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Werde, der du bist

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Menschliche Reife: die große Dichterin Selma Lagerlöf hat diese Reife als höchstes erreichbares Erdenziel betrachtet, den tiefsten Sinn des menschlichen Lebens: „Die Menschen sollen sich nicht nur Macht, ein langes Leben oder Reichtum wünschen, sondern die Hände falten und Gott bitten: Gott, großer Gott,'laß meine Seele zur Reife kommen, ehe sie geerntet wird.“

„Werde, der du bist!“ Dem Menschen ist die Aufgabe gestellt, die Anlagen, die in ihm liegen, zu entfalten, den Keim zur Blüte und zur Frucht zu bringen. Dazu ist ihm die Lebenszeit gegeben, das Reifen ist die große Lebensaufgabe des Menschen hier auf Erden. Hier wird das Reich Gottes begründet: „Das Reich Gottes ist in euch!“, sagt der Herr.

Nicht jedes Zeitalter ist diesem Reifen günstig; Reifen erfordert die Zeit und den Willen zur Selbstbesinnung; Beides fehlt den Menschen unseres technischen Zeitalters. Der rasende Betrieb höhlt sie innerlich aus, verzehrt ihre innere Kraft. Wie Richard Dehmel es ergreifend ausspricht:

„Ich habe ein Weib, ich habe ein Kind,

Wir haben Arbeit sogar zu zweit.

Uns fehlt nichts, um glücklich zu sein,

— nur Zeit.“

Und gerade in unserem Zeitalter des stürmischen, rasenden technischen Fortschrittes, der die Menschen kaum noch zur Besinnung kommen läßt, wächst das Lebensalter der Menschheit um Jahrzehnte, erhöht sich die Lebenserwartung, schiebt sich zwischen das Vollalter und die Hilflosigkeit der Vergreisung eine Zeit voller Rüstigkeit ein, in der der Mensch Zeit hat, am Kulturleben teilzunehmen, geistige Inhalte aufzunehmen und zu verarbeiten und sich auf die wesentlichen Lebensaufgaben des Menschen einzustellen. Jetzt hat er Zeit, Erlebens- und Einstellungswerte zu verwirklichen, nachdem seine Berufs- und Familienpflichten erfüllt sind. Das ist vielleicht der tiefste Sinn der zunächst rätselhaften Lebensverlängerung in einer Zeit, die vor dem Alter keine Ehrfurcht hat und die Sorge für die Alternden als schwere Belastung empfindet. Soll hier nicht durch zwei ruhigere Jahrzehnte ein Gegengewicht gegen die Gefahren des technischen Zeitalters für den Menschen geschaffen werden, weil Jugend und Vollreife zur seelischen Entfaltung des Menschen weder Zeit noch Kraft mehr haben?

Mit dem Lebensalter hat auch die Vitalität der Menschen zugenommen. Die „schlohweiße Großmutter“ der Selma Lagerlöf, die so wunderschön den Kindern erzählen kann, daß sie gar kein Spielzeug wollen, gehört ebenso der Vergangenheit an wie der Siebzigjährige des Dichters Voß, der „auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens sitzt“ („Der siebzigste Geburtstag“).

Der Ablauf des Menschenlebens war immer das Hauptrhema der Meisterwerke der Dichtung. Dichtung ist ja im wesentlichen Bruchstück einer „großen Konfession“ (Goethe) oder „Gerichtstag über sich selbst“ (Ibsen). Der Dichter ist von dem Werk kaum ganz zu trennen. Das Ringen des großen Menschen Goethe um Lebensreife hat seinen Niederschlag im „Faust“ gefunden, seinem Lebenswerk, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet hat. Wie kaum ein anderer hat Goethe die Zwiespältigkeit des Menschseins erfahren:

