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CONSOLATA

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Wenige Tage, nachdem das Kreuzheer der verbündeten Venezianer und Mantuaner sich der Stadt Padua bemächtigt hatte, um dort die Herrschaft des Ansedio, eines Neffen des schrecklichen Ezzelino da Romano aus dem benachbarten Verona, zu zerschlagen, hielt der päpstliche Legat Filippo Fontana seinen feierlichen Einzug in den eroberten Mauern. Er hatte dazu die späten Nachmittagsstunden gewählt, in denen der Tag schon sanft und lieblich zu werden beginnt, er ritt ein frommes Maultier, und sein Gefolge war ohne kriegerisches Gepränge. Nur einige Geistliche seiner Kurie sowie die unerläßlichsten Diener begleiteten ihn — es war der Wunsch Filippo Fontanas, schon durch die äußeren Umstände seines Auftretens der geängstigten Bevölkerung seiner Vaterstadt darzutun, daß er als ein Bote der Versöhnung und des Friedens komme. Das Bewußtsein davon prägte sich auch in seinem großen, etwas zu vollen, aber durch seine Milde gleichwohl edel wirkenden Gesicht aus. Der heutige Tag erschien ihm als einer der schönsten und beglückendsten seines Lebens, denn er durfte die Überwindung des schändlichen Tyrannen Ansedio als sein Werk betrachten. Er war es gewesen, der nach dem Tode des letzten großen Staufers jedermann davon überzeugt hatte, daß Ezzelino und Ansedio, ehedem der kaiserlichen Gewalt unterstellt und von ihr gebändigt, jetzt nur noch Geschöpfe ihrer eigenen schrankenlosen Willkür waren. Er hatte der entsetzten Welt bestätigt, daß durch jene beiden wirklich an die fünfzigtausend Menschen umgebracht seien. Auf seinen Ruf hin war das Kreuzheer gegen sie zusammengetreten, er hatte es bis an die Mauern Paduas geleitet und zum Kampf gesegnet. Er hatte ihm auch das Versprechen abgerungen, die Bevölkerung der Stadt weithin zu schonen. Endlich konnte er sich mit Befriedigung sagen, daß es ihm gelungen war, ihr die sofortige Befreiung vom Inter-

dikt zu bringen, unter dem sie, ihres gottlosen und schwer gebannten Herrschers wegen, schmachtete.

Es bestürzte ihn daher nicht wenig, als ihm der Anführer der verbündeten Städte, Ugo da Cremona, der ihm ehrfurchtsvoll bis zur Porta San Giovanni entgegen geritten war, die Eröffnung machte, der Tyrann sei noch immer nicht beseitigt, obwohl man — den Verabredungen gemäß — durch Heroldsrufe und Maueranschläge verkündet habe, daß die Stadt nur dann Gnade finden könne, wenn sie sich ihres blutbefleckten Machthabers und seiner Helfershelfer entledige, auf diese Weise unzweideutig dartuend, daß sie sein verbrecherisches Regiment verurteile. Ein solches eindrucksvolles Bekenntnis war leider notwendig gewesen, denn man besaß schwerwiegende Unterlagen dafür, daß wenigstens ein Teil des Adels und der Bürgerschaft den Tyrannen unterstützt oder es doch am rechten Widerstand gegen ihn habe fehlen lassen. Der Legat hatte angenommen, daß die Bedingung, die man der Begnadigung vorangestellt, bei seiner Ankunft längst erfüllt sein werde — eben deshalb hatte er diese noch hinausgezögert. Es berührte ihn äußerst peinlich, die Aufhebung des Interdikts nicht sofort vollziehen zu können, sondern die Beseitigung Ansedios und der Seinen erst erwarten zu müssen, und er fand nur geringen Trost, als ihm Ugo da Cremona versicherte, das Kastell des Ansedio sei schon seit Tagen durch das erbitterte Volk umzingelt und- von seinen Verteidigern entblößt: jedermann verlasse den Unhold, er werde nur noch von der geheimnisvollen Magie seiner Person beschützt, wie man dies ja auch bei Ezzelino da Romana erlebe, allein er könne nach Lage der Dinge diese Nacht wohl schwerlich überstehen.

