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Wie war Altösterreidi?

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ANDERE ZEITEN. Rückblick Tor dem Absehled. Von Jean de Bourfolnr. Bergland-Verlag, Wien, 1963. 405 Selten, 18 Bildbeilagen. Preis 265 8.

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ANDERE ZEITEN. Rückblick Tor dem Absehled. Von Jean de Bourfolnr. Bergland-Verlag, Wien, 1963. 405 Selten, 18 Bildbeilagen. Preis 265 8.

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Gehaltvolle Biographien sind in den letzten Jahrzehnten selten geworden, um so mehr fällt daher der „Rückblick“ Jean de Bourgoings auf, der die Familiengeschichte dreier Generationen und persönliche Betrachtungen aus achtzig selbsterlebten Jahren bringt. Die Bourgoings sind burgundischen Ursprungs aus dem 12. Jahrhundert, doch Näheres berichtet der Verfasser erst von seinem Urgroßvater und Großvater, die beide im napoleonischen Zeitalter französische Offiziere und Gesandte waren, dann von seinem Vater Othon, der als französischer Diplomat in Österreich-Ungarn und als Gatte der Gräfin Therese Kinsky die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hat. Jean de Bour-going diente in Frankreich als Marechal des logis und brachte es in Österreich-Ungarn bis zum Rittmeister beim 4. Husarenregiment. Wenn er auch im Laufe seines Lebens ein allgemein anerkannter Historiker wurde, dem nicht weniger als fünfzehn Publikationen zu verdanken sind, blieb er doch im Wesen ein unabhängiger Privatmann, der sich restlos der Wissenschaft und der Kunst widmen konnte. Ein echter Grandseigneur und Polyhistor, der noch über ein tiefes Verstehen der Dinge verfügt.

Der Hauptteil der Lebenserinnerungen gilt der österreichisch-ungarischen Monarchie mit ihrer verwickelten Nationalitätenpolitik und ihrer schweren Belastung durch das außenpolitische Geschehen, wobei Kaiser Franz Joseph an vielen Stellen zu beachtende Wertungen erfährt: „Indessen gab es wirklich eine Staatsidee. Kaiser Franz Joseph hat sie (1904) in einer geradezu meisterhaften Klarheit formuliert: .Nicht die geschichtlichen Ereignisse allein haben unsere Völker aneinander geschlossen, sondern absolute Notwendigkeiten ihres Daseins. Deshalb ist die Monarchie auch kein künstliches Gebilde... sie stellt das Asyl für alle nach Mitteleuropa verschlagenen Nationensplitter dar, welche allein zum Spielball jedes mächtigeren Nachbarn werden würden ...' “ Dann ist vom Jahr 1883 zu lesen, es sei, nach einer Feststellung des Bundespräsidenten Dr. Schärf, „aller Ehren wert, daß die österreichische Monarchie schon vor fünfundsiebzig Jahren ein Gesetz der Arbeitnehmer schuf, dessen einsichtige Bestimmungen wir auch heute noch zu würdigen wissen“. Breiten Raum nehmen die Schilderungen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ein, das sich natürlich in Wien konzentriert, und hier begegnet uns im Autor ein ebenso kritischer wie taktvoller Betrachter. Seine Ansichten über die Ringstraße oder den Umbau des Äußeren Burgtores wie der Albrechtsrampe werden mit Interesse gelesen werden. Wie auf politischem Gebiet Magyaren, Deutsche, Engländer und Franzosen manche energische Zurechtweisung hinnehmen müssen, so werden in der Literatur Emil Ludwig, Fülöp-Miller, Zweig und Friedell scharf unter die Lupe genommen, wie es bei anderer Gelegenheit der Verfasser mit seinem „Lettre patente au general Wey-gand“ mit Mason, Aubry, Madelin und Bibl getan hatte. Zweifel am dokumentarischen Wert von Memoiren werden mit der Meinung widerlegt, diese sind „unentbehrlich, da sie mehr von Sitten und Gebräuchen vergangener Zeiten als andere Schriften erzählen. Sie sind besonders dadurch verläßliche Unterlagen, daß ihre Autoren gewöhnlich nicht wie Persönlichkeiten, die auf verantwortungsvollen Posten gestanden oder sonst irgendwie im öffentlichen Leben tätig waren, sich zu rechtfertigen hatten oder zur Geltung bringen wollten.“

In einer Analyse der Republik Österreich und ihrer Aufgaben spricht sich Bourgoing für eine Staatenkoordination im Donauraum aus. Die Mission, einer solchen Kooperation zu dienen, obliege dem heutigen Österreich. „Eine seriöse Historik, welche die Leistungen aller Stämme in der Vergangenheit schildert, ohne zu beschönigen oder zu verschweigen, ohne patriotische Gefühle einzelner Nationen zu verletzen, kann mehr als alle anderen Bemühungen zum Ziele führen.“ Bemängelt wird das nach 1918 da und dort geübte „Entstellen der historischen Wahrheit als eine neuösterreichische Eigenart“. Allzu viele Österreicher vergessen, „daß sie die Erben des Jahrhunderte hindurch achtunggebietenden Namens .Österreich' sind ... Angesichts der Tatsache, das heutige Österreich verdanke sein Ansehen dem nicht ganz verblichenen Glanz (Altösterreichs), ist zu beklagen, daß die Verdienste der früheren Generationen wegen der Scheu, als Reaktionär angegriffen zu werden, nicht wie in anderen Ländern nach Gebühr anerkannt sind.“

Der Abschnitt „Zwischen zwei Stammländern“ befaßt sich mit Frankreich und Österreich mit dem Hinweis, „wie wenig Menschen die Vorteile einer Verbundenheit mit anderen Nationen zu erfassen vermögen und sich nicht von einer imaginären Überlegenheit anderen Nationen gegenüber zu emanzipieren verstehen“. Erinnert wird dabei zutreffend an Talleyrand, der Napoleon I., als dieser eine Zertrümmerung Österreichs erwog, ermahnte: „Einmal in Trümmer gelegt, wäre es nicht einmal in Euer Majestät Macht, die Trümmer wieder in eine Masse zu vereinigen, die für das Heil der zivilisierten Nationen unentbehrlich ist.“

Nicht minder lehrreich ist das letzte Kapitel „Keine Revanche für Königgrätz“, die aufregenden Jahre zwischen 1866 und 1870 beleuchtend und das Vorgehen der Wiener Politik in dem Satz zusammenfassend: „Tadelfrei sind Kaiser Franz Joseph und sein Außenminister aus den pausenlos aufeinanderfolgenden Krisen hervorgegangen, ohne ein Wort des Ressentiments zu äußern.“

Diese wenigen Andeutungen lassen den unschätzbaren Inhalt von Bourgoings „Rückblick“ erkennen, es ist ein kostbarer Niederschlag der Weisheit des Alters und ein wunderbares Beispiel für vornehm-dankbare Gesinnung der Wahlheimat Österreich gegenüber. Für die lebenden Generationen und für alle Zukunft, ganz besonders aber für das Ausland, liegt in der zu einem historischen Panorama erweiterten Biographie ein fruchtbares Erbe vor, das jedem, der es übernimmt, von großen Nutzen sein muß. Den Inhalt des Werkes könnte man mit Recht auch durch die Frage andeuten: Wie war Altösterreich?

Sosehr es zu verstehen ist, daß bei der staunenswerten Überfülle an genannten Personen der Verlag von einem Register Abstand genommen hat, muß man dessen Fehlen doch bedauern.

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