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BEGEGNUNG MIT SCHWEITZER

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In Gesprächen, die ich mit Zeitgenossen führe, höre ich immer wieder: es fehle dieser Zeit das, was man außerordentliche Menschen nenne, wobei auf dem Begriff „Menschen“ immer ein besonderes Schwergewicht liegt. Man sagt auch: für den großen Menschen sei kein Raum mehr in unserem Massenzeitalter. Ich höre auch den Einwand: Wir haben genug vom Glauben an große Menschen, nachdem wir so sehr enttäuscht wurden. Ich verkenne keineswegs, wieviel Richtiges in solchen Formulierungen enthalten ist, aber ich bin noch immer der Meinung, in unserer Zeit gäbe es noch außerordentliche Menschen, zu denen man mit Liebe, Verehrung, Bewunderung und vor allem mit Vertrauen emporschauen kann; Menschen, die man sich als Leitbild wählen darf, weil sie einen kaum jemals enttäuscht haben, weil wir uns, was selten geworden ist, auf sie verlassen können. — Sie besitzen natürlich keine Patentlösung für die Sorgen und Nöte unserer Gegenwart, sie bemühen sich aber alle mit der Hingabe ihres Lebens um solche Lösungen.

Ich bin einigen Menschen dieser Art begegnet, ich weiß von anderen, die ich nie persönlich kennenzulernen das Glück hatte, deren in vielen Jahren geschaffenes Werk mir aber eine Gewähr dafür bietet, daß sie, soweit dies einem Menschen überhaupt möglich ist, ihre Kräfte einzusetzen bereit sind, um ein hohes Menschenbild im Sinne der Großen der Vergangenheit wach zu halten und in sich selbst zu verwirklichen. Zu diesen seltenen Menschen gehört für mich Albert Schweitzer.

Es ist nicht der Sinn dieser Zeilen, das Werk dieses verehrten und geliebten Mannes zu würdigen. Ich möchte von einer Begegnung sprechen, die ich mit ihm haben durfte, als er für kurze Zeit in Europa weilte. Für mich war diese Begegnung in zweifachem Sinne bewegend, fand sie doch in Tübingen statt, wo ich einst als junger Student die ersten Schriften von Albert Schweitzer „Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ und „Kultur und Ethik“ gelesen und in einer meiner allerersten Veröffentlichungen darüber geschrieben hatte. Es war im Jahre 1923 gewesen. Der Aufsatz trug den Titel „Gespräch über europäische Bücher“, und den Gegenstand des Gespräches bildeten neben den beiden erwähnten Schriften Schweitzers Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Hermann Graf Keyserlings „Reisetagebuch eines Philosophen“. Es war für mich, den jungen Menschen, ein unendlich beglückendes Erlebnis, eines Tages auf meinem Tisch als Antwort auf dieses Gespräch einen Brief aus Lambarene zu finden, der den Dank des Urwalddoktors übermittelte. Seit jenen frühen Tagen weiß ich mich Albert Schweitzer verbunden. Was er mir in entscheidenden Situationen meines Lebens bedeutet hat, als wirkender Mensch und als Verfasser der Bücher, der die Welt kennt, davon ist hier nur insofern zu sprechen, als das Wissen um die Existenz dieses Mannes, um sein Wirken für die leidenden Menschen und um seine Besorgtheit für die Erneuerung der abendländischen Kultur aus dem Gedanken der Ehrfurcht vor dem Leben etwas unsagbar Ermutigendes in sich schließt. Ich muß aber bekennen, daß ich es als eine Ehre besonderer Art empfand, als ich die Nachricht erhielt, Albert Schweitzer wolle mich gern in Tübingen, wo er das Diplom der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät entgegennahm, sehen.

Es geschah dies am 11. Oktober 1959, einem düsteren und verhangenen Tag. Wir erreichten die altvertraute freundliche Stadt, grüßten, die Neckarbrücke überschreitend, Hölderlins Turm, traten in den Hof des Stifts, auf unseren Wegen Erinnerungen aufrufend an eigene Lebensmomente oder an die Vergangenheit der Großen, die hier geweilt hatten. Wir sollten heute nicht vergessen, daß der Boden, auf dem die Großen gingen, geweihter Boden ist. Wir stiegen zur Burg empor, während sich über der Schwäbischen Alb dunkle Wolkengebirge auftürmten. Um 17 Uhr sollten wir Schweitzer im Hotel Lamm erwarten. Lange ehe er von Besuchen zurückkam, standen hier, obwohl seine Anwesenheit mit Absicht geheimgehalten worden war, Menschengruppen, die sich alsogleich um den Doktor scharten, als er den Wagen verließ. Mir war dieses Bild auf eine besondere Art merkwürdig. Ich war zunächst geneigt, dieses Drängen um den alten Mann als eine ungebührliche Zudringlichkeit zu empfinden, allein ich sah und spürte bald, daß dieses Gegenwärtigsein der Menschen etwas anderes bedeutete als Zudringlichkeit. Ehrfurcht hatte die Neugier, Dankbarkeit die Sensation besiegt.

