Wie einer von Tiefkühlkost lebt

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"Die Arbeit der Nacht" von Thomas Glavinic wird euphorisch besprochen,

Evelyne Polt-Heinzl wirft einen kühleren Blick auf den neuesten Roman des österreichischen Schriftstellers.

Wie Seilschaften im Literaturbetrieb funktionieren, hat man seit den Hoch-Zeiten der Gruppe 47 nicht mehr so unverblümt beobachten können wie im erfolgreichen Paarlauf Kehlmann - Glavinic. Der Bestseller-Autor Daniel Kehlmann pries in seiner Spiegel-Rezension den neuen Roman seines Kollegen als Buch, das "zugleich aufregender Schauerroman und komplexes literarisches Werk" sei. Das hat durchgängig Wirkung gezeigt. Es ist kurz nach Erscheinen des Buches schon fast unmöglich, "Die Arbeit der Nacht" ohne Blick auf die euphorische Rezeption des Romans zu lesen.

Konventioneller Auftakt

Der Auftakt ist durchaus konventionell. Das Erwachen am Morgen - schließlich weiß keiner so genau, wo wir im Schlaf wirklich sind - ist ein bewährter Romananfang für Geschichten von radikalen Veränderungen im Leben eines Menschen. So ergeht es auch dem 35-jährigen Jonas, der eines Morgens in seiner Wiener Wohnung erwacht und eine globale Katastrophe als einziges Lebewesen überlebt zu haben scheint - oder doch fast, denn Bakterien und Viren sind weiter hochaktiv; sie sorgen für die Fäulnisprozesse der Lebensmittel - die Jonas sieht, aber nie riecht - und quälen ihn mit schweren Grippeattacken.

Anders als in herkömmlichen Erzählungen von einsam Überlebenden - der Gedanke an Marlen Haushofers Roman "Die Wand" liegt natürlich nahe -, geht es bei Glavinic nicht um die mühevolle Organisation des Überlebens. Als Kind der Überflussgesellschaft dehnt er die Attitüde des Selbstbedienungsladens ins Automobile aus. Mit Vorliebe befährt Jonas fortan die Supermärkte mit den Autos, die ihm gleichfalls in reicher Auswahl zur Verfügung stehen. Ein Gourmet ist er nicht, und da die Stromversorgung weiterhin klaglos zu funktionieren scheint, steht ihm Tiefkühlkost ohne Ende, oder doch bis zu den Ablaufdaten, zur Verfügung. Gerne bereitet er sich auch ein "Gericht aus Nudeln und Kartoffeln", und nach drei Wochen sehen wir ihn plötzlich beim Schneiden von frischem Gemüse. Obwohl Supermärkte eigentlich kein spezifisch Wienerisches Phänomen sind, bewehrt sich Jonas vor seiner Reise nach England, wo sich seine Freundin Marie zum Zeitpunkt des Unglücks aufgehalten hat, sorgfältig mit Vorräten an haltbaren Lebensmitteln - und das ist die einzige Szene, die an das zentrale Motiv der Bevorratung in traditionellen Robinsonaden erinnert.

Dass solche Ungereimtheiten die Kritik bislang kaum störten, liegt vielleicht an der Dominanz des apparativen und reisetechnischen Aufwands, mit dem Jonas seine bedrohliche Situation zu bewältigen versucht. Er überzieht seine Wohnlandschaften, "strategische" Punkte in Wien und auf seinen Reisen, mit einem Netz von Videokameras, um Spuren von Überlebenden zu finden und Informationen über den aktuellen Zustand der Welt zu sammeln. Diese Arbeit hat natürlich auch eine entlastende Funktion. Jonas ist immer beschäftigt, macht sich konkrete Zeitpläne, die penibel einzuhalten er sich auferlegt. Das ist nachvollziehbar. Weniger überzeugend ist die parapsychologische Ebene, die Glavinic einzieht. Jonas ist als Kind mit solchen Phänomenen in Berührung gekommen durch eine Nachbarin der Eltern, eine gewisse Frau Bender, die er gegen Ende des Romans gar in ihrem Grab aufstört. Von daher kommt das Bild des Auspendelns ebenso wie der Werwolf, der immer wieder auftaucht, und von daher "erklären" sich auch die seltsamen Phänomene, die Jonas auf den Videobändern seiner einsamen Nächte zu sehen bekommt. Da stecken plötzlich Messer in Wänden, die sich absolut nicht bewegen lassen, dann wieder verschwinden, um eine Plastikpuppe zu hinterlassen; der nächtliche "Schläfer" trennt sich zunehmend von Jonas' Wach-Ich und führt ein eigenwilliges Eigenleben. Natürlich könnte das alles auch Teil von Jonas' zunehmender Verwirrung sein, aber Distanzsignale der Erzählstimme sind nicht zu sehen.

