutet Zeit Hoffnung auf Resserung, auch Zuversicht gemäß dem Sprichwort: Zeit heilt alle Wunden. Hier taucht in der Auseinandersetzung mit dem Regriff Zeit auch eine religiöse Dimension auf. Worauf kann zum Reispiel ein dem Tode naher Mensch noch hoffen?

Nach dem Glauben der monotheistischen Religionen darauf, daß es nach Ablauf seiner Lebenszeit noch eine Wirklichkeit gibt, in der diesseitige Zeitbegriffe und Uhren keine Re-deutung mehr haben. Nach anderen religiösen Auffassungen steht ihm zumindest eine Art Wiedergeburt (Reinkarnation) und damit eine neue irdische Lebenszeit offen. AVer diese

Der Slogan „Zeit ist Geld” erklärt die Hektik unserer Zeit, und unsere Lebenszeit ist begrenzt...

Fotos Nou.(4), Mihr.s, Becsikickh

Hoffnungen nicht hat, der wird umso eher geneigt sein, während seiner Lebenszeit ungeduldig dem Glück hinterherzurennen, vielleicht aber auch mehr bemüht sein, Augenblicke der Zufriedenheit festzuhalten, auszukosten, weil sie eben unwiederbringlich sind. Vielleicht sind auch deshalb literarische Werke oder Filme über „Zeitreisen” in eine andere Epoche so reizvoll.

Rekanntlich existiert in Österreich bereits ein Verein mit dem Namen,,Tempus - Verein zur Verzögerung der Zeit”. „Wir wollen nicht die Zeit verzögern, sondern wir wollen sie bewußter machen und gestalten”, erläuterte Vorstandsmitglied Guido Heintel, Erziehungswissenschaftler an der Wiener Universität (Fl KCHK 13/1996). Und der bewußte Umgang mit Zeit erscheint heute, wo zum Reispiel ein Viertel bis ein Drittel der Freizeit dem TV-oder Videokonsum gewidmet ist, ein sehr wichtiges Gebiet.

Rainer Maria Rilke erzählt in den „Aufzeichnungen des Malte laurids Rrigge” (lange vor Michael Endes „Momo” zum gleichen Thema) von einem russischen Reamten, der sich eines Tages ausrechnet, welch schwindelnde Summe an Sekunden er noch zu leben hätte.

Er überlegt, wie kostbar so viel Zeit sei, wie leicht man bestohlen werden könnte und ob er nicht Zeit sparen und auf einer Zeitbank umwechseln könnte:

„Er stand früher auf, er wusch sich weniger ausführlich, er trank stehend seinen Tee, er lief ins Rureau und kam viel zu früh. Er ersparte überall ein bißchen Zeit. Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, daß er betrogen sei.” Was Sparen und Zinsen betrifft, ist Zeit doch nicht Geld.

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