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Digital In Arbeit

Bevormundung - Vereinsamung?

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In seiner Einleitung zum Bericht über die im Bundesministerium für Unterricht im Jahre 1960 geleistete Arbeit zitierte Minister Dr. Drimmel einen Satz von Hellmut Becker, um das vom Ministerium befolgte allgemeine Prinzip zu illustrieren: „Kulturpolitik kann im Rahmen einer überdifferenzierten und überorganisierten Welt Wege öffnen, Richtungen weisen, Zusammenfassungen ermöglichen, sie kann aber nicht selbst Kultur machen. Kulturpolitik darf nie mit Kultur verwechselt werden." Dr. Drimmel fügte dem hinzu: „Nach dieser strengen Ordnung ist es möglich, daß der Staat auf den Gebieten der Kulturpolitik eine Sachförderung ohne Sach- beeinflussung betreibt." Und Dr. Drimmel schließt mit einem Hinweis auf das, was nach seiner Meinung „in unseren Tagen die höchste menschliche Verpflichtung in geistiger Hin-

sicht ausmacht: die Bewahrung des Kulturstaates und die Bewahrung des Kulturstaates vor der Versuchung, eine Staatskultur schöpfen zu wollen. Es ist eine Aufgabe, die in einer Gesellschaft so schwer zu lösen ist, die die uralte Frage unbeantwortet läßt: ,Wer bewacht die Wächter?'“

Diese Prinzipienerklärung befriedigt uns irgendwie heute nicht mehr so, wie sie uns etwa im Jahre 1945 befriedigt hätte oder hat. In den 16 Jahren seither ist auf den-verschiedenen Gebieten unserer Kultur — und wir haben insbesondere unsere Kunst im Auge — Verschiedenes geleistet — oder nicht geleistet — worden. Und — wir sagen es offen heraus — da ist vieles so wenig befriedigend, daß wir uns die Frage zu stellen gestatten, ob die vom Bundesminister befürwortete Behutsamkeit gegenüber dem „freien Spiel der Kräfte“ unter allen Umständen angebracht erscheint.

Natürlich kann und darf es keine Kunstdiktatur geben. Und vielleicht galt es wirklich, gerade in den abgelaufenen 16 Jahren, alles zu vermeiden, was als behördlicher Druck empfunden werden konnte, eben um den vorhandenen Trieb- und schöpferischen Kräften einen Auslauf zu gestatten und so auch einen Überblick zu erlangen. Das Seltsame ist nur: wir haben auf verschiedenen Gebieten so wenig befriedigende, so wenig originelle oder überhaupt so wenig Leistungen, als ob sie eben unter einer Diktatur entstanden oder nicht entstanden wären.

In den vergangenen 16 Jahren ist in keinem der uns umgebenden freien Länder (mit Ausnahme vielleicht von Bayern) so langweilig gebaut worden wie bei uns. Im übrigen gibt es im totalitären Jugoslawien viel interessantere Neubauten, und im gleichgearteten Polen eine originellere Malerei als bei uns.

Wir haben in den vergangenen 16 Jahren kein Drama, kein Zeitstück und — mit Ausnahme von Saiko und Doderer über die Zeit bis 1938 — kei nen Roman über unsere Zeit hervorgebracht, der über unsere Landesgrenzen hinaus von Bedeutung wäre.

Die großen Löcher

Und als 1960 eine vom Unterrichtsministerium organisierte Kollektivwanderausstellung unserer zeitgenössischen bildenden Kunst nach Großbritannien ging, wurde sie als provinziell, als Modernismus von vorgestern und aus zweiter und dritter Hand verrissen. Mit Ausnahme von Kokoschka den man dort sowieso eher für sich in Anspruch nimmt — und von Schiele, der tiefen Eindruck machte.

Natürlich hat all das viel tiefere Ursachen als solche, die durch administrative Weisungen einer Mi- nisterialsektion behebbar wären. Der Zustand einer Kunst hat immer einiges mit dem Zustand des Volkes zu tun, das sie hervorbringt. Aber ganz so ist auch das wieder nicht, und es gilt auch umgekehrt. Es mangelt wahrlich nicht an vielen und großen Begabungen bei uns. Nur: wir sind gar nicht so überdifferenziert und überorganisiert, als daß es nicht da und dort just auf das gewisse Machtwort ankäme, mit dem keine Rezepte und keine formativen Anweisungen außer einer zu geben wären: „Dieser Entwurf ist nicht interessant genug, geht hin und laßt euch etwas einfallen; wenn nötig, werden wir euch gegen die Bauherrn stützen, wir werden die Presse gegen sie hetzen und sie lächerlich machen.“