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ klagt Faust. Die eine klammert sich an die Sinnenwelt, sucht Verjüngung, Genuß und entscheidet sich für den Teufelspakt und die Verjüngung in der Hexenküche. „Das Jenseits will mich wenig kümmern.“ Mephisto schleift Faust durch die kleine Welt des sinnlichen Genusses und die große Welt der Macht und Geltung — nichts befriedigt ihn. Die Schuld am Untergange Gretchens wird für Faust zur felix culpa, weil sie seine Reue weckt, ebenso wie der durch die drei Gewaltigen verursachte Tod von Philemon und Baucis durch die Reue, die Faust empfindet, ihn veranlaßt, seinen Bund mit der Magie, den Teufelspakt, zu verwünschen und sich innerlich davon zu lösen. Auch Goethe selbst hat im letzten Dezennium seines reichen Lebens das Ringen um die ewige Jugend siegreich abgeschlossen und ist in seine reifste Zeit eingetreten, deren wundervoller Glanz uns aus seinen Altersbildern und aus seinen Aussprüchen entgegenstrahlt. Daß ein großer Dichter, Gerhart Hauptmann, die vorletzte Phase von Goethes Ringen in seinem Drama „Vor Sonnenuntergang“ festgehalten hat und den Helden den Tod suchen läßt, als seine erwachsenen Kinder seiner Verbindung mit dem Mädchen Inke nicht zustimmen, hat dazu beigetragen, den großen inneren Sieg Goethes über sein Karlsbader Erlebnis zu verschleiern. Goethe hat sich aber in Wirklichkeit zu vollem Verzicht aufgerafft und ganz der Vollendung seiner Werke gelebt. Schwere Verluste trafen ihn. Alle seine Freunde wurden vor ihm abberufen. Auch seine Gattin starb, und sein Sohn August verschied auf einer Italienreise und wurde in Rom an der Pyramide des Cestius begraben: Patri antevertens — dem Vater vorausgehend. Inmitten dieser Schicksalsschläge reift Goethe zu innerer Größe heran. Alle Besucher sind von seiner inneren Schönheit tief ergriffen, die uns auch aus den Altersbildern und Büsten entgegenblickt. Eine Zeichnung von Schwertgeburth zeigt ihn im letzten Lebensjahre, das Auge in die Ferne gerichtet. Ein Livländer Kaufmann, der ihn besuchte, Konstantin von Weltzien, schildert den Eindruck mit folgenden Worten: Sein Gesicht hat einen außerordentlichen Ausdruck — etwas ganz Unnennbares, wie es Männern eigen zu sein pflegt, die durch vielfältige Erfahrungen und Schicksale und gleichsam im Kampf durch das Leben gegangen sind und nun im Gefühl ihrer wohlerhaltenen Integrität mit beneidenswerter Ruhe der Zukunft entgegensehen. In diesen Ausdruck mischt sich bei Goethe ein unverkennbarer Zug von Herzensgüte und zugleich ein anderer von besiegter Leidenschaftlichkeit.“

Nach dem schwersten Verlust, dem jähen Tode des einzigen Sohnes, schrieb der völlig vereinsamte Goethe an Zelter:

„Hier nun allein kann uns der große Begriff der Pflicht aufrecht halten. Ich habe keine andere Sorge, als mich physisch im Gleichgewicht zu erhalten. Alles andere ergibt sich von selbst. Der Körper muß, der Geist will, und, wer seinem Willen die notwendige Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht viel zu besinnen.“

„Wer seinem Willen die notwendige Bahn vorgeschrieben hat.“ — Geistige Reife ist das Ergebnis richtiger Lebenshaltung von Jugend an. Sie erwächst wie die Frucht aus der Blüte. Zahlreiche wundervolle Aussprüche Goethes aus seinem Alter beweisen seinen tiefen Glauben an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Seine tiefgläubige Mutter hat ihm neben ihrer Frohnatur auch ihr Gottvertrauen vererbt, das Goethe bis zuletzt aufrecht erhielt.

Der Verlust dieser Gläubigkeit hat dann die Menschen des 19. Jahrhunderts immer tiefer verarmen lassen. Der Mensch war auf sich selbst gestellt. In der Vitalität der Jugend- und Mannesjahre erschienen ihm beruflicher Erfolg und der Aufbau einer Familie als vollwertiges Lebensziel. In der LebenEim'tte bei beginnendem Abstieg in das abendliche Tal versagte allmählich seine Lebenskraft und .damit auch Erfolg u. J Familienglück. Eine unendliche Leere blieb zurück. Diese innere Tragödie des wohlhabenden, erfolgreichen Bürgertums im 19. Jahrhundert schildert uns Thomas Mann in seinen „Buddenbrook s“. Er schenkte uns in Thomas Buddenbrook das Bild des Alterns ohne innere Reife, weil Thomas auf sich selbst gestellt ist und das Gespräch mit Gott nicht mehr kennt. Auch die Familie, deren Heiligkeit im Bürgertum noch lange nach dem Verlust des Glaubens anerkannt wurde, bricht zusammen. Es bleibt eine Leere zurück, die zur Ziellosigkeit und Langeweile führt und die Herzen dem Weltschmerz öffnet, dessen geistiger Vater, der Philosoph Schopenhauer, das Leben als Pendelbewegung zwischen Schmerz und Langeweile sah. Wie zur Zeit des jungen Goethe das Wertherfieber die Menschen ergriff, so wurde im 19. Jahrhundert der Pessimismus zum Bekenntnis des Bürgertums. Man sah alles grau in grau und hatte nicht mehr die innere Kraft, Schicksalsschläge zu überwinden. Auch erlesene Geister flüchteten in den Tod. Der österreichische Dichter dieser Zeit war Ferdinand von Saar, der selbst diesen Weg ging. Der große österreichische Volksdichter Ferdinand Raimund hat uns im „Bauer als Millionär“ und im „Verschwender“ die gemütvolle österreichische Auseinandersetzung mit dem Einbruch des Alters geschenkt, er selbst aber ist am Leben zerbrochen. Grillparze r, dessen Mutter denselben Weg gegangen ist, wurde nur durch die treue Fürsorge seiner ewigen Braut Katharina Fröhlich gerettet. Er hat sein eigenes Erleben im „Alten Spielmann“ geschildert. Eine große Frau war es, die in echter Güte und reifer Menschlichkeit diesem Zeitgeist widerstand: Marie von Ebner-Eschenbach.

