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Wie tot ist Lueger?

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Dumpf tönt die Glocke über der großen Totenstadt vor den Toren Wiens. Ihr Ruf kommt von dem Turm jener Kirche, die den Namen Dr. Karl Luegers trägt und in deren Krypta dieser auch inmitten seiner Wiener die letzte Ruhe gefunden hat.

Inmitten seiner Wiener: das ist mehr als eine gefällige Redewendung. Der Bürgermeister Dr. Karl Lueger, der einer Epoche österreichischer Innenpolitik und Wiener Stadtgeschichte einen Namen aufprägte, hat sein Wien inzwischen wieder um sich versammelt. Vivat- und Pfui-Rufer, ergebene Kampfgefährten und unerbittliche Gegner aus den Tagen harter politischer Kämpfe vor und nach der Jahrhundertwende ohne Ausnahme und Unterschied sind sie in dem abgelaufenen halben Jahrhundert, das uns nun von dem 10. März 1910 trennt, dem Tag, an dem Lueger seine Augen für immer schloß, denselben Weg gegangen. Heraus aus den lärmerfüllten Mauern der Lebenden, hinüber in die stille Stadt der Toten . .. Leopold Kun-schak und Dr. Karl Renner haben gleichsam symbolhaft für Freund und Feind nahe dem Sarkophag Luegers letzte Posten bezogen. Wer aber noch als Kind oder junger Mensch am Rande des großen Trauerzuges Luegers gestanden ist, der sich zu einer der letzten großen Manifestationen des alten Österreichs gestalten sollte, mag heute im weißen Haar zurückblicken und still die Worte sprechen: „Vorbei die Zeit...“

Fünfzig Jahre ist Lueger tot. Der Sturm eines halben Jahrhunderts — und was für eines halben Jahrhunderts! — ist über Wien und Österreich hinweggegangen. Ein altes Reich zerbrach, Revolutionen und Bürgerkriege erschütterten die Gesellschaft. Zu guter Letzt haben die Ausläufer einer Weltkatastrophe und hernach die Vorboten jener gewaltigen zweiten technischen Revolution, in der wir mitten drinnen stehen, die „Welt von gestern“, die nicht nur die Stefan Zweigs, sondern auch jene Karl Luegers war, von Grund auf umgepflügt und für ein neues Saatgut bereitet. Der Boden ist jedoch noch immer derselbe. Noch mehr: Freunde und Gegner Luegers von einst haben ihre Söhne und Enkel gefunden, die — sei es auch nur zur Feier und zu Festtagen — den politischen Ahnen ihre Reverenz erweisen. Um so reizvojler ist es einmal, nicht nur des toten großen Mannes zu gedenken und sein Leben an uns in Bildern gleich einem Film vorüberziehen zu lassen, um nachher unbeteiligt wieder an unsere Tagesgeschäfte zu gehen. Nein: etwas anderes drängt sich auf. Die Frage, was ist von dem „Phänomen Lueger“ auch heute noch in der österreichischen Innenpolitik, insbesondere in jenem politischen Lager, das sich vor seinem Andenken beugt, Wirklichkeit und was blutleere Devotion: Mit anderen, härteren Worten: Wie tot ist Lueger?

Das „Phänomen Lueger“. Als solches erscheint uns zunächst die Tatsache, daß Lueger bekanntlich seine Partei nicht fix und fertig vorgefunden hat, daß er nicht in ihrem Apparat durch geschickte Techniken und Machinationen emporgestiegen und schließlich „zum Zug gekommen“ ist. Genau das Gegenteil war der Fall. Mehr noch: „Die Geschichte der Christlichsozialen Partei beginnt nicht mit einem Programm, nicht mit einem Manifest, nicht mit dem Beschluß einiger Unzufriedener oder Reformer, sondern mit einem Mann, mit Dr. Karl Lueger.“ Von niemand anderem als Ignaz S e i p e 1 stammt diese Feststellung.