Ein ganzer Kunstzweig — der Film — ist bei uns in diesen 16 Jahren völlig vor die Hunde gegangen. Was es an nicht übermäßig vielen und starken, aber doch einigen — guten Traditionen vorher gegeben hat, wurde viel weniger in der NS-Zeit kaputt gemacht als nachher, und zwar keineswegs nur durch die Russen am Rosenhügel als durch eine für uns sehr spezifische Klasse bauernschlauer und auf die verlogene und an sich schon lang verfaulte Operettengesinnung falsch spekulierender Kitschiers. Hier ist wahrlich schon lange keine vornehme und liberale Zurückhaltung am Platz. Anderen Leuten, die es fertiggebracht hätten, einen österreichischen Industriezweig dermaßen zu ruinieren, würde man schon längst die Gewerbekonzessionen mit Recht weggenommen haben. Mit wenigen und vor der breiten Öffentlichkeit kaum aufscheinenden Dokumentarfilmen, deren Herstellung das Unterrichtsministerium löblicherweise finanziert, ist da nicht genug getan. Es ist ein richtiger Weg, aber zu schmal und eben doch nur einer. Eine Filmindustrie — die britische — hat tatsächlich für ihren Aufstieg die Dokumentarfilmleute, die Röthas und O’Flahertys, als Schrittmacher gehabt. Ihre Produktionen gingen aber in die Hunderte, und da hielt nicht nur das Ministerium mit dem kleinsten Budget her, sondern eine

Reihe anderer, wie das Arbeits-, Handels-, Verteidigungs-, Transportministerium und zahlreiche amtliche und private Institutionen und Firmen wie die Post, der Kohlenbergbau, die Eisenbahnen, die Schiffahrt, die erdölverarbeitende und chemische Industrie und andere. Dabei war diesen Filmen ein Platz im normalen Kinoprogramm eingeräumt. Und außerdem ging das ganze bereits in den dreißiger Jahren vor sich. Einige Dutzend Österreicher, die schon anfangs der dreißiger Jahre der österreichischen Misere und Kleinheit der Verhältnisse oder später dem Dritten Reich entwichen, haben sich unterdessen in Hollywood als führende Filmleute qualifiziert, Leute wie Billy Wilder, Otto Preminger, Oskar Ho- molka, Walter Slezak. Sie würden wahrscheinlich nicht ungern heimkehren, wenn man sie aufforderte, dem österreichischen Film auf die Beine zu helfen.

Produzent oder Almosenempfänger

Es gilt gar nicht, eine Kunstdiktatur über die Künstler auszuüben, eher aber wohl über jene industriellen, wirtschaftlichen und gewerblichen Triebkräfte — ob staatliche, gemeinwirtschaftliche oder private —, welche die Kunst und die Künstler entweder ungenügend oder schlecht oder gar nicht in Anspruch nehmen. Kaum ein Zweig der Wirtschaft, der heute nicht auf die eine oder andere Weise finanziell oder sonstwie vom Staat abhängig ist. Warum sollte es nicht auch in Sachen der Kunst so sein, sofern jene hierin selber keine Initiative besitzen? Die Auseinanderspaltung von Funktion und Kunst, oder richtiger gesagt die Wegspaltung der Kunst aus dem Bauwesen ist erschrecklich. Unsere Architekten sind heute technisch ausgerüstete Kalkulanten und Sklaven der Gestehungs-, Material- und Arbeitskosten und Normen, Künstler sind sie keine. Und sie sind von der künstlerischen Gesinnung der Fünktionalfitferi ‘der Jahrhundertwende und der zwanziger Jahre, der Loos, Hoffmann und Behrens, auf die sie sich schlechten Gewissens zuweilen berufen, so weit entfernt wie der freihändig gezeichnete Kreis eines Dürer von dem mit einem Zirkel hergestellten eines Hauptschülers. Die Kunst aber ist noch mehr vom gesellschaftlichen Leben losgelöst, noch mehr in die Ecke verkannter Genialität gedrängt denn je zuvor und wird als überflüssiger Aufputz und krampfiger lokalhistorischer Hinweis a n die Ecken von Neubaufassaden geklebt. Ministerielle Ankäufe von Bildern und andere Arten der Förderung sind — seien wir ehrlich — doch letzten Endes nur verhüllte Almosen an jene Menschen, deren eigentliche Funktion und Fähigkeit, unser Leben zu beseelen, neue Wirklichkeiten zu schaffen, wenig oder gar nicht ausgenützt und zumeist völlig ignoriert werden.

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