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Neues, Überraschendes und Bedenkenswertes beleuchtet Karl-Markus Gauß in seinem Jahresbuch. In "Von nah, von fern" wird spannend erzählt und sorgfältig erörtert.

Es gibt kaum ein Genre, das so heftig mit dem ureigenen Keim der Langeweile zu kämpfen hat wie der Jahresrückblick. Der Rückblick als Chronik der Ereignisse, vor allem der Katastrophen, über die ohnehin, als wären nur sie allein erwähnenswert, das ganze Jahr hindurch ausführlich berichtet worden ist, dieser Rückblick fördert kaum einmal etwas Neues, Überraschendes, Aufregendes zu Tage.

Das Journal, das Karl-Markus Gauß anlegt, sein "Jahresbuch", das im Laufe des Jahres 2002 entstanden ist, präsentiert dagegen einen ganz anderen Rückblick: weil es zum einen nicht im nachhinein sondern zu den laufenden Ereignissen Stellung nimmt, weil es zum zweiten anderes in den Vordergrund rückt als die Massenmedien und weil es endlich auch eine radikal andere Sprache spricht als der Hochglanzjournalismus; hier wird spannend erzählt, hier wird sorgfältig erörtert, hier wird, wo immer es darauf ankommt, deutsch geredet.

Wörter abklopfen

Auch Gauß registriert, was der Tag ihm zuträgt, Nachrichten aus den Sparten Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur. Aber das, was allerorten aufgeschrieben wird, drängt ihn (fast) nie zum Schreibtisch. Zum Schreibtisch lockt ihn vielmehr das Bedürfnis herauszufinden, was er beobachtet und darüber denkt: das Bedürfnis, den eigenen Beobachtungen, dem eigenen Denken auf die Spur zu kommen. Von einem sorgsam gehegten festen Standort aus eine Chronik der Ereignisse zu verfassen und dabei dem guten alten Schwarz-Weiß oder aber Weiß-Schwarz weiter zu vertrauen, ist seine Sache nicht. Sein Anliegen ist es, Wörter abzuklopfen, Haltungen zu überprüfen, Einstellungen zu erschüttern. Fremde Wörter, Haltungen, Einstellungen ebenso wie die eigenen: "Die Krankheit der Jugend, die ein jeder haben muß, der sich über das, was ihm vorgezeichnet wurde, hinwegzusetzen sucht, diese notwendige, die widerständige Kräfte weckende Krankheit des Zynismus hatte mich schon fast fürs Leben gezeichnet, als meine Kinder mich doch noch von ihr heilten. Wer mit Kindern lebt, kann nicht zynisch sein." Von einem Hang zum Zynismus ist im gesamten Journal an keiner Stelle mehr etwas zu spüren. Das Gespür des Autors für Ironie, eine Ironie, die gelegentlich auch einmal umkippen darf in Sarkasmus, ist indessen auch in diesem Buch allgegenwärtig - und mit dafür verantwortlich, dass die Lektüre immer unterhaltsam bleibt.

Mehr noch, ein einziges Vergnügen.

Gespür für Ironie

Dabei mag man leicht vergessen, dass man über manche Beobachtung, über manches Urteil lange streiten könnte. Wenn Gauß dem Roman "Schöne Tage" das Verdienst zuschreibt, die "in Hunderten Büchern und Filmen verfestigte Lüge" über das Leben auf dem Lande mit gewaltigen Hieben zerschlagen zu haben, und wenn er damit Franz Innerhofer an den Anfang der so genannten Antiheimatliteratur in Österreich stellt, dann wäre doch dagegen allerhand einzuwenden. Es wäre einzuwerfen, dass Handkes "Wunschloses Unglück" schon zwei Jahre vor Innerhofers Erstling erschienen ist. Es wäre an eine ältere, nicht weniger garstige "Heimatliteratur" zu erinnern, an die ersten Stücke von Franz Kranewitter und Karl Schönherr etwa, die schon um 1900 das "Land" durchaus, wie später Innerhofer, als identifizierbar gestaltete Realität abbilden, als Hölle auf Erden ab und an sogar. Aber solche und ähnliche Einwendungen könnten und können doch nie und nimmer das Bild trüben, das Gauß seinem Kollegen Innerhofer dediziert. Und wenn Gauß im weiteren den "zuverlässig schwarzen Kitsch" aufs Korn nimmt, der im Gefolge der Erfolge Innerhofers "alsbald an den Fließbändern der Antiheimatliteratur" wie auf Bestellung produziert worden ist, dann stimmt man ihm gleich wieder gerne und vollkommen zu.

Denn - worüber auch immer Gauß sich äußert, es ist wert, sich bei seinen Geschichten, bei seinen Überlegungen aufzuhalten: bei der Geschichte der Salzburger Protestanten, die aus dem Erzbistum vertrieben worden sind; bei der Geschichte des greisen Nobelpreisträgers, der mit dem Salzburger Bahnhofszollamt nie zurecht gekommen ist; bei den Geschichten von Poldi Weiss und Eugen Hoeflich, die Wien verlassen haben, um sich in die islamische Theologie bzw. in die Idee des Asiatismus des Judentums zu verbeißen. Diese und viele weitere Geschichten, die Gauß erzählt, über den Literaturbetrieb, über das Regietheater, über Wahlkämpfe in Österreich, über den Antiamerikanismus, kurz: über Gott und die Welt, diese Geschichten sind Glanzlichter der österreichischen Essayistik; sie beleuchten beharrlich Neues, Überraschendes, Bedenkenswertes.

Von nah, von fern - Ein Jahresbuch

Von Karl-Markus Gauß

Verlag Zsolnay, Wien 2003

263 Seiten, geb., e 20,50

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