Wie gewonnen, so zerronnen

Werbung
Werbung
Werbung

Clemens Meyer schaut auf die Schattenseite der Gesellschaft.

Der Roman beherrscht die literarische Szene. Erzählungen haben es schwerer Beachtung zu finden. Wenn Buchpreise, wie umstritten die Nominierungen und die Preisverleihungen auch immer sein mögen, einen Sinn haben, dann nicht nur jenen, Autoren finanziell zu beglücken, sondern auch jenen, auf Bücher aufmerksam zu machen. Umso erfreulicher, dass immer wieder Erzählbände den Weg in diverse Nominierungslisten finden, wie nun Clemens Meyers "Die Nacht, die Lichter", der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2008 nominiert worden ist.

Erzählungen hätten einige auch außerliterarische Vorteile für Leserinnen und Leser. So entgegnen sie dem Argument "keine Zeit zum Lesen" mit der Verlockung: ein paar Seiten gehen sich eher einmal aus und wenn man das Buch für längere Zeit zur Seite legt, verliert man deswegen nicht den Faden, wie es einem bei 700 Seiten starken Romanen womöglich passiert. Umso erstaunlicher, dass Erzählungen keinen größeren Stellenwert haben, in einer Zeit, in der die Zeit so sehr Thema ist.

Dann: kurze Erzählungen lassen anhalten. Romane entwickeln oft diesen berühmten "Sog", der einen manchmal dazu bringt, gar nicht mehr aufhören zu wollen mit der Lektüre. Erzählungen unterbrechen alleine schon dadurch, dass die Story, kaum hat man sie angelesen, schon wieder aus ist, dass die Welt, die da entworfen wird, kaum ist man in sie eingetreten, einen schon wieder auswirft.

Und dann sitzt man da. Verdattert oft. Noch beeindruckt vom Bild, das vielleicht gerade gekippt wurde. Verwirrt. Und möglicherweise liest man, bevor man weiterliest, eine Story daher gleich noch einmal. Das wäre großartig, denn: das ist Lesen.

Unter Clemens Meyers "Stories" sind einige, die dazu einladen, sie nochmals zu lesen. Es sind vor allem jene Geschichten, in denen die Bilder kippen mit dem Bewusstsein der Figuren, in denen Zeit und Raum wechseln, weil die Erinnerung plötzlich ins Gegenwartsbild eindringt, und in denen der Traum in die Realität ragt und umgekehrt, so dass nicht nur der Täter nicht weiß, dass er gerade getötet hat, sondern auch die Leserin unsicher wird: werden diese Ansichtskarten von fernen Sehnsuchtsländern wirklich geschrieben oder schreibt sie sich einer selbst.

In Meyers Erzählungen geht es eher trist zu. Der 1977 in Halle/Saale geborene Autor, der in Leipzig lebt, erzählt von jenen Menschen, denen das vollste Interesse der Politik gelten sollte. Aber Politik ist kein Thema. Auch wenn einige Geschichten in Leipzig situiert sind: Meyer erzählt keine Geschichten von "nach der Wende", keine Geschichten nur vom "Osten". Man kann hier Begriffe wie "Modernisierungsverlierer" oder "Hartz IV Opfer" ins Spiel bringen - in ihrer Allgemeinheit sagen sie viel weniger als die einzelne Geschichte, die dort eintaucht, wo es wehtut.

Da haben sie einer offensichtlich schon den Strom abgestellt, der Sohn bemerkt es, sagt aber nichts und verabschiedet sich, sie hat sein dunkelblaues Auge nicht bemerkt. Der andere landet bei Pferdewetten, um seinem alten Hund die teure Operation bezahlen zu können, ein Mädchen will sich aus dem Flüchtlingsschiff boxen, ein Schwarzer wird verfolgt und attackiert - und immer wieder Knast und Boxer und Alkohol. Erschreckend: die Aussicht auf irgendeine Veränderung zum Besseren fehlt.

Es ist sehr viel Nacht in diesen Erzählungen, wörtlich als Zeit der Handlung und im übertragenen Sinn. Aber der Titel einer Erzählung "Die Nacht, die Lichter" erzählt, dass da doch auch Lichter sind. Es sind aber nur kleine Glücksmomente, die hier aufleuchten dürfen, und wer im Spiel gewinnt, wird sich am Gewonnenen nicht lange freuen: schon ist es zerronnen. Oft liegt das Glück ohnehin nur in der Phantasie. Da muss für den Warenverräumer im Großmarkt schon das Geräusch der Hydraulikanlage eines Staplers an die Wellen des Meeres erinnern. Das Meer selbst ist weit.

Die Nacht, die Lichter

Stories von Clemens Meyer

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008

265 Seiten, geb., € 19,50

Auch als Audio CDs erhältlich:

210 Min, Sprecher: Michael Hansonis. Der Audio Verlag 2008, € 19,99

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung