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Werdende Kulturgemeinschaft

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Zweckverbände ordnen die Menschen in Reih und Glied, nach Führern und Geführten. Nur durch das erstrebte Ziel sind ihre Mitglieder aneinander gebunden. Alle Staaten sind, zum mindesten seit sie Wohlfahrtsstaaten sein wollen, auch Zweckverbände. Sie wollen und müssen aber auch Kulturgemeinschaften sein. Diese bedürfen keines bestimmten Zieles. Darum können sie bestehen, ohne die vom Ziel ausgehende einigende Kraft. Kultureinheit bindet inniger aneinander als jeder Zweckverband, denn sie ermöglicht es dem Menschen, seine Umgebung so richtig zu verstehen und von ihr verstanden zu werden. Kultureinheit allein führt heraus aus der seelischen Einsamkeit, sie allein führt zum Gleichklang der Herzen.

Zivilisation ohne Kultur besagt nur: verbesserte Arbeitsmethoden und dementsprechend eine reichere Fülle von Genußgütern. Kulturgemeinschaft lebt aus einer schon vorhandenen gemeinsamen Seelenhaltung vieler: gewinnen dieselben geistigen Werte in den Herzen vieler solche Mächtigkeit, daß sie als Maß dienen, nach dem alle anderen Worte gestuft werden, daß diese geistigen Werte auf möglichst viele Bezirke des Lebens ausstrahlen und sie durchformen, dann werden selbst die Möbel den Stempel dieser einen Geisteshaltung tragen.

Weltanschauung ist gewiß ein vieldeutiges Wort. Versteht man aber darunter nicht eine bloß theoretisch als richtig angesehene Welterklärung, sondern die Summe jener Grundsätze, die, wenn sie auch nicht ins Bewußtsein aufsteigen, doch tatsächlich als die Normen des Lebens befolgt werden, dann steht am Beginne einer Kultur, als deren Wurzel, eine in vielen lebendige Weltanschauung; am Beginne einer; neuen Kul-urperiode aber eine, wenn auch unbewußt vollzogene Umbildung dieser Weltanschauung, die zu einer Neuordnung der Werte führt.

Auch der ruhig prüfende Verstand kann Wahrheiten so lebendig einsichtig machen, daß sie zur kraftvoll gestaltenden Weltanschauung werden. Wenn diese Wahrheiten aber noch durch ein persönliches Erleben tiefer Wurzel fassen, wird ihre Ausstrahlungskraft gewinnen. So ganz unabhängig von jeder Erfahrung wird keine Weltanschauung und somit keine Kultur Kraft und Bestand gewinnen und bewahren. Die erlebten Tragödien der Französischen Revolution haben ihre damals schier allmächtigen Urheber, die „Philosophen“, entthront und standen^Pate bei der Romantik mit ihrer Vorbetonung der Gemütswelt. Keine neue Kulturperiode entsteht ohne die vielen Namenlosen, die durch ähnliche Einsichten und ähnliche Erlebnisse zu einer einheitlichen geistigen Haltung gelangten. Noch, entscheidender aber werden die großen „Trommler“ oder die großen Geistesmänner sein. Geistreiche Redner und begnadete Schriftsteller können wecken, was in den Herzen vieler, noch ungeformt, lebt. Doch sind sie kaum mehr als Lautsprecher. Wären die Herzen der vielen Namenlosen nicht abgestimmt auf Resonanz, würde die Stimme “der „Trommler“ ungehört verhallen. Bis große Geistesmänner, die zuerst eine Synthese geschaut, ausgesprochen oder vorgelebt haben, sich durchsetzen, mögen Jahrhunderte vergehen, aber um so nachhaltiger wird ihr Beiträg zur Weltanschauung leben. Die Träger der Devotio moderna mit ihrer innigen Liebe zu dem auf Erden lebenden Christus haben Geschichte gemacht: sie sind die geistigen Miturheber der Kreuzzüge, sie leben nach in der Frömmigkeitshaltung des Westens bis zum heutigen Tag. Augustinus war der Vater des Mittelalters und seine Ideen leben heute noch. Vielleicht hätte der Westen nicht Latein als Kultsprache und somit Nationalkirchen, wenn Augustinus nicht die Ansicht ausgesprochen hätte, daß nur Hebräisch, Griediisch und Latein die zum Lob Gottes würdigen Sprachen wären. Und wie hätte sich die Gesdiichte des Abendlandes gestaltet ohne das Fortleben des Lateins? Die vielen namenlosen' Gestalter der Kulturgemeinschaft sind eingeebnet; sichtbar werden nur die großen Geistesmänner und die großen „Trommler“.

Darin hat Nietzsche richtig gesehen: ohne ein einigendes Band der Weltanschauung und Kultur — und er sah dieses Einigende bis zu seiner Zeit im Christlichen — zerfällt die Menschheit und das Volk zu Sand; nur mehr von außen, durch brutale Gewalt, könnten sie zusammengehalten werden.

