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Wie erzeugt man einen Europäer?

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Wie erzeugt man einen Europäer? Gar nicht, denn es ist absolut unmöglich, und ich will zu erklären versuchen, weshalb.

Anscheinend kann man ja alles erzeugen, oder fast alles. Der synthetische Mensch allerdings hat das Licht der Welt bisher noch nicht erblickt, doch können wir uns schon ruhig auf ihn freuen: seine Konzeption ist bereits erfolgt, also dürfte er eines Tages wohl auch geboren werden. Dieser Mensch wird alles Mögliche sein, ganz sicher aber kein Europäer.

Zur Stützung dieser kategorischen Behauptung möchte ich vor allem zwei Beispiele anführen, die — durch Kontrastwirkung — erhellen werden, wie sehr ich recht habe.

Da man immer von den einfachsten Fällen ausgehen soll, fragen wir uns also einerseits, wie man einen Yankee, andererseits, wie man einen Sowjetbürger erzeugt.

Als Rohmaterial für einen guten Durchschnittsamerikaner nehme man ja keinen Mohikaner,- diese Urbewohner der Wälder und Felsgebirge, die einzigen echten, von Kolumbus entdeckten Amerikaner, gehören fortan dem Bereich des Mythos, unserer Kindheit, Fenimore Coopers an -T- rühren wir nicht an siel Aber man nehme zwei Europäer womöglich verschiedener Nationalität, verheirate deren Sohn mit der Tochter zweier anderer Europäer, warte eine Generation lang und wiederhole diesen Prozeß vier- oder fünfmal. Sobald Schmidt, Sohn des Schmidt, Smith heißt, ändere man seinen Stammbaum und leite seine Abkunft in gerader Linie von den englischen Auswanderern der „Mayflower“ her. Diese Karavelle scheint mehrere hunderttausend Passagiere transportiert zu haben — ein Smith mehr wird sie daher nicht zum Sinken bringen. Nun bringe man dem jungen Mann Lincolns berühmten Satz über die Regierung eines Volkes durch das Volk und für das Volk, zwei Strophen des „Star-Sprangled-Banner“, das Baseballvokabularium sowie die Dollarpreise bei und lehrte ihn, „yed“ statt „yes“ zu sagen, beim Gehen stark die Hüften zu bewegen und sich die Zähne mit Kaugummi zu putzen. Das so erhaltene Produkt psycho-analysiere man, schüttle es im Negerrhythmus tüchtig durch, wickle es (moralisch) in Cellophan und serviere möglichst frisch.

Die Erzeugung eines Sowjetbürgers ist bedeutend weniger zeitraubend: man nehme einen Russen, übergebe ihn dem MVD (einer Art DDT zur Reinigung von subversiven Ideen) und lasse den Vorhang fallen.

Was aber nähme man zur Erzeugung eines Europäers? Mischt man auf gut Glück unsere sämtlichen Nationalitäten, so erhält man bestenfalls einen verpatzten Amerikaner. Willkürliche Farbenmischungen ergeben ein schmutziges Braun. Man kann auch kunstvollere Zweier- oder Dreierkombinationen versuchen — etwa Spanier mit germanischer Kultur, Christen mit mehr oder weniger marxistischem Sozialismus oder englische Juden mit englischen Konservativen mischen — und wird auf diese Weise manchmal bemerkenswerte Resultate erzielen: Ortega, Sir Stafford Cripps, Dis-raeli. Viele dieser Kombinationen aber werden steril bleiben. Eine Kreuzung von Katholiken mit Juden ergibt keine Protestanten, die von Marx mit Maurras keine Liberale, die von Franzosen mit Deutschen keine Schweizer. Ich halte jeden Versuch, durch solche Verfahren den synthetischen Durchschnittseuropäer zu erhalten, für hoffnungslos: unsere Tugenden, unsere Uberzeugungen, unsere sehr vitalen Vorurteile würden sich in einem einzigen Individuum nicht summieren, sondern neutralisieren und gegenseitig aufheben.

Das Problem ist eben an und für sich unlösbar. Denn, neigt der Amerikaner zum Durchschnitt und ist der Sowjetbürger das Ergebnis einer Planung, so besteht die Wesenheit des Europäers ja gerade darin, daß er anders ist und anders sein will als sein Nachbar oder irgendwelche Modelle. Der Durchschnittseuropäer, der ein Inbegriff sämtlicher einander widersprechenden Tugenden und Fehler des Kontinents wäre, existiert also nicht und kann nicht existieren. Es gibt nur Franzosen, Dänen, Kroaten; Ketzer, Ungläubige und Papisten; schwedische und lutherische Sozialisten, spanische und atheistische Anarchisten, österreichische und katholische Konservative; unbekümmerte Monegassen und motorisierte Kämpfer für den Weltfrieden. Es gibt nur Menschen, die gewohnt sind, sich voneinander zu unterscheiden, und gerade das — und nur das — nennt man Europa. „Einen Europäer schaffen“ hieße daher etwas zu schaffen versuchen, das nichts Europäisches mehr an sich hätte.