In der romantischen Weltdichtung wird dann der Weltschmerz zur Anklage gegen Gott selbst. Byrons „Manfred“ und „Kain“, Shelleys Atheismus, Mickiewiczs „Konrad Wallenrod“, Leopar-dis und Carduccis Hymnen an den Satan als den „schönen Gott der Welt, den Frühlingsgott“, Beaudelaires „Blumen des Bösen“ erweitern den Pessimismus zum Satanismus.

Im Norden hat uns Henrik Ibsen sowohl als Romantiker als auch später in seinen Gesellschaftsdramen das Scheitern des nordischen Menschen am Leben geschildert. Er ist immer in Gefahr, sich zu überfordern, sein Ziel höher zu stecken, als seine Kräfte reichen, und daran zu zerbrechen. Keiner gelangt zur Reife. In „Peer Gynt“ hat er dagegen den Lebensablauf des Träumers geschildert, der an sein heimliches Kaisertum glaubt, aber nie eine rettende mutige Tat wagt, nie mittendurch geht, sondern immer drum herum. Er wird am Ende seines Lebens vom Knopfgießer belehrt, daß er ein mißratener Knopf sei und im Löffel umgegossen werden müsse. Er hat nur im Herzen seiner verlassenen Braut Solveig als Mensch gelebt, im übrigen aber sein Leben verspielt.

Im Osten hat Leo Tolstoj in Leben und Dichtung das Ringen eines großen und ehrlichen Menschen um letzte Reife dargestellt. Bei Tolstoj kommt ein geistiges Element dazu, das bisher keine führende Rolle gespielt hat: die Angst vor dem Tode. In Tolstoj kämpft eine ungewöhnliche Vitalität beinahe um ewiges Leben. Die Erkenntnis, die Wildenbruch im „Meister von Palmyra“ gestaltet hat, daß der Mensch im Wandel der Zeit ewiges Leben als schwerstes Unglück und den Tod als Erlöser empfinden muß, bleibt Tolstoj bis zuletzt verschlossen. Er war zwischen zwei Zeitalter gesrellf und ist auf der Flucht aus seinem vornehmen Hause in die Armut der Brüder auf einem kleinen russischen Bahnhof gestorben.

Aber Tolstoj und Dostojewskij kennen noch das „Licht in der Finsternis“: die umgestaltende Kraft tiefer Reue. Viel düsterer mutet die Altersdichtung der letzten Jahre an: Hemingways „Old man and the sea“ und Cronins „Three Loves“. Hier gibt es keinen Ausblick mehr auf den Sinn des zerbrochenen Lebens.

Hermann Hesse hat in seinem „Glasperlen-spiel“ die letzte Reife des alten Musikmeisters zu zeichnen versucht. Was hier einem Aus-crwählten in seltsamer Umgebung zuteil wird — letzte Reife —, das haben österreichische Dichter unserer Zeit an Arbeitsmenschen des Alltags ergreifend festgestellt: Heinrich Waggerl schildert uns in seinem „Jahr des Herrn“ die tiefe innere Reife bäuerlicher Arbeitsmenschen im Alter und in der Stunde des Abschieds und Anton W i 1 d g a n s schildert in seiner „A r m u t“ . den „kleinen Mann“ aus städtischem Lebensraum, der in selbstloser Liebe sein ganzes Leben dem Wohl der Seinen gewidmet hat und nun abberufen wird. Hier fehlt die Problematik beinahe ganz; das Leben dieser einfachen Menschen ist in die Pflichten des Alltags und in die überkommene Lebensordnung eingebettet. Und am Schluß ihres arbeitsreichen Lebens steht nicht Welken und Vergehen, es vollzieht sich eine neue Formung des Geistes, die ein amerikanischer Arzt, Martin Gumppert, bei alten Menschen entdeckt hat, gleichviel, ob es führende Staatsmänner oder Arbeitsmenschen des Allrags waren. Hier ist erfülltes Leben, erlangte innere Reife nach dem Ausmaß der inneren Anlagen, Reife als Ergebnis der bejahenden Antwort des Menschen auf den Anruf Gottes. Denn „Gott hat jedem seine Bahn vorgezeichnet' (Goethe).

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