Der große alte Mann mit dem charakteristischen Kopf, den wir von vielen Abbildungen her kennen, schien müde zu sein, doch verscheuchte ein Lächeln, ein Anflug von Rührung diese Müdigkeit aus dem Antlitz, an dem die Jahrzehnte, die Elemente und die Schicksale gearbeitet haben. Er reichte dem und jenem die Hand, sprach andere persönlich an, dann löste er sich von den Menschen los oder ließ sich, wie ich besser sagen sollte, von seiner Begleitung loslösen. Als wir nach wenigen Minuten Schweitzer vorgestellt wurden, schien alle Müdigkeit von ihm abzufallen, er schien um Jahre verjüngt. Wir kamen ins Gespräch und es geschah das Unwahrscheinliche, daß sich Schweitzer jenes meines Aufsatzes aus dem Jahre 1923 und einiger anderer Studien, die ich im Laufe der Jahre über seine Arbeit geschrieben hatte, mit solcher Lebendigkeit erinnerte, als seien nicht Jahrzehnte, sondern höchstens Monate zwischen dem Damals und dem Heute. — Er stellte Fragen nach meinem Leben und meinen Arbeiten, aus einem B.uch^das ich ihm überreicht hatte, griff er zufällig einen Satz auf und meinte, daran anschließend, das sei- ganz in seinem Sinne • gedacht.

Als wir nach Lambarene fragten, ließ der Doktor Bilder heraufschweben, besondere Augenblicke waren gegenwärtig, kommende Pläne wurden umrissen und besprochen. Wünsche, die Freunde an ihn richteten und die sich auf Besuche und Ansprachen bezogen, die man von ihm wünschte, beantwortete er lächelnd mit dem Satze: „Ich bin zwar erst'84 Jahre alt, aber alles kann ich doch nicht mehr tun.“ Das war nicht überheblich, auch nicht ironisch gesagt. Es war- seine Überzeugung. Als die Rede auf ein Kinderdorf kam, das seinen Namen tragen sollte, war es mir wichtig, zu hören, mit wie großem Nachdruck Albert Schweitzer den Wunsch aussprach, in diesem Dorfe mögen evangelische und katholische Kinder aufgenommen werden.

Noch manches wurde in diesen Gesprächen berührt, allein es kommt hier nicht darauf an, die Einzelheiten festzuhalten. Ich möchte vielmehr noch davon sprechen, wie von diesem Mann eine Kraft ausstrahlt, es ist eine schwer definierbare Kraft, die die Menschen seiner Umgebung bestimmt und erfüllt, aber auch alle jene berührt, die sein Werk und sein Wirken wahrhaft erlebt haben. Man kann nicht sagen, es sei der große Arzt, der Theologe, der Bach-Spieler, der Kulturphilosoph und der Menschenfreund, dem man in diesem Manne begegnet. Alles einzelne ist hier in einem Menschen zu einer Einheit geworden, zu einer geistigen und moralischen Kraft. Sie zwingt uns zur Bewunderung und zur Liebe, sie löst Ehrfurcht aus und erinnert uns daran, daß Schweitzers Lambarene in Afrika liegt, daß unser Lambarene aber an hundert und tausend Stellen des Kontinents zu suchen ist, eben dort, wo wir unser Menschentum einsetzen können, wo wir nicht nur Spezialisten, sondern Menschen sind, denn nichts ist in dieser Epoche gefährdeter als der Mensch in seiner Ganzheit.

Die Begegnung mit Albert Schweitzer verpflichtet uns, sie strahlt aber auch die Kraft aus, gestellte Aufgaben zu lösen und trotz aller Bedrohungen, um die er wohl weiß, vor denen er immer wieder warnt, der Zukunft zu vertrauen. Sie mahnt uns, diese Zukunft nicht auf die noch so perfektioniert arbeitende Technik und Bürokratie zu bauen, sondern auf Menschen, denen Dienst und Opfer selbstverständlich sind. Wer diesem Manne begegnen durfte, wird ihn nicht wieder vergessen, denn er erfuhr wortlos, was einem Menschen möglich ist, wenn er die Gnade eines Auftrags begriffen hat und gegen alle Widerstände erfüllt. Einen Auftrag aber hat jeder von uns: in einer Zeit Mensch zu bleiben, in der das gar nicht mehr selbstverständlich ist, weil Masse und Maschine, Bürokratie und Organisation, vor allem aber die Selbstherrlichkeit des Spezialistentums den Menschen gefährden.

Als wir Schweitzer verließen, wartete noch ein langer Abend auf ihn mit Besuchen und Gesprächen. Seit Jahrzehnten verläuft sein Leben mit Arbeit, die am Morgen aufgenommen wird und um Mitternacht endet. Das ist mit menschlichen Maßen nicht zu messen, wie auch die unvergeßliche Atmosphäre, die um diesen alten Mann liegt, mit Worten nur anzudeuten, aber niemals zu erschöpfen ist. Sie begleitet uns aber, sie ist um uns, wenn wir ihrer bedürfen hilft sie uns. Und wann würden wir ihrer nicht bedürfen?

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