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BucLstabenmord

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Unlängst träumte mir, es schritte aus Nebeln des Unterbewußtseins ein Häuflein seltsamer Gestalten auf mich zu, bald schienen sie mir wie Menschen, bald wie Buchstaben geformt, das Ganze ergab ein recht yerworrenes Gefüge, das sich aber zusehėnds klärte, je näher es mir kam. Am Ende erkannte ich, daß es tatsächlich ein Trüpplein vermenschlichter Buchstaben war, und es trat nun einer vor und sagte: „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, mein Name ist A, wir sind das Alphabet.“

„Ah, sehr erfreut, Herr A", begrüßte ich ihh aufs freundlichste. „Sie sind mir schon von Kindheit an bekannt, man schätzt Sie allgemein um Ihrer Klarheit und Aufgeschlossenheit willen und be vorzugt Sie besonders als Ausdruck des menschlichen Erstaunens, der Bewunderung, Womit kann ich Ihnen dienen?"

„Es ist keine fröhliche Sache, die midi zu Ihnen führt“, begann Herr A ohne Umschweife, „wir fühlen uns von Tag zu Tag immer mehr bedroht, es geht um nichts Geringeres als um unsere Existenz. So kann es nicht weitergehen."

„Was ist geschehen?“ fragte ich besorgt.

„Das wissen Sie nicht? Gerade Sie nicht, der Sie doch berufsmäßig mit uns zu tun haben?" empörte sich Herr A. „Sie, der Sie täglich einen Haufen Briefe bekommen und oft schon ganz verzweifelt sind, weil Sie sie nur mit größter Mühe entziffern können?“

„Ah, jetzt verstehe ich Sie, Herr A", nickte ich ihm teilnehmend zu, „ja, ich habe midi 6dion oft genugsam geärgert über die Schlamperei, die mit euch armen .Buchstaben von manchen Leuten getrieben wird, besonders wenn sie Briefe schreiben.“

„Ja, ja, das ist es", fuhr Herr A anklagend fort, „es wird mit uns, gerade herausgesagt, Schindluder getrieben von A bis Z. Stellen Sie sich ein Lebewesen vor, dessen Beruf es ist, klar und deutlich etwas ganz Bestimmtes vorzustellen, und das sich um seine wahre Gestalt betrogen sieht, mißhandelt und verschandelt, so daß kaum noch ein Schatten seiner Persönlichkeit zurückbleibt. Wie soll ihm da zumute sein? Die Menschen hüllen überdies ihr empörendes Treiben auch noch in blanken Hohn und nennen es Charakterschrift.'

Hier entschlüpfte mir ein kleines Lächeln. „Ja, die Charakterschrift", nickte ich zustimmend, „das ist auch so eine

Sache für sich. In den Schulen bemüht man sich, den Menschen die Verständigungszeichen beizubringen, die man das Alphabet nennt. Sie erfüllen nur dann ihren vollen Zweck, wenn sie klar lind deutlich dem Sinn ihres Daseins getreu bleiben, so wie man ja auch jeder anderen Sache ihre Gestaltung lassen muß, damit sie gebrauchsfähig bleibt, nicht wahr? Kaum aber hat so ein Menschlein die Schulbank verlassen oder auch noch früher, regt sich Widerspruch in ihm, es muß irgendwie seine Eigenwilligkeit betonen, und da das sonst nirgends so leicht möglich ist, wirft es sich auf die Schrift. Diese ist nämlich wehrlos, während es sonst überall Gesetze der Einfügung gibt. Der Schuster hat den passenden Schuh zu machen, der Schneider die richtige Hose, denn alles entspricht seinem Zweck nur dann, wenn es zweckmäßig gemacht ist. Nur über euch arme getreue Buchstaben wird hemmungslos hergefallen und der .Charakter' betätigt, der ja in dieser Form nichts anderes als einen wilden Auswuchs aufdringlicher Selbstbetonung darstellt.'

„Bravo, das sind Worte, die mir wohltun", bestätigte Herr A. „Schon aus Dankbarkeit sollten die Menschen uns freundlicher behandeln. Seit Jahrtausenden stehen wir in ihren Diensten, schon aus der Zeit der alten Phönizier her, die ganze geistige Existenz der Menschheit beruht auf unserer Mitarbeit. Denken Sie uns weg, und was bleibt? Und was verlangen wir dafür? Nichts als fortbestehen zu dürfen in unserer alten ehrlichen Gestalt, aber das scheint besonders heutzutage nicht mehr erlaubt zu sein. Einst gab es eine Redewendung, die hieß: es ist buchs tä blich wahr! Wo ist sie heute hin? Es will sich niemand mehr auf uns berufen, soweit es nämlich um die Schrift geht, viel eher ist heutzutage der Ausdruck zu hören: Das ist nicht buchstäblich zu nehmen!