Warum will man denn eigentlich Europäer fabrizieren? Einzig und allein, weil man die 25 souveränen Staaten des Kontinents zusammenschließen möchte. Aber wie wir soeben feststellten, wäre es fruchtlos, sich diese Einigung als Mischung vorzustellen.

Wir müssen Europa schaffen, das Ist unsere Aufgabe. Und um es zu schaffen, müssen wir von den 300 Millionen realer Menschen ausgehen, die den freien Teil unseres Erdteils bevölkern. Wir müssen sie nehmen, wie 6ie sind, mit ihren zwanzig Nationen, drei Religionen, zwölf Sprachen, sechsunddreißig Parteien und unzähligen verschiedenen Sitten (die natürlich alle denen des Nachbarlandes überlegen sindl) Und da man die Einigung auf etwas gründen muß, das allen gemeinsam ist, besteht die Aufgabe darin, den 300 Millionen Männern und Frauen klarzumachen, daß ihr Wunsch und Wille, jeder nach seiner Fasson selig zu werden, eben das ist, was 6ie gemeinsam haben. Dies unterscheidet sie als Einheit von den Russen und von den Amerikanern, dies ist das paradoxe Prinzip ihrer tiefen Gemeinsamkeit.

Das Menschlichste an jedem Menschen ist sein plötzlich erwachendes — und für den Jüngling beängstigendes — Gefühl, der einzige seiner Art, ein absoluter Einzelfall zu sein. Das Europäischeste an den Bewohnern unseres Kaps ist ihr Gefühl, vor allem andern einer ganz bestimmten Familie, Region, Heimat, Sitte und Sprache anzugehören und es als Freiheitsverlust zu empfinden, wollte man sie an der eigenen, von der der andern verschiedenen Lebensweise hindern. Ein schlagender Beweis dafür ist der landläufige Vorwurf, den wir — mit Recht oder Unrecht — Amerika machen: „Dort drüben“, hört man immer wieder, „ist ja alle so ähnlich!“ (Was sollten wir da erst von andern Ländern sagen, deren Bürger nicht die Mode, sondern die Polizei „gleichschaltet“!)

Gewiß, es gibt noch andere Bindungen zwischen den Menschen Europas. Ihre Zivilisation, ihre geistigen Werte, ihre Staatsformen, ja sogar ihre Sitten und Gebräuche sind gemeinsames Erbe. Die Vorstellung von Liebe, Revolution, politischer und moralischer Freiheit — um nur diese drei großen Beispiele zu nennen — ist bei allen unseren Völkern so ziemlich die gleiche. Sie ist eine ganz ander — ja sie fehlt manchmal sogar völlig — in Sowjetrußland und Asien.Wir haben vieles gemeinsam, viel mehr als wir glauben. Nidits aber eint uns fester als diese Leidenschaft für Unterschiedlichkeit, die für uns unlöslich mit wirklicher und persönlicher Freiheit zusammenhängt.

Zur Rettung dieser unserer Verschie-denartigkeit brauchen wir die Föderation. Wollen wir Franzosen, Waadtländer, Schotten oder Sachsen, wollen wir w i r selber bleiben, so ist keine Minute zu verlieren, so müssen wir unsere Hilfsquellen zusammenströmen lassen. Schließen wir uns nicht noch in letzter Stunde zu dieser freien Union zusammen, so werden wir gewaltsam unifiziert, in Reih und Glied gezwungen oder kaltlächelnd liquidiert werden.

Europäische Büdungsarbeit besteht also nicht. :n der Züchtung eines Durchschnittseuropäers, sondern in der Weckung des Bewußtseins unserer Freiheiten und in der Stärkung unseres Willens, sie zu schützen.

Europäische Bildungsarbeit hat immer wieder darauf hinzuweisen, daß es ohne das Recht auf Unterschiedlichkeit kein schöpferisches Gespräch gibt. Daß dies den Wert Europas ausmacht. Daß gerade dies bedroht ist. (Jnd daß es keine Hoffnung mehr gibt außer in der Union — in jener, die unsere Spaltungen überbrücken will, um unsere Vielfalt zu retten.

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