Was macht nun diesen Plot im Jahr 2006 so attraktiv, dass die Kritiker alles, was außer der Geschichte noch zu einem Roman gehört, einfach vergessen - oder allenfalls in einem Nachsatz anmerken? Die Sprache zum Beispiel. "Die Sonne blendete ihn. Er verriß das Steuer. Der Wagen schlenkerte kurz. Er stieg hart auf die Bremse. In ruhigerem Tempo glitt er dahin. Sein Herz schlug hart." Wer zählt die Sprachklischees in solchen Satzketten? Und weshalb muss Jonas fortwährend ins Bett kriechen, fallen oder sinken - und das tut er sehr oft, schließlich ist ein zentrales Handlungselement, dass er seine Nächte filmt, und der Autor vergisst nie, den Filmstart sozusagen mit einem dieser "starken" Variationen aus dem Wortfeld "sich hinlegen" zu markieren.

Keine Gesellschaftskritik

Eine mögliche Erklärung für den Erfolg des Buches könnte in der völligen Absenz von Gesellschaftskritik liegen. Alle Geschichten von einsam Überlebenden hatten seit den Schiffsbrüchigen der Aufklärung immer harsche Kritik an der existierenden Gesellschaftsordnung als zentrales Movens. Das fehlt in Glavinics Roman gänzlich. Jonas ist ein durch und durch angepasster junger Mann, der an der Welt, wie sie ist bzw. war, sichtlich nichts auszusetzen hat. Aufgewachsen als Einzelkind in kleinbürgerlich engen Verhältnissen, hat er an der verstaubten, auf das Abenteuer Kreuzworträtsel reduzierten Welt seiner Eltern absolut nichts auszusetzen. Dass er mit großer Sorgfalt die ursprüngliche Wohnung der Eltern zu rekonstruieren beginnt, ist aus seiner Situation und der Sehnsucht, die Zeit zurückzudrehen, durchaus erklärbar; doch Jonas hatte eindeutig schon vorher mit dieser verbogenen Biederkeit keine Probleme, gegen die Generationen von AutorInnen angeschrieben haben. Nicht zufällig zeigt eine Erinnerung an das mit der Katastrophe verlorene Glück von einst Jonas entspannt über ein Kreuzworträtsel gebeugt.

Das ist nicht der einzige Paradigmenwechsel, den der Erfolg dieses Romans anzeigt. Obwohl Jonas' Bewältigungsstrategien mit dem unbeschränkten und lustvoll ausgelebten Zugriff auf Sportwägen, Motorräder und Videokameras Züge verwirklichter Knabenträume tragen, stattet ihn der Autor mit einer für männliche Protagonisten unüblich heftigen Neigung zum Somatisieren aus. "Das Kribbeln war auf seinen ganzen Körper übergegangen. Ihn schwindelte. ... Er roch scharf nach Schweiß. Seine Kiefer krampften sich aufeinander." Ein simpler Tausch des Personalpronomens - und Sätze wie diese ließen sich nahtlos in einen Roman von Marlene Streeruwitz einfügen. Jedenfalls scheint das Paradigma der komplexen Bernhard'schen Satzgefüge mit dem schwierigen Spiel von Konjunktiv I und II, das vielleicht nur Werner Kofler gänzlich gemeistert hat, endgültig ausgedient zu haben.

Die Arbeit der Nacht

Roman von Thomas Glavinic

Hanser Verlag, München 2006

395 Seiten, geb., e 22,10

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