Leider ist es nicht nur dieses, worüber wir zu klagen kommen“, fuhr Herr A nach einer wehmütigen Pause fort, „es ist noch Schlimmeres geschehen, es geht um nichts Geringeres als einen ganz gemeinen Mord, um die rücksichtslose Vernichtung eines unserer tüchtigsten Kollegen, der einen der gewichtigsten männlichen Grundpfeiler unserer Genossenschaft bildet, ich meine Herrn N. Wir fragen uns immer wieder, was hat er denn verbrochen, daß man seine ganze Erscheinung, seine ganze sichtbare Wesenheit einfach auslöscht und ihn zu etwas ganz anderem macht, als er bedeutet, nämlich zu einem U?“

„Was sagt denn Herr U dazu?“ fragte ich teilnehmend.

„Dem ist es auch nicht recht, das können Sie sich denken. Auch er ist ja da durch in seiner Existenz ganz unsicher geworden. Stellen Sie sich das nur vor! Da Herr N nun als U dasteht, kann ja Herr U auch als N genommen werden, alle rechtlichen Grundlagen sind erschüttert. Ja um Himmels willen, hat man denn nicht einmal mehr das Recht, der zu sein, der man ist?"

„Wie ist denn das alles nur möglich geworden?" ereiferte ich mich.

„Nun, Sie als Dichter, der Sie sich gerne in den seelischen Jagdgründen herumtreiben, sollten das schon wissen“, tadelte mich Herr A. „Ich bin aber gerne bereit, den ganzen tragischen Vorgang vor Ihnen aufzurollen. Nur mache ich Sie darauf aufmerksam, daß hier als Angeklagter vor allem jener schönere Teil der Menschheit erscheint, den Sie, mein geschätzter Dichter, aus alter romantischer Galanterie heraus nicht gerne getadelt sehen, das sind unsere lieben Damen. Ihnen lege ich den Mord an unserem armen Kollegen N vor allem zur Last. Unter hundert von ihnen schreiben nämlich nicht drei mehr ein deutliches N. Das geschieht in erster Linie aus dem Laster der Bequemlichkeit heraus. Schreibt man nämlich in Lateinschrift ein kleines n, so ist man gezwungen, den Bogen nach oben zu erheben, ins Gewölbte, Konvexe hinauf, nicht wahr? Und nun, es ist ja kaum zu glauben, scheint dieses winzige Stückchen Arbeit unseren Damen bereits zu viel! Es ist ihnen offenbar bequemer, den Bogen hängen zu lassen, ins Hohle, Konkave hinab, wobei sie in erstaunlicher Verantwortungslosigkeit aus dem N einfach ein U machen. Wir haben der Sache nachgeforscht, es ist tatsächlich so, als ob Kollege N gar nicht mehr auf der Welt wäre, er läuft in der Gestalt eines anderen herum, es hört jede Rechtssicherheit auf, jede Bündigkeit und Präzision.“

Hier schwieg Herr A, ein wenig erschöpft. Ich konnte mich seinen Argumenten keineswegs verschließen, hatte aber andererseits das Gefühl, daß er doch ein wenig zu streng mit unseren lieben Damen verfuhr. Und so verlockte es mich, nach Milderungsgründen in dieser seltsamen Mordaffäre auszuschauen, und ich glaubte sie nach einiger Überlegung auch gefunden Zu haben. „Hören Sie, Herr A“, versuchte ich zu vermitteln, „am Ende ist es gar nicht so sehr das Laster der Bequemlichkeit, das die Ermordung Ihres geschätzten Kollegen verursacht. Zu Beginn mag es Bequemlichkeit gewesen sein, gewiß, aber die Konsequenz, mit der sie dann millionenfach durchgeführt wurde, hat vielleicht doch tiefere Gründe. Frau Eva, müssen Sie nämlich wissen, ist keine Freundin einer allzu pedantischen Gesetzlichkeit. Gerade weil sie weiß, wie nötig die Ordnung der Dinge ist, will sie zuweilen ein ganz klein wenig aufatmen in irgendeinem harmlos Ungesetzlichen. Die Gesetzlichkeit, so meint sie, wird bewahrt vor Erstarrung, wenn sie hin und wieder ein ganz klein wenig eingedrückt wird. Indem sie sich ansonsten ins Gesetzliche fügt, bereitet es ihr ein harmloses Vergnügen, hin und wieder ein kleines Fest des Unerlaubten zu feiern. Und so ist es auch mit unserem braven N, aus dem sie wissend ein U macht. Der Gebrauch ist uralt. Denken Sie an das Sprichwort aus Väterzeit: „Jemandem ein X für ein U vormachen." Nunmehr ist unser N daran, und Gott weiß, welche Buchstaben noch folgen werden. Es gehört das wohl zur Lebensführung überhaupt. Seien WIT froh, wenn es jederzeit nur einer ist, der daran glauben muß, meinen Sie nicht?"

Was Herr A dazu sagte, ist mir nicht bekannt, denn ich war unterdessen — erwacht.

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