Unterdessen waren sie ins Innere der Stadt eingeritten — nicht ohne Beschwerlichkeit, denn je enger die Straßen wurden, desto störender machten sich die Schutthaufen be-

merkbar, in die sich eine große Zahl von Gebäuden verwandelt hatte. Nun, der päpstliche Legat kam aus Rom, wo der Stadtpräfekt Brancaleone unlängst hundertvierzig Adelstürme gebrochen hatte — er war, wie alle Welt, daran gewöhnt, unter Trümmern zu wandeln: zu den furchtbaren Gewohnheiten, die man in den gegenwärtigen Bürgerkriegen angenommen hatte, gehörte ja vor allem die, daß man die Türme und Wohnstätten der jeweils unterlegenen Panei niederriß. Ansedio hatte von dieser Gepflogenheit reichlich Gebrauch gemacht — jedes dritte Haus war eine Ruine. Manchmal hatten die niedersausenden Türme der Adelspaläste auch die gegenüberliegenden Häuser mitzerschmettert. Alles war wie in einem felsigen Hochtal von versprengten Trümmern bedeckt. Dazu kam noch der schauerliche Eindruck der wilden Steinhaufen, wie man sie bei der Verkündigung des Interdikts zum Zeichen der Trauer vor den Hauptportalen der Kirchen aufzutürmen pflegte. Filippo Fontana fühlte diese kalten, harten, an allen Wegen liegenden Steine wie ein grausiges Sinnbild seiner erbarmungslosen Zeit. Den Höhepunkt aber erreichten diese Gefühle, als er — um eine Straßenecke biegend — sich der Stätte näherte, wo bis vor kurzem der hochgetürmte Stadtpalast seines eigenen Geschlechtes geragt hatte. Filippo Fontana wußte, daß auch er der Wut des Ansedio zum Opfer gefallen war; er hatte sich auf einen äußerst schmerzlichen Anblick vorbereitet, und dennoch überwältigte ihn dieser nun vollkommen: der Palast war dem Erdboden gleichgemacht. Nur eine einzige Mauer, von dem edlen Marmorzierat eines alten Römerfrieses bekrönt, stand noch aufrecht — sie erschien dem Legaten wie der bloße Schatten einer. Mauer, geisterhaft aus den Schutthalden emporgerichtet, um hier vor seinem Angesicht bewegliche Klage zu erheben. Der Legat fühlte beim Anblick dieser Mauer eine geradezu abgründige Traurigkeit. Die ganze Wehrlosigkeit dieses adligen Bauwerks gegenüber seinem ruchlosen Zerstörer überkam ihn. Er gedachte seiner ermordeten Angehörigen, die man ohne Verhör zur Richtstätte geschleift hatte. Er glaubte die Stimme der unzähligen Verbannten zu vernehmen, deren Jammer alle-Städte Italiens erfüllte. Ja, er fühlte sich urplötzlich von der furchtbaren Versuchung der Frage überfallen, wie es denn möglich gewesen sei, daß die ewige Gerechtigkeit diese unbeschreiblichen Verbrechen zugelassen hatte? Gab es denn keinen Gott mehr im Himmel? Es war ihm, als könne ihn in seinem ganzen Leben niemals mehr ein Trost erreichen.

Aber schon vernahm er einen solchen! Mitten in dem tiefen Schweigen, unter' dem sich sein Einzug in der noch interdizierten Stadt vollzog, erhob sich eine Stimme. Er vernahm die Psalmenworte:

„Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.“

Gleich darauf fiel eine zweite Stimme ein: „Daß in unserem Lande Ehre wohne, daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“ Aufblickend gewahrte er eine kleine Anzahl Männer, die in unscheinbarer bürger-lidier Kleidung, eine spitz gezipfelte Kapuze auf dem Kopf, über den Schuttmassen des Palastes Aufstellung genommen hatten und von dorther mit wechselnden Stimmen nach Art psalmodierender Mönche fortfuhren:

„Es währt noch um ein kleines, so ist der Gottlose nimmer,

und wenn du nadi seiner Stätte suchst, wird er weg sein.

Ich aber gehe einher in der Kraft des Herrn,

Ich preise seine Barmherzigkeit alleine —"

Der Legat war keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß diese Wechselrufe der Unbekannten an ihn gerichtet seien und ihij trösten wollten, ja er empfand sie sogar als eine Art ehrfürchtiger Huldigung, indem er sich daran erinnert fand, daß sein Erscheinen hier ja selber das Gericht und die Gerechtigkeit Gottes darstelle. Während er, um seiner Bewegung äußerlich Herr zu bleiben, sein Maultier zu schnellerer Gangart antrieb, sprach er in seinem Innern unwillkürlich die Worte mit, welche die Stimmen der Unbekannten, jetzt zum Chor zusammengefaßt, wiederholten:

„Ich aber gehe einher in der Kraft des Herrn, ‘

Ich preise seine Gerechtigkeit alleine.“

In seinem Quartier angelangt, erkundigte er sich sogleich, wer jene Männer gewesen seien, worauf ihm Ugo da Cremona erwiderte, daß es sich um die Mitglieder der sogenannten „Consolata“ handle, eine Laienbruderschaft, von deren Auftreten während der Schreckenszeit des Ansedio viel Rühmendes in dieser Stadt gesprochen werde