(Wieder) gefundene Zettel

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Péter Nádas' jüngste Notizsammlung enthält "Freiheitsübungen" aus den Jahren nach der Wende.

Wer nur ungarische Zeitungen liest, ungarisches Radio hört und ungarisches Fernsehen schaut, erfährt nicht nur nicht, was vor sich geht und ging, wie es zu dieser oder jener Entwicklung gekommen ist, er begreift auch nicht, wie das alles mit dem Rest der Welt zusammenhängt. Er fragt sich nicht, ob die Wirklichkeit seiner eigenen Welt andere unwirklich anmutet. Wer seine eigene Isolation liebt, braucht nicht fragen, wofür er sich interessieren soll", räsoniert Péter Nádas launig über seine Zeit- und Landesgenossen, denn schließlich bewahrheitet sich hier eine alte Weisheit: "Sehr vieles muss sich verändern, damit alles beim alten bleiben kann."

Freiheitsübungen nennt Nádas seine Notizen. Freiheitsübungen, gesammelt in den Jahren nach der Wende. Es sind Kürzestgeschichten, Aphorismen und Beobachtungen, festgehalten zwischen 1989 und 1999, den Jahren, in denen sich alles veränderte, und doch so vieles beim alten blieb. Und die versammelten Texte sind keineswegs nur politischer Natur. Die Beschreibung eines ungarischen Erste-Klasse-Eisenbahn-WCs steht neben der Beobachtung einer dunkelhäutigen, splitternackten Frau bei der Körperpflege im Schnee von New York oder einem missglückten Hausbau. Selten sind es große Ereignisse, auf die Nádas hier Bezug nimmt, es ist das Kleine, aus dem er hier Bedeutung gewinnt.

Kleine Form

Passend zur kleinen Form hieß die 2000 erschienene ungarische Originalausgabe "Talált cetli", (wieder)gefundene Zettel, die nun in vom Autor ausgewählten Auszügen der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht wurde. Der ungarische Titel unterstreicht die Zufälligkeit dieser Ansammlung von Details. Denn eigentlich passt nichts zusammen - und zeichnet doch alles ein mosaikartiges Bild unserer Welt, und in Rückblicken auch eines gewisser Spezialitäten des real existierenden Sozialismus.

Nádas ortet nicht ungern mangelnde Funktionalität und alltägliche Absurditäten. Die Freiheitsübungen sind auch ein Kuriositätenkabinett.

1942 geboren, zählt Péter Nádas zu den bekanntesten ungarischen Schriftstellern. Berühmt wurde er vor allem mit seinem kiloschweren Roman "Buch der Erinnerung", für den er international mehrfach ausgezeichnet wurde, und der die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus ungarischer Sicht erschreibt. Dem deutschsprachigen Publikum wurde er zuletzt durch seine "Schöne Geschichte der Fotografie" auch als Lichtbildkünstler bekannt, der es nicht zuletzt versteht, auch seine Erfahrungen mit dieser Materie literarisch festzuhalten.

Die Freiheitsübungen sind nun wieder ein ganz "typischer Nádas", auch die verstreuten Notizzettel zeichnen sich aus durch seinen präzisen Stil, seine unbestechlich Beobachtungsgabe. Und ganz unpolitisch sind sie natürlich auch nicht. Doch ist aktuelle Politik für Nádas nichts anderes als ein Anlass, tiefer nachzudenken, auf philosophischer Ebene zu verallgemeinern. So führt die mit leichtem Grauen registrierte Schadenfreude angesichts der Hinrichtung des ehemaligen rumänischen Staatspräsidenten zur trockenen Erkenntnis:"Der niedrige Genuss liegt in gefährlicher Nähe zum edlen Vergnügen." Wie wahr.

Freiheitsübungen und andere Kleine Prosa

Von Péter Nádas

Aus d. Ungar. v. Ruth Futaky, Zsuzsanna Gahse, Laszlo Kornitzer u. a.

Berlin Verlag, Berlin 2004

210 Seiten, geb., e 22,70

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