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Wie sie dennoch leben

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Ein polnischer Konzilsvater erklärte während des Zweiten Vatikanums: „Sie meinen es ja gut, unsere Mitbrüder aus dem Westen, wenn sie für

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Ein polnischer Konzilsvater erklärte während des Zweiten Vatikanums: „Sie meinen es ja gut, unsere Mitbrüder aus dem Westen, wenn sie für

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die verfolgte Kirche hinter dem Eisernen Vorhang Gebete anordnen; doch eigentlich sollte es umgekehrt sein: wir, die Starken im Glauben, müßten für die Katholiken der sogenannten freien Welt beten, auf daß sie den Anfechtungen und der geistig-seelischen Zersetzung widerstehen, die von allen Seiten auf sie eindringen. Wir sind weniger bedroht als sie.“ Und ein anderer Theologe im vertrauten Gespräch: „Niemand wird der Kirche im Ernst blutige Verfolgung wünschen. Aber ein bißchen Bedrängnis und Bedrückung tut ihr wohler als satte Zufriedenheit.“ An derlei nur scheinbar paradoxe Äußerungen wird man oft beim Lesen des Sammelwerkes „Polnisch leben — Stimmen polnischer Katholiken“ gemahnt.

Es Ist dies eine Blütenlese von Aufsätzen, die vor einiger Zeit An den führenden katholischen Presseorganen des Landes an der Weichsel erschienen: der Krakauer Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ und der von demselben Personenkreis herausgegebenen Monatsschrift

„Znak“. Einem alten publizistischen Brauch dar Polen entspricht es, Umfragen unter den Lesern zu veranstalten. Die besten Antworten werden preisgekrönt und veröffentlicht; mitunter druckt man auch weitere, nicht prämiierte Einsendungen ab und honoriert sie zu den für Artikel üblichen Sätzen. Sämtliche Aussagen des Bandes, den der durch seinen wachen Sinn für Ostfragen rühmlich bekannte Münchner Verlag Biederstein in einer gut lesbaren deutschen Übertragung von Willy Gromek herausbringt, stammen also von „Amateuren“, nicht von berufsmäßigen Schriftstellern oder Journalisten, sondern von Menschen wie du und ich.

Intellektuelle sind darunter, Techniker, Hausfrauen, Studenten, jung und alt, arm und... Hier halte ich inne. Arm und reich? Reiche gibt es k$jne in-.Polen, außer, vereinzelten Großverdienern, Geschäftemachern mit* einem* Fuß im Kittchen. Sonst kennt man nur eine schmale Elite privilegierter Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, führender Ärzte, leitender Architekten, Ingenieure und •Generaldirektoren, die „gut verdienen“, sodann eine breitere Schicht von Initelllekituellien und Beamten (einschließlich Parteibonzen), die mittlere bis geringe, aber gerade noch erträgliche Einkommen beziehen, und die Masse der elend bezahlten und schuftenden kleinen Leute. Wobei es, im großen und ganzen gesehen, den Bauern noch am besten geht, gefolgt von den Arbeitern, und am jämmerlichsten — sieht man von den Outcasts der sozialistischen Gesellschaft ab, den Altersrentnern — dem Heer der Angestellten, von denen viele Gymnasial- oder Hochschulbildung besitzen. Denn das sind, ökonomisch gesehen, Proletarier, aber mit Kenntnissen und Bedürfnissen, die dem Landwirt oder Industrieroboter vorwiegend fremd sind.

Alle Männer und Frauen — beide Geschlechter sind in gleicher Zahl vertreten —, deren Beiträge hier vorliegen, gehören der wirtschaftlichen Mittel- und Unterschicht an. Haben die finanziell Bessergestellten weder Zeit noch Lust, ihre Gedanken und Gefühle schriftlich niederzulegen, oder fehlt ihnen einfach der Anreiz des zu erwartenden Preises beziehungsweise Honorars? Wie dem auch sei, durch die meisten Texte zieht sich wie ein (wahrlich) roter Faden zwar nicht die schreiende Not, doch Bedürftigkeit, Geldmangel, das Fehlen vieler Dinge, die in unserer bürgerlichen Gesellschaft das Leben angeblich erst lebenswert machen. Heiraten, einen Familienstand gründen, die Kinder erziehen, sich selbst fortbilden und es im Leben „zu etwas zu bringen“ — das sind in Polen, wie anderswo, die Leitmotive aller, die noch nicht zerbrochen und gescheitert sind oder freiwillig verzichtet haben. (Doch auch solcher, die mit einer Nestroyfigur bekennen könnten, „die edelste Nation sei die Resignation“, gibt es unter den hier zu Wort kommenden eine erschütternd große Zahl) x Um diese Leitmotive rankt sich der aufreibende Kampf gegen Kräfte, die sich dem einzelnen unüberwindlich gegenüberstellen — eine allmächtige, sture Bürokratie, zwar kein wirklicher Polizeiterror, doch weitgehende Rechtsunsicherheit und Willkür, wirtschaftliche Fehldispositionen auf der ganzen Linie, ungenügende Reallöhne, zuwenig Konsumgüter und die vorhandenen allzuhäufig in minderer Qualität, ein hoffnungslos schwerfälliger Verteilungsapparat, dazu schlechte Arbeitsmoral, Gleichgültigkeit, Äbgestumpftheit, Unehrlichkeit und das Nationallaster des Alkoholismus.

Von all dem legen Beiträge auf Beiträge Zeugnis ab; immer wieder erscheinen dieselben Themen — Sehnsucht nach einer menschlichen Wohnung, Erfahrungen mit Wohnhaugenossenschaften, mühsames Sparen auf einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, einen Fernsehapparat und, als unerreichbare Wunschträume, das eigene Auto und Reisen ins (westliche) Ausland. Viele Einsender betonen jedoch, daß sie das alles nicht halben müssen, daß geistige, seelische, sittliche Werte wichtiger seien. Der Hunger nach Bildung, nach Kulturgütern Ist bei diesen Menschen, die unter schwierigen materiellen Bedingungen existieren, unstillbar. Da sitzt ein angehender Geologe auf seiner Bude am „Arbeiterhotel“ und liest Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ein junger Ehemann, der „wegen , des Wohnungsmangels“ seine Gattin nur am Wochenende zu sehen bekommt, vertieft sich in Joseph Conrads „Lord Jim“. Eine vielgeplagte Hausfrau befaßt sich mit russischen Religionsphilosophen. Ein Techniker fährt nach Feierabend vierzig Kilometer mit der Bahn in die Stadt, um die Oper zu besuchen.

Soweit der weltliche Aspekt des „polnisch lebens“. Was aber den christlichen Leser packt, das ist die lebendige Dreiheit Glaube, Hoffnung, Liebe, die viele dieser Menschen ausstrahlen. Hier wächst ein Geschlecht heran, seit einem Vierteljahrhundert dem Machtapparat eines kommunistischen, atheistischen

Staates ausgesetzt und der ständigen Berieselung durch die materialistische Ideologie des Marxismus unterworfen, die aus allen Massenmedien — mit Ausnahme der kärglich rationierten katholischen Presse — hervorsprudelt und die an der Religion hängen — es praktizieren sie verhältnismäßig mehr Menschen als vor dem Krieg. Gewiß, es lassen sich mancherlei Gegenargumente anführen: der Kirchgang als Protest gegen das Regime, ein mebr folkloristisch-gewohnheitsmäßiger als theologisch fundierter Katholizismus, Widersprüche zwischen den Vorschriften des Katechismus und dem Lebenswandel vieler Scheinchristen, Fortschritte des Indifferentismus und des amtlich geförderten Atheismus unter den Gebildeten und Halbgebildeten... Trotzdem, es genügt das Zeugnis der wenigen Auserwählten, die hier bekennen, um einmal mehr das zu bestätigen, was wir aus so vielen Berichten wissen: Polen bleibt ein katholisches Land, denn es atmet nach wie vor eine vom traditionellen Katholizismus getränkte Aura und es bringt immer wieder Menschen hervor, junge, mutige, durch Prüfungen gestärkte Männer und Frauen, die ihr Christsein mit dem Gefühl empfinden, mit dem Verstand begreifen und in die Tat umsetzen. Wie „Einer von vielen“ es formuliert (S. 174): „Ich bin im Hinblick auf mich selbst und auf meine Nächsten weit von Pessimismus entfernt. Weil ich an die Liebe Gottes zu den Menschen und an die weit- und menschenumwandelnde Kraft des Menschentums glaube.“

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