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Wie Lenin den Geist austrieb

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Die Zeit, in der jeder Pariser Taxler und Hotelportier mindestens ein russischer Großfürst war.

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Die Zeit, in der jeder Pariser Taxler und Hotelportier mindestens ein russischer Großfürst war.

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Russische Emigranten: das waren in den zwanziger Jahren Aristokraten, die sich als herrschaftliche Chauffeure oder reich betreßte Türsteher vor feinen Hotels verdingten. Damen mit hartem Akzent, die sich als Großfürstinnen ausgaben, echte Großfürstinnen, die Nähstuben betrieben, Donkosaken, die rund um die Welt mit traurigen Liedern ihr Heimweh kundtaten.

Näheres kann man im Buch „Der große Exodus” nachlesen, das Karl Schlögel herausgegeben und zu dem er Beiträge von Spezialisten aus vielen Ländern Europas, Asiens und Amerikas gesammelt hat. Er betont, daß es sich um eine erste Bestandsaufnahme, den Beginn einer notwendigen Forschungsarbeit handelt. Wir wissen nicht einmal, wieviele Untertanen des Zaren ihre Heimat verließen, nachdem 1917 Lenin an die Macht gekommen war. Er konnte weder Aristokraten noch weiße Offiziere noch Kulaken (echte oder sogenannte Großbauern) brauchen. Der Exodus bis 1941 umfaßte aber weitaus mehr Menschen, als den Schöpfern des „Neuen Menschen” überflüssig erschienen. Vermutlick waren es rund zwei Millionen, darunter hochqualifizierte Fachleute allerSparten - ein gewaltiger Aderlaß.

Man gewöhnte sich in Deutschland bald an Namen wie den der Bühnenbildnerin Ita Maiimowna oder der Tänzerin Tatjana Gsovsky, bewunderte in Paris den Sänger Fjodor Schal-japin, kannte den Religionsphilosophen N. A. Berdjijev, die Schriftsteller D. S. Merezkovikij und A. I. Kuprin. In Paris, wo sich schon im 19. Jahrhundert prominente Russen gerne aufhielten, gab es bereits eine „Tur-genev-Künstler-Gesellschaft”.

In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution war der Sieg der Bol-schewiki noch keineswegs sicher. Nach jeder Niederlage der Weißen kamen die Besiegten zu Tausenden in die Türkei oder nach Finnland oder suchten im Mittelmeer einen Hafen.

Sie hatten sich noch längst nicht mit dem Verlust der Heimat abgefunden, warteten auf den Zerfall von Lenins Staat. Gegen Lenin waren sie alle, um tereinander aber in unzählige Grüpp-chen, in das ganze politische Spektrum der Zeit geteilt. Die Aufnahmebereitschaft der Staaten war unterschiedlich. Frankreich litt an einem starken Geburtenrückgang und konnte nach den Kriegsverlusten europäische Einwanderer brauchen. Bulgarien war traditionell russophil. Wie im jungen Jugoslawien gab es hier keine unüberwindlichen Sprachprobleme. In beiden Ländern war vor allem Intelligenz gefragt, wurden Techniker gerne aufgenommen. Der kulturelle Ertrag der Einwanderung war auch für Jugoslawien beträchtlich. In die baltischen Staaten, die eben ihre Unabhängigkeit von Rußland erlangt hatten, und nach Finnland strömten vor allem die Angehörigen der geschlagenen weißen Armeen.

Zielbewußt lenkte Th. G. Masaryk die Einwanderung von Russen in seine neu gegründete CSR. Die von ihm gegründete „Russische Hilfsaktion”, die den Glauben an ein demokratisches Rußland noch nicht aufgeben und sich auf Hilfe zur Etablierung eines solchen Regimes vorbereiten wollte, wählte die Einwanderer aus: am liebsten die Intelligencija, zum Nutzen der CSR, aber auch zur Ausbildung junger Russen für Aufgaben in der Heimat. Viele Russen, die in österreichische Kriegsgefangenschaft geraten waren, blieben in Böhmen. Tschechen, die sich in Sibirien der „Tschechischen Legion” angeschlossen, zum Teil aber mit bolschewistischen Ideen „infiziert” hatten, kamen in die Heimat zurück.

Noch im Sommer 1922 wies Lenin viele Geistes- und Naturwissenschaftler und Techniker aus. Masaryk nahm sie gerne auf. Prominente russische Politiker fanden sich in Prag ein, aber auch Literaten wie Avercenko, Ciri-kov, Nemirovic-Dancenko. Es wurden russische und ukrainische Hochschulen gegründet, bald sprach man vom „russischen Oxford” in Prag.

Ähnliche Einrichtungen gab es in Frankreich. Wie überhaupt die Emigration eine eigene Infrastruktur entwickelte, mit Schulen, Zeitungen, Clubs und so fort. Je mehr Zeit verging, ohne daß das Sowjetreich einstürzte, umso mehr mußten sich die führenden Köpfe der Emigration fragen, ob ihre Bildungsbemühungen noch dem eigenen Volk oder mehr dem Gastland zugute kommen würden. Schon gab es Autoren, die sich der französischen Literatur zurechneten. Aus Lev Tarasov war Henri Troyat geworden. In der Arbeiterschaft, aber auch unter Intellektuellen zeigte sich, daß man den Russen zwar freundlich begegnete, sich von ihnen aber nicht die Rewunderung für den Bolschewismus ausreden ließ.

Für die Emigranten in Deutschland war die Situation kompliziert. Zu den vielen Emigranten kamen 1,2 Millionen russische Kriegsgefangene, um die sich die roten wie weißen Militärs bemühten, doch blieben viele in Deutschland. Das Reich hatte, wie man allmählich begriff, Lenin und seine Umstürzer etabliert, um Rußland einen Frieden aufzwingen zu können, der von vielen Emigranten als demütigend empfunden wurde.

Der Vertrag von Rapallo mit dem Sowjetreich entzog Deutschland die Möglichkeit, eine zaristische Exilvertretung zu dulden. Hatte man sich trotz allem in Deutschland eingelebt, wurde man auf irgendeine Weise in die politische Polarisierung gezogen. Aber wenn rechte oder antisemitische Emigrantengruppen glaubten, sich an Hitler anlehnen zu können, erfuhren sie spätestens 1941, daß dieser alle Russen für Untermenschen hielt. Froh konnte sein, wer vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Amerika gelangt war. Die Wanderbewegung, die 1917 begonnen hatte, erfaßte mit der Zeit ganz Europa.

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