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Wider die Gesellschaft

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Zwei Bühnendichter haben um die Mitte des vorigen Jahrhunderts über die Klassik hinausführend Ansätze zum Ideen- und Gestaltungsbereich der heutigen Dramatik geboten: Georg Büchner und der immer noch verkannte Grillparzer. Das Volkstheater begann die neue Spielzeit mit Büchners „Woyieck“ und Leonce und Lena“, die nacheinander gespielt, nicht wie bei den heurigen Ruhrfestspielen ineinandergeschoben wurden. — Der Füsilier Woyzeck hat keine Moral, sagt sein Hauptmann. Woyzeck bestätigt es, er könne keine Moral haben, weil er kein Geld hat. Damit wird die Moral als Klassenangelegenheit postuliert, als Angelegenheit der Besitzenden. Man spürt bereits Brecht voraus, bei dem es nahezu hundert Jahre später heißt: „Ein guter Mensch sein?! Ja, wer war’s nicht gern?“ Und dann: ,4)och die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

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Zwei Bühnendichter haben um die Mitte des vorigen Jahrhunderts über die Klassik hinausführend Ansätze zum Ideen- und Gestaltungsbereich der heutigen Dramatik geboten: Georg Büchner und der immer noch verkannte Grillparzer. Das Volkstheater begann die neue Spielzeit mit Büchners „Woyieck“ und Leonce und Lena“, die nacheinander gespielt, nicht wie bei den heurigen Ruhrfestspielen ineinandergeschoben wurden. — Der Füsilier Woyzeck hat keine Moral, sagt sein Hauptmann. Woyzeck bestätigt es, er könne keine Moral haben, weil er kein Geld hat. Damit wird die Moral als Klassenangelegenheit postuliert, als Angelegenheit der Besitzenden. Man spürt bereits Brecht voraus, bei dem es nahezu hundert Jahre später heißt: „Ein guter Mensch sein?! Ja, wer war’s nicht gern?“ Und dann: ,4)och die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

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Moral, eine Klassenangelegenheit? Das moralische Gefühl ist keineswegs auf eine einzelne Menschenschicht beschränkt, Moral wird meist nur als eine Forderung von außen angesehen, sie ist vielmehr ©ine innere Notwendigkeit, der Antrieb zum Guten aus Liebe zum Nebenmenschen, die in uns alle gesetzt ist. Marie, Woyzecks Geliebte, die wie er zu den „gemeinen Leuten“ gehört, erweist ihr moralisches Gefühl, sie 1st sich bewußt, es durch Untreue verletzt zu haben: „Ich bin ein schlechter Mensch! Ich könnt’ mich erstechen.“ Ihre Vitalität überwindet die Hemmungen, das ist nicht klassenbedingt.

Weshalb würgt nun Woyzeck diesen Antrieb ab, weshalb tötet er Marie, die er liebt, mit der er ein Kind hat? Er, der arme Teufel, der zum Versuchskaninchen eines eiskalten Arztes wurde, ist der getretene Mensch, die geschundene Kreatur. Er mordet als der Tambourmajor seine Marie verführt Aber wäre er zum Mörder geworden, hätte man ihm damit nicht das Letzte genommen, das er In der Welt besitzt? Eifersucht ist nicht die alleinige Ursache, das Getretenwerden kommt entscheidend hinzu. Es geht um dąs Mewdfstosein, erst recht geht es heute, 4asam iEftt rdigende, Verhältnisse sind keine Klassenangelegenheit mehr, sie greifen über die Klassen hinaus. Wir wissen, wo. Büchner spricht zu unserer Zeit.

„Leonce und Lena“ bietet einen harmlosen Lustspieleinfall: Zwei, die auf Geheiß der Eltern füreinander bestimmt sind, obwohl sie sich nie gesehen haben, meiden sich, doch die Liebe erwacht in ihnen, als sie einander, ohne zu wissen, wer sie sind, kennenlernen. Das Erstaunliche ist nun, daß es den Anschein hat, als habe Büchner in Prinz Leonce und in Prinzessin Lena die heutige Beatgeneration gezeichnet und auf ein höheres Niveau gehoben. Da gibt es den Widersatz gegen die bestehende Gesellschaft, die Abneigung sich einzugliedern, Arbeit wird als „subtiler Selbstmord“ angesehen, Langeweile ist die notwendige Folge. Das alles freilich blüht auf ins Poetische, ins geistvoll Satirische und führt zur liebenswürdigen Ironie des Schlusses, wonach die beiden hinfort das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen leben wollen.

In der Wiedergabe des „Woyzeck" spürt man unter der Regie von Rudolf Kautek, der mit dem Bühnenbildner Georg Schmid zusammenarbeitete, von der politischen Aktualität kaum viel. Gespielt wird in beiden Stücken im schwarz gehaltenen Bühnenraum, bei „Woyzeck“ gibt es ein Podium, die Gestalten durch Scheinwerfer herausgeholt. Das Vorziehen der Budenbesitzerszene, das Beschließen des Stücks Snjff.j&iiife; verlagert die Vorgänge fälschlich ins Zjirkushafte. In „Leonce und Lena“ deuten zahlreiche Träger riesiger grüner Blätter oder großer Kandelaber durch unterschiedliche Stellungen den Wechsel der Schauplätze an. Ein reizvoller szenischer Einfall. Herbert Propst ist ein allzu beleibter, saturiert aussehender Woyzeck, ansonsten wird er der Fi gur gerecht. Die lautere Ingrid Fröhlich erweist sich in der Rolle der vitalen Marie ebenso als Fehlbesetzung wie Aladar Kunrad, der die eigentlich unheimliche, hof&nanneske Gestalt des Doktors grob ins Karikaturistische verzerrt Im zweiten Stück bleibt Albert Roland als Leonce kühl hochmütig, Kitty Speiser wirkt als Lena farblos. Treffliche Kostüme von Brigitte Brunnmayr im ersten Stück, von Maxi Tschunko im zweiten, treffliche Musik von Ernst Kölz.

Auch im Theater in der Josefstadt wird uns ein enragierter Müßiggänger vorgeführt. Doch leidet er im Gegensatz zu Leonce nicht im geringsten an Langeweile. Es 1st dies Aristobulus, kurz Aris genannt, der in der Komödie „Grille und Ameise“ von Alfonso Paso — deutschsprachige Erstaufführung — mit seiner Tochter Bisbi und zehn Katzen, einem Hund, einem Papagei, einem Falken und einem Krokodil, das in der Badewanne plätschert, sehr vergnügt in einem verwahrlosten Haus wohnt dessen einer Flügel eingestürzt ist. Wovon lebt er? Von seinem Gottvertrauen. Der liebe Gott kümmere sich um alles, behauptet er, also auch um ihn. Vom Getriebe der Menschen will er nichts wissen. Er ist die Grille, die singt, nicht die Ameise, die, als langweiligstes der Geschöpfe, Vorräte sammelt. Dann freilich tritt die Ameise auf, die durch Emsigkeit sehr reich gewordene Mutter Bisbis, und damit hebt die Schnulze an, deren Schluß das Stück arg in Mißkredit bringt. Heinrich Schnitzler inszeniert es nobel, als gewahre er das alles nicht. In der Rolle des Aris vermag Leopold Rudolf seine kennzeichnendste Eigenart, Schrulligkeit, einzusetzen, Vilma Degischer gelingt es erstaunlich, die Mutter als Gestalt nicht völ?s lig absacken zu lassen. Ansprechend zeichnen Marianne N entwich das frisch Unmittelbare der Bisbi, wie auch Peter Neuss er und Martin Costa weitere Rallen. Monika Zal- linger erweist, daß eine zerbrök- kelnde Behausung auf der Bühne reizvoll wirken kann.

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