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Wider die Konsumgesellschaft

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Das Frankreich der 5. Republik entwickelte den vollendeten Typ einer Konsumgesellschaft. Es ist eine kalte, eine gnadenlose Gesellschaftsordnung die damit entstanden ist. Mehr als zehntausend leitende Führungskräfte aus Industrie und Wirtschaft wurden durch die Konzentrierungen der Betriebe arbeitslos und ein fürchterliches Sprichwort lautet: Mit Vierzig mußt du sterben.

Mehr als 700.000 Arbeitslose, davon zehntausende von Jugendlichen, kommen nicht in den Genuß des Konsums, einfach weil sie zu wenig verdienen. Wer denkt an die 3 Millionen Menschen über 65 Jahren, die mit 4 oder 5 Francs am Tage auskommen müssen? Wagt man ein Urteil über dieses System, muß man von einer technisierten Zivilisation sprechen, in der die Produktion zum Götzen erklärt wurde und deren einziger Maßstab das Geld ist.

Es fehlt der Ausblick auf eine bessere Welt, denn der Mensch ist lediglich ein Element des Produktionsprozesses. Es mangelt an einer Ideologie und vergeblich sucht man Ansätze zu einer humaneren Gestaltung des täglichen Lebens. Was wurde der Jugend geboten: Eine gigantische Industrie, gemischt aus Sex, Grausamkeit und Egoismus. Selbst die Meister des Denkens, wie der Modephilosoph Sartre, gestehen plötzlich beschämt: „Wir haben auf allen Linien versagt.“ Und Sartre setzt fort: „Was man der Jugend bietet, ist eine Mischung aus Eseleien und Lüge, eine ständige Vergewaltigung des Geistes.“

Diese akademische Jugend, um die es geht, deren Zukunft auf dem Spiele steht, ist zutiefst beunruhigt. Sie will die Welt der Papas verneinen.

In den seit Tagen andauernden Diskussionen im gewaltigen Theatersaal des Odeons, in den Amphitheatern der Sorbonne taucht eine Leitidee auf. Sie ist konfus, verschwindet in zahlreichen Theorien, welche die bärtigen Männer aus

Kuba darbieten — denn der Chė wurde für die jungen Pariser Intellektuellen ein echter Volksheld. Die permanente Revolution eines Trotz- kys wird durch die Thesen des Chinesen Mao abgelöst. „Wir wollen eine bessere Gesellschaft, eine gerechtere.“

Wie ein Schrei tönt es aus der Masse der Studenten, der älteren Generation entgegen, die einen Vietnamkrieg führt, wo Polizisten wahllos mit ihre ! Knüppeln auf Jugendliche einschlagen dürfen, die es bisher nicht zustande gebracht hat, das Wettrüsten zu stoppen und den atomaren Krieg als Schreckensgespenst verschwinden zu lassen. Man muß wirklich durch Tage diesen Meetings in den Hörsälen der Sorbonne, im Odėon-Saal zuhören, dem Gespräch zwischen Studenten und Jungarbeitern folgen, um diese Krise des Gewissens einer Generation zu verstehen. Es ist gewiß ein eigenartiges Schauspiel: Diese Mischung vc i Zirkus, ernster Arbeit, gewollter Komödie und dem Ringen um neue Begriffe. Bisher hatten sich Studenten und Jungarbeiter so gut wie nicht getroffen. Warum hat der Staat und die Universitäten die offene Aussprache vermieden?

Denn im letzten geht es um das Schicksal einer ganzen Zivilisation, die Heranbildung einer geistigen Elite. Seit den Zeiten Napoleons haben sich die Strukturen der französischen Universitäten wenig geändert. Die Professors !, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, zeigten sich auf einem gewaltigen Sockel und waren selten in der Lage, die Aspifationen ihrer Schüler zu begreifen. Mehr als 600.000 Studenten bevölkern derzeit die hohen Schulen des Landes. Aber wie viele von ihnen werden nach Ablegung der Prüfungen eine Stellung erhalten? Wie sollen sie eine Gegenwart begreifen, in der die Nation einem Dialog ausweicht und der Staat nur ein Gesicht zeigt: das der Staatsraison und kalten Macht.

Revolution!