Eine einheitliche, kraftvolle Seelenhaltung und somit eine gewisse Kultureinheit kommt durch Religion zustande. Jede Religion hat einen einheitlichen Gottesbegriff und will das ganze Leben nach ihm formen. Echte Religion durchdringt fast alle Bezirke des Lebens. Mit allen seinen Nuancierungen spiegelt sich der Gottesbegriff in der Kultur wider. Auch für die Religion gilt, daß sie auf die Dauer von der Erfahrung beeinflußt wird. Immer wird das Leben, wie es tatsächlich geführt wird, abfärben auf die Weltanschauung. Auf religiösem Gebiet werden bald die theoretischen und die praktischen Folgerungen aus dem Gottesbegriff übersehen werden, die mit dem tatsächlich gelebten Leben nicht in Einklang zu bringen sind. Tatsächlich regierten die byzantinischen Kaiser als Pontifices m.aximi auch über die Kirche selbstherrlich. Das führte sie dazu, den Arianismus theoretisch zu verteidigen; denn als Repräsentanten der Allmacht des Vaters stehen sie auch theoretisch über der Kirche, wenn der Sohn Gottes, in dessen Auftrag die Kirche handelt, weniger ist als der Vater und unter dem Vater steht. Nur im Zeitalter des Rationalismus konnte die Kirche primär erscheinen als die mit dem Finger drohende Lehrerin; nur in dieser Zeit konnte als ihr Hauptvorzug von Brentano besungen werden: „Sie lehrt dich auferstehen, sie lehrt dich selig sein.“ Für das Alte Testament hat neulich J. Obersteiner in seinem Buch „Biblische Sinndeutung der Geschichte“ (Verlag Anton Pustet, Graz 1947) diese Zusammenhänge zwischen dem Gottesbegriff und der Kultur prächtig herausgearbeitet. Der uralte und immer wahre Gottesbegriff vom kraftvoll und freiwaltend regierenden Gott, der noch lebendiger wurde durch das große Berufungserlebnis Abrahams und des ganzen Volkes, ein Erlebnis, das sich in der Berufung der Propheten immer wieder erneuerte, führte das Alte Testament zu einer

Höhe der Geschichtsphilosophie, zu einer Bewertung und Beschreibung der Geschichte, die andern Völkern, gerade wegen ihres andersgearteten Gottesbegriffes, unerreichbar war. Denn die Götter der andern Völker waren der Natur verhaftet, Geschichte war ihnen daher nur ein Teilabschnitt des nach Gesetzen verlaufenden Naturgeschehens, daher sekundär4 und unwichtig. Darum ist den andern Völkern die Geschichte manchmal sinnlos tragisch, nach dem Alten Testament aber ist und muß sie immer zukunftsträchtig sein, immer hingeordnet auf das Kommen des Reiches Gottes. So wird man wohl verzichten müssen, einen innerweltlichen Sinn der Geschichte zu entdecken, es sei denn, daß man als theologische Ansicht gelten läßt, ' die Menschheit sei berufen, schon im Diesseits die Folgen der Erbsünde immer mehr zurückzudrängen, das heißt immer freier zu werden in ihren geistigen Entscheidungen.

Wenn jede Kultur darauf fußt, daß eine genügend tragfähige Schicht aus derselben Seelenhaltung zu einer einheitlichen lebendigen Rangordnung der Werte kommt, in der geistige obenan stehen, aber die triebhaft erstrebten dienend untergeordnet werden, dann möchte man angesichts unseres modernen Lebensstils beinahe ein Kulturpessimist werden. Denn noch hat unsere Zeit die Technik nicht geistig bewältigt und ist dadurch so hastig und unruhig geworden, daß sie kaum zur Besinnlichkeit fähig ist, die nun einmal zum Reifen einer Weltanschauung notwendig ist. Hunderte von Eindrücken in der Minute muß sdion das Großstadtkind verarbeiten können, bis man es unbesorgt allein über die Straßen gehen lassen kann. Der Bauer, der mit dem Traktor, pflügt, muß geübt sein, im sdinell-sten Tempo Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten, ebenso fast jeder Facharbeiter. Das Kino mit seiner raschen Folge von Bildern ist die typische Abspannung einer hastenden Zeit, in der es kaum mehr die Pensionisten zustande bringen, eine Stunde besinnlich einem Gedanken nachzugehen. Noch schlimmer scheint die Gruppe der Hilfsarbeiter daran zu sein, denn sie ist nach der Arbeit viel zu müde für die Aufnahme und das Verarbeiten geistiger Werte. Für alle besteht die Gefahr, daß heute die Beschaffung des täglichen Brotes zur alles beherrschenden Idee werde, die alle andern neben sich erdrückt.

Die Seelen der vielen Namenlosen, ohne die nun einmal keine Kultur entstehen kajin, die das Volk innerlich einigt, ja ohne die überhaupt keine tiefe und nachhaltige Kultur denkbar ist, gleichen weltanschaulich unbeschriebenen Blättern. Immer mehr verblaßt, was die alte Zeit daraufgeschrieben. Scheinbar war zur Zeit der Französischen Revolution alles völlig verblaßt, was die alte Zeit einmal in die Herzen geschrieben. Aber das alte Erbe und die gewaltigen Erlebnisse der Revolutionszeit bereitete doch die Seelen der vielen Namenlosen zu einer Seelenhaltung, daß begnadete Dichter und Künstler daraus etwas Neues erwecken konnten, die Romantik. Was die große Gefahr für das Werden einer neuen Kulturperiode ist, die geistige Leere, das unbeschriebene Blatt des Herzens, ist gleichzeitig die große Chance: zu groß waren die gemeinsamen Erlebnisse, als daß sie unverarbeitet bleiben könnten und auf ein leeres Blatt kann man vieles, ja alles schreiben. Das große Sterben für die Kultur würde erst beginnen, wenn all die vielen Namenlosen so müde geworden wären, daß sie keine Schrift mehr aufnehmen könnten, kraftlos dem Augenblickstrieb verfallen, unempfänglich für jede Rangordnung der Werte. Noch sind wir nicht durch einen allesbeberrsehenden Egoismus zu formlosem Sand zermalmt, der nur mehr von außen mit Gewalt zusammengehalten werden könnte.

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