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„WIEN IST SPEZIFISCH EUROPÄISCH. Paris ist französisch, London ist englisch, Rom italienisch. Zugegeben, Wien ist österreichisch, aber dieser Einwand läßt sich sehr leicht abtun. Es könnte richtig sein, zu sagen, daß Österreich wienerisch ist.“ Mit dieser Formulierung stellte der spanische Philosoph und Schriftsteller Salvador de Madariaga der Stadt an der Donau sein Zeugnis aus. Viele Engländer und Franzosen haben diese Zeilen in seinem „Porträt Europas“ gelesen, und viele sind der gleichen Meinung. Auch wenn dem gar nicht 10 ist.

Historische Romantik, Kultur und wienerisch-österreichische Lebensart haben der Metropole an der Donau den Ruf einer großen Stadt eingebracht. „Wien, die Stadt der Musik, die Stadt der Konzerte und des Lebensstils.“ So steht es auf den Reiseprospekten in New York, in Frankfurt, in London oder sonstwo. Und Tausende von Touristen kommen jährlich nach Österreich, — um Wien zu sehen und um der alten Stadt auf den Spuren ihrer großen Tradition und Geschichte nachzugehen. Heuer sind es besonders die Italiener.

Dann sind es wie immer die durchreisenden Amerikaner, die auf ihrem Europatrip einige Tage Station machen. Keine Nation läßt so viele Frauen allein auf die Reise gehen wie die Amerikaner. In Lebensstil, Kleidung und Geschmack sind sie ein vollendetes Beispiel der Emanzipation. Unauffällig schieben sich in den Strom der Fremden die Franzosen hinein und die Engländer. Sie haben keine Freude am Gruppenpauschal und man merkt es ihrer Unauffälligkeit an. Dann kommen die Deutschen und Schweizer. Sie erscheinen immer dann, wenn es Ostern, Pfingsten oder Sommer wird. Zahlreich, in Gruppen, fröhlich und schaulustig. Ein Bild der perfekten Reiselust.

*

GEHT MAN JEDOCH EINMAL mit den Touristen mit, redet man mit ihnen und horcht ihren Eindrücken nach, so sieht man selbst auf einmal Wien ganz anders. Das Vertraute fällt weg. Neue Perspektiven ergeben sich, ausgehend von den verschiedensten Blickwinkeln der Betrachtung. So sehen viele Amerikaner Wien ganz anders, als Engländer, Franzosen oder Deutsche. Unweigerlich bleibt allen Ansichten aber eines gemeinsam. Und das ganz grundlegend: Jahrhunderte höfischen Lebens haben der alten Stadt ihren Schliff gegeben. Der alte Glanz der Kaiserstadt ist für die Fremden noch immer da. Er liegt auf den großen Promenaden, auf den vielen alten Bauten: Hofburg, Schönbrunn, Oper und Museen; es sind Plätze, die die Fremden nicht immer mit den Augen der Vergangenheit betrachten.

EIN FRANZÖSISCHER PROFESSOR Steht in der Spanischen Hofreitschule und philosophiert in seine Kamera hinein. Er weiß, daß der Wiener Hof zwei Jahrhunderte lang spanisch sprach, und in den exakten Formationen der weißen Lippizaner sieht er den starren Glanz der alten Grandezza auferstehen. Gerade so, wie es vor Jahrhunderten üblich war. Für ihn ist es ganz selbstverständlich, daß überall livrierte Wächter stehen, daß der steinerne Heldenplatz monumental sein muß. Er sieht das Höfische und den Prunk. Er sieht nicht, daß dies alles längst Vergangenheit ist, sondern für ihn ist das die österreichische Wirklichkeit.

Die politische und soziale Entwicklung des Landes, die modernen Bauten und Geschäftsstraßen interessieren ihn nicht. Das pulsierende Leben findet er in Paris auch. Bewegung schwingt in den Straßen jeder Großstadt.

Es zeigt sich besonders bei den Gesprächen mit Franzosen eine oft verblüffende Kenntnis der historischen Tatsachen. Die Grande Nation denkt viel über die eigene Vergangenheit nach, und diese Vergangenheit greift immer wieder hinüber auf den alten Boden der Habsburger.

Hier liegt der Grund zu ihrer histo-

rischen Ausschließlichkeit, mit der sie Wien betrachten. Immer wieder wird nach dem HeTzog von Reichstadt gefragt, und oft ist das Staunen groß, -daß er nicht in Österreich, sondern in Frankreich begraben liegt. Sie schauen in die Wiege hinein, und mi; einem erstaunten „Oh“'hören sie den Erklärungen des Führers zu, drehen sich um und gehen weiter zwischen den Insignien und Kostbarkeiten der Schatzkammer.

Was die Franzosen an Phantasie und Esprit in ihre Fragen und Betrachtungen hineinlegen, das quittieren die Engländer meist kühl, sachlich und konkret. Für sie ist der Pomp einer vergangenen Hofhaltung nichts Antiquiertes. Bei den Führungen durch die kaiserlichen Schau- und Prunkräume stellen sie sehr oft schweigende Vergleiche mit Buckingham an.

Eine alte Dame aus Yorkshire schüttelt bewundernd den Kopf über das eiserne Feldbett Kaiser Franz Josephs. „Wie konnte ein Monarch so spartanisch sein?“ Und die hübsche Kaiserin Elisabeth hat ihr Lächeln nie umsonst für diese passionierten Königstreuen aufgesetzt. Entlang den roten Läufern der Prunkräume werden die uniformierten Wächter wie Lakaien gemustert, und jede unkorrekte Bewegung setzt ihrer Erscheinung in den Augen der alten Lady einen kleinen Schandfleck auf.

Schönbrunn allerdings wird für viele Besucher aus dem Norden zu einem kleinen Versailles. Sie stellen manchmal Vergleiche an, wo gar keine anzustellen sind. Ein Herr aus Skandinavien dreht sich vor dem Portal des Schlosses herum und fragt, ob das die Zeit der österreichischen Sonnenkönige gewesen sei. Der Fremdenführer schweigt; er tut so, als habe er nichts gehört.

*

EINEM SCHOTTEN HAT ES besonders der Rasen angetan. Er bewundert die sorgfältige Pflege und staunt, daß es so etwas auch außerhalb Schottlands gibt. Die zugestutzten Hecken und die feiertägliche Ordnung der Kiespromenaden erinnern ihn an zu Hause. Die Grünanlagen der Innenstadt waren für ihn ein erster Eindruck, der überwältigte. Die Blumenpracht, der Flieder, die Gartenrestaurants und Cafes, — und mit einem Mal entdeckt er selbst mitten im Gespräch, daß für ihn Wien sowohl mit London, als auch mit Paris etwas gemeinsam hat.

Das, was an Paris erinnert, ist in

der Atmosphäre, in den Cafes, auf der Ringstraße zu finden, die so ganz an die Pariser Boulevards erinnert. Es liegt im „taste of music“, der über der Stadt liegt. In weiten Gesten holt er plötzlich aus und entdeckt eine neue Idee: Beide Städte vereint die gemeinsame Gabe der Form. Paris ist literarisch, Wien ist musikalisch.

Das kleine London hat der Schotte hingegen in den vielen Parks gefunden; in der Meierei im Volksgarten, im eleganten Burggartencafe. Mit ihren weißen Tischen und ihrer grünen Gartensauberkeit erinnern sie ihn an die kleinen Teerestaurants im Londoner Hydepark oder in St. James. Nur die Platzmusik der Garde fehlt. Dafür gibt es hier mehr Tulpen, mehr Blumen, die in ihrer Buntheit der Stadt einen einzigartigen Charme aufsetzen.

DER WIENER CHARME, -on dem die Wiener selbst oft gar ..ichts zu wissen scheinen, ist für viele Touristen zu einem Begriff geworden. Die meisten gehen in ihrer Betrachtung und in der Suche danach von außen an sie heran. So waren es etwa für den Schotten die Blumen und das Bunte, die ihm Wien charmant machten. Andere wieder finden diesen Charme in den Cafes und Restaurants. Sie sind entzückt von der höflichen Beweglichkeit der Wiener Ober, auch dann, wenn diese unfreundlich sind. Aber viele verstehen die Sprache ohnehin nicht, und so manches, was gar nicht liebenswürdig gemeint ist, wird im liebenswürdigen Tonfall des Wienerischen aufgefangen und mit einem lächelnden „charming“ quittiert.

Das „goldene Wiener Herz“ ist für viele Fremde noch immer ein Begriff den man gerne nennt und kennt, auch wenn sie bei ihren eigenen kleinen Erlebnissen in der Straßenbahn oder sonstwo zu ganz anderen Wahrheiten kommen. Doch darüber spricht man nicht gerne. Die Wiener Gemütlichkeit ist zu einem absoluten Begriff für das ausländische Urlaubspublikum geworden. Ob sie nun zutrifft oder nicht, man nimmt sie als gegeben hin. Wie lange noch? Ein Schwede, der nun zum achten Mal seinen Urlaub in Wien verbrachte, hat seine Meinung bereits geändert. Er kommt nicht mehr wieder. Einzelfall oder Symptom, die Tatsache der Unerfreulichkeit bleibt bestehen.

DIE DEUTSCHEN DAGEGEN beleuchten die Suche nach dem Charme

von innen her. Sie entdecken dabei das „typisch Österreichische“, eine Lebensart, die sie nie so ganz verstehen können. Sie entdecken plötzlich, daß Wien gar nicht so deutsch ist. Sie nehmen es hin und suchen nach einer Stellungnahme. Sie schwärmen von Gemütlichkeit und schimpfen gegen die Inkonsequenz, die sich sehr oft daraus ergibt.

„Ach wie anmutig ist das Wienerische und wie unkonsequent“, sagt ein junges Ehepaar aus Kassel. Halb ironisch, halb lächelnd quittieren sie den Witz vom deutschen Charme und der österreichischen Gründlichkeit.

UND DER „SCHLEICHHANDEL“ mit Opernkarten blüht. Seltsamerweise fallen sämtliche Eintrittskarten anderer Art, sei es nun Theater oder Konzert, stark dagegen ab. Die Amerikaner zahlen Höchstpreise. Ihr „opera-ticket“ erstehen sie oft mit Preis-

aufschlagen bis zu 200 Prozent. Aber sie nehmen es. Sei es, wie es sei, denn Wien und Musik sind zum Begriff in der Welt geworden.

Die Amerikaner sind es schließlich auch, die den Blickwinkel ihrer Betrachtung am weitesten an den Rand gesteckt haben. Wenn man mit ihnen spricht, so geraten ihre Fragen sehr leicht in den Kreis der Spielzeugperspektive. Europa ist ihnen in vielen Fällen fremd. Sie sind keine Europäer, und die europäische Tradition ist weit weg, in den Schulbüchern geblieben.

Auf den Europareisen oder Weltreisen besuchen sie ein paar Tage Wien. Spanische Hofreitschule, Citytours mit dem Reisebüro, die Wiener Sängerknaben und eine Opernkarte. Dann noch Demel, Sacher und die Suche nach der Wiener Gemütlichkeit, für die der Brinkley-Report des vorigen Jahres in den Staaten die große Werbetrommel gerührt hat. Dies alles zusammengerechnet und ein Besuch bei Karas' Heurigem „Zum Dritten Mann“, — und Wien ist in ein neues Blickfeld der Verzauberung hineingerückt, wie wir selbst es gar nicht kennen.

„EINE ART VON RESIGNATION ■ liegt über der Stadt“, sinniert ein | amerikanischer Soldat aus Wiesbaden, der seine Urlaubstage in Wien verbringt. „Warum sieht man so wenige Kinder auf den Straßen? Fast nur Erwachsene und alte Leute. Wo stecken : die Kinder? Sie sollten sehen, wie das bei uns in den Staaten ist.“ Es ist eine s Frage von vielen.

DIE NÄHE DES EISERNEN VOR-I HANGS hat Wien für viele Amerikaner an den Rand Europas gerückt. Der romantische Beiklang ist groß, und die kamerabewaffneten Sternfahrten zum Eisernen Vorhang sind sehr beliebt. Hier liegt die neue Art der Verzauberung: Wien, die Stadt am Rand der westlichen Welt.

Man spürt das romantische Gruseln, daß der Osten so nahe ist. Nicht stark genug, um real zu sein, aber doch spürbar in den kleinen Fragen, deren Antworten nachdenklich machen.

Denn, daß Wien auch wächst, daß Neues geschaffen wird, daß Schulen und Hörsäle offenstehen und daß Kongresse stattfinden, einer nach dem andern, das interessiert viele Touristen nicht. Ihre Bilder und Eindrücke suchen sie sich selbst. Manchmal ohne viel zu wissen. Immer ohne viel zu tfraeen.

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