Was bewegte diese Studenten, die in der Nacht des 10. Mai die Barri kaden im Quartier latin errichteten und mit unwahrscheinlichem Heldenmut den schwer bewaffneten Sicherheitskräften, den gefürchteten CRS standhielten, die als eine Art Leibstandarte „SS“, die innere Sicherheit des Staates garantieren. Es war ein gespenstisches, ein einmaliges, ein heroisches Bild. Diesmal handelte es sich nicht mehr um eine Revolte. Das war bereits der Beginn einer Revolution. Das ganze Quartier latin war hermetisch abgeriegelt. Überall standen die Wasserwerfer, die mächtigen Polizeiautos und die Regierung hatte fast 10.000 Mann aufgeboten, die wie mittelalterliche Helden Schilder trugen und den Gummiknüppel ebenso bereit hielten wie die Maschinenpistole. Die Studenten, aber auch die Mädchen errichteten Barrikaden mit den Händen und wehrten sich vier Stunden hindurch gegen diese Übermacht. „Mut haben sie, diese Wilden“, konnte man von zahlreichen Polizeioffizieren hören. Autos wurden umgerissen und in Brand gesteckt, Fensterscheiben klirrten, der dumpfe Aufschlag der Gasgranaten, das wütende Schreien der Verwundeten vermischten sich zu einer Symphonie des Grauens, aber auch der menschlichen Größe. Es waren nicht nur einige Kommunisten oder Prochinesen, welche diesen Sturm erzwangen. Die akademische Jugend Frankreichs stand hinter den Barrikaden, und der Beobachter mußte in diesem Inferno eine Jugend bewundern, die selbst mit dem Einsatz des Lebens die bessere Welt von Morgen schaffen will. Es wird natürlich über das Ziel geschossen. Die Abschaffung aller Prüfungen auf den Universitäten ist allerdings eine Utopie. Aber ..die kritische Univer sität“ von Morgen, in der Professoren und Studenten gemeinsam die Zivilisation weitertragen, ist ein Ziel, welches durchaus zu begrüßen ist.

Selbst die Professoren, darunter zahlreiche Nobelpreisträger, die mit ihren Studenten die Kämpfe im Quartier latin ausfochten, erkennen und wissen, daß die bürgerliche Universität in diesen Tagen endgültig zugrunde gegangen ist. Niemand weiß, welche Form der Gesellschaft in den nächsten Jahren aus diesen Ereignissen entstehen wird. Der äußere Eindruck ist der einer Bewegung, die links von der Kommunistischen Partei eine revolutionäre, man ist fast geneigt zu sagen eine permanente Unordnung schaffen will. Die Führer der Bewegung Sauvageot, Geismar und Daniel Cohn-Bendit sind Tribune, die teilweise im Nihilismus ihre Befriedigung suchen. „Die Bewegung von: 22. März“, eine sozialrevolutionäre Organisation, begründet vom deutschen Juden Cohn-Bendit wäre eir Grüppchen geblieben, wenn das Regime nicht ständig zwischer Stärke und Schwäche geschwankt hätte. Immer wieder taucht das Gerücht auf, daß ausländische Mächte an der Vorbereitung dieses Aufstandes beteiligt waren. Denn zui gleichen Zeit begann die Friedenskonferenz zwischen den USA unc Nordvietnam. Das kommunistische China weigert sich, diese Verhand lungen anzuerkennen. Lediglich der totale Sieg der Kommunisten in Vietnam könne als Erfolg angesprochen werden. Auf Grund der Beobachtungen zahlreicher Journalisten muß anerkannt weren, daß in den ersten Tagen eine vorzügliche Form der Aufmärsche und der Straßenkämpfe gefunden wurde, daß mit dem Wirken von Technikern des Straßenkampfes gerechnet werden darf. Diese verschiedenen Organisationen, wie die kommunistische revolutionäre Jugend oder die Union der marxistisch-kommunistischleninistischen Jugend (prochinesisch) hätten niemals die Studenten Frankreichs beeinflussen können, wenn es an den allgemeinen Voraussetzungen vorher gefehlt hätte. Bei einem der letzten großen Aufmärsche der Studenten trafen sich die Katholiken mit den Prochinesen, die Sozialisten mit den orthodoxen Kommunisten. Für einen Augenblick verschwanden die ideologischen Gegensätze. Der Student, das junge Mädchen, wurden von einem Strom mitgerissen, der aus den Tiefen einer Generation kam, welche ihr eigenes Schicksal bestimmen will und eine bessere Welt zu schaffen gedenkt. Eine Wahnvorstellung?

Wer durch Stunden im Odėon- Theater den Diskussionen beigewohnt hat, weiß, daß etwas in Gang gepetzt wurde, was einfach nicht mehr aufzuhalten war.

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