Ein Blick auf die politische Bühne vor dem Auftritt Luegers läßt die Treffsicherheit dieser Worte erst im vollen Umfang erkennen. Man schreibt die goldenen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der Weizen der „Gründer“ steht in hoher Blüte. Während sich im Alten Rathaus die vom Ausdruck echter Freiheitssehnsucht sehr rasch -zur Interessenvertretung des besitzenden Großbürgertums gewandelte Liberale Partei im Besitze uneingeschränkter Macht sonnt, (jringt aus den Vorstädten dumpfes Grollen. Hier sind die Enterbten der großen Prosperität zu Hause. Noch sind die Stimmen des Protests dumpf und unartikuliert, gewinnen aber von Jahr zu Jahr an Schärfe. Dazu kommt, daß die Ideen des Nationalismus und des Sozialismus Österreich erreicht haben und hier im Vielvölkerstaat an der Donau eine besondere Dynamik entwickeln. Das ist der Hintergrund, vor den gestellt wir uns den Sohn des „Patentinvaliden“ Lueger denken müssen, der als junger Rechtsanwalt politische Ambitionen entfaltet. Die Zeit des „Arrangements mit den Mächtigen“ — Luegers Tätigkeit als iiberaler Gemeinderat — ist kurz, die darauffolgende Periode als politischer Einzelgänger bitter. Kein Wunder, daß der zu einem eigenen politischen Weg entschlossene Politiker nach einer tragfähigen Plattform Ausschau hält. Als diese bieten sich die in die verschiedensten Gruppen, Gesellschaften und Reformvereine gespaltenen kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden an.

Als einen Zensus von 5 Gulden zahlend, sind diese unter das Schwungrad der Industrierevolution geratenen Schichten eben zu ihrem Wahlrecht gekommen und politisch deshalb besonders „interessant“. Hier wird gleich eine Schranke sichtbar, die der Tätigkeit Luegers eine Grenze setzt und die zu verrücken auch seinen politischen Erben die größten Schwierigkeiten macht: die Arbeiterschaft bleibt, weil zu jener Zeit noch nicht wahlberechtigt, in ihrer Masse unberücksichtigt.

Innerhalb des Heerbannes, den Lueger aber in der Zeit von zwei Jahrzehnten um sich schart, finden wir die verschiedensten Elemente. Als „Demokraten“ sich vorstellende unzufriedene Liberale, rein wirtschaftlichen Interessen verpflichtete „Gewerbliche Reformer“, gemäßigte Deutschnationale und - verhältnismäßig spät -auch von den Ideen des Freiherrn von Vogelsang angesprochene Christlichsoziale. Die Bauern des flachen Landes stoßen, in eigenen Bünden organisiert, hinzu. Nein: der Leser täuscht sich, wenn er wähnt, wir sprächen bereits von der Österreichischen Volkspartei des Jahres 1960, wir reden noch immer von den Elementen, die Lueger auf seine Person verpflichtet und aus denen er seine Bewegung formt. Aber — und dieses scheint uns entscheidend — Lueger gibt sich eben mit seiner „Wurstkesselpartei“ - so die liebevolle Kritik der Gegner - nicht zufrieden. Er begnügt sich nicht allein, es bei einer „Antiliberalen Liga“ — so der erste Name seiner Partei - zu belassen; auch der spätere Name „Vereinigte Christen“ erscheint noch als ein zu starker Ausdruck des - um ein modernes politisches Wort zu gebrauchen - „bündischen Prinzips“. Eindeutig verpflichtet Lueger seine immer mehr wachsende und von Erfolg zu Erfolg schreitende Partei dem christlichsozialen Gedanken. Hier allein fühlt er inmitten der allgemeinen Gärung einen festen Boden, der über alle Wechselfälle der Zeit hinaus Sicherheit und Bestand verbürgt. Als Gründer und Führer der Christlichsozialen Partei hat Lueger schließlich sein großes kommunalpolitisches Reformwerk in Wien durchgeführt, als Gründer und Führer der Christlichsozialen Partei ist Lueger schließlich auch in die Geschichte eingegangen.

Die Lehren für Gegenwart und Zukunft? „Pluralismus“ ist in der Partei der Enkel Luegers weder etwas Neues noch eine Erscheinung, die uns an sich schrecken muß. Dieser Mangel an „Doktrin“ läßt in diesem Lager, in allen seinen historischen Mutationen, stets der formenden und gestaltenden Persönlichkeit schicksalsvollere Bedeutung zukommen als etwa in den Reihen des österreichischen Sozialismus. Ja es ist erlaubt zu sagen: an einzelnen Männern rankt sich diese Partei stets hinauf, nach ihrem physischen Erlöschen oder Ermatten sind Krisen, ernste Krisen, bis heute nie ausgeblieben. Unter Luegers Führung erobert seine Partei Wien. Ein Jahr nach seinem Tod erleidet sie gerade auf dem Boden der österreichischen Hauptstadt eine Niederlage, die allen Zeitgenossen bis in ihr hohes Alter ein politisches Trauma verursachte. Man darf ruhig sagen: nur der innere Burgfrieden des ersten Weltkrieges verhinderte einen völligen Zersetzungsprozeß unter den Diadochen Luegers. Wer es nicht glaubt oder wer es vergessen hat, der lese in Friedrich Funders „Vom-Gestern ins Heute“ die einschlägigen Stellen. Nach einem Zwischenspiel steigt dann der Stern Seipels und mit ihm der von diesem (umgeformten Partei wieder hoch. Der Todeskrankheit Seipels folgt auch gar bald die Agonie der Partei. Neue Triebe treibt mitten schon im Chaos der alte morsche Stamm: Dollfuß und seine „Vaterländische Front“, ein jäher Aufstieg, ein tiefer Absturz. Nacht über Österreich. Und dann die 15 Jahre seit 1945. Wieder steigt mit einem Mann die Partei, die in diesen Tagen Lueger Kränze windet, wieder gerät sie, mit dessen etappenweisem Rückzug aus der Frontlinie der Politik in eine Krise, die, wie wir uns bemühen zu zeigen, nicht durch vordergründige Veränderungen von heute auf morgen aufgehoben werden kann, weil sie eben in ihrem Wesen den eigentümlichen Lebensgesetzen dieses einst von einem einzigen Mann geformten Lagers entspricht.

Was tun? Die Hände in den Schoß gelegt, fatalistisch die Entwicklung der Dinge abgewartet, bis dem Wellental wiederum ein Wellenberg folgt? Das wäre nicht nur bequem, das wäre letzten Endes das sichere Verhängnis. Eines tut not. Heute mehr denn je. Die Erinnerung daran, daß schon Lueger die Bindung der Partei allein auf eine Person — und war es auch seine eigene — nicht als der politischen Weisheit letzter Schluß erschienen ist. Die Verpflichtung auf das christliche und soziale Gedankengut sowie das rückhaltslose und ungeschmälerte Bekenntnis zu Österreich (nicht zur „Heimat“) sind über alle Zeiten hinweg die festen Bande, die jener Partei Form und Halt geben. Vergißt man das erstere und macht man Abstriche vom letzteren, dann, ja dann erst müßte man mit ernster Sorge die weitere Entwicklung verfolgen. Eine „Antiliberale Liga“ stand am Anfang. Sie war Lueger zuwenig. Eine „Antisozialistische Liga“: das allein ist keine Aufgabe für diese Partei. Das wäre das Ende.

Vor genau sieben Jahren standen wir an der Bahre eines der letzten Kampfgefährten Luegers: Leopold Kunschaks. An die Adresse der Österreichischen Volkspartei schrieb damals Friedrich Funder:

„Ohne Kunschak kerne“ Christlichsoziale Partei in ihrem geschichtlichen Bilde, aber auch keine Österreichische Volkspartei, die — man mag es übersehen oder leugnen, wie man will — doch auf den Ästen des gestrigen Stammbaumes der von Vogelsang, Schindler, einem Alois Liechtenstein, Lueger und Kunschak geschaffenen christlichen sozialreforme-rischen Bewegung sitzt. Nein, das Erbe ist nichts Überwundenes, nicht eine Antiquität für den Glaskasten oder etwa ein Gemälde, das einmal schön war, aber heute bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt ist, so dafl man es am besten als Leinwand für ein neues, ganz anderes verwendet... Eine Partei, die sich — noch dazu in einer Zeit schwerer Bedrohung unseres Volkstums von der sozialen und sittlichen Seite her — verbourgeoisieren, in bürgerliche Bequemlichkeit sich verklausen und dadurch sich aus dem gesellschaftrefor-merischen Wettbewerb mit dem Sozialismus zurückziehen wollte, sie würde darauf verzichten, das Erbe Leopold Kunschaks zu verwalten.“ („Die Furche“, 21. März 1953.) Und das Luegers dazu — so erlauben wir uns am 50. Jahrestag von Luegers Tod hinzuzufügen.

Dumpf tönt die Glocke über der großen Totenstadt vor den Toren Wiens: „Die Toten beklag' ich. die Lebenden ruf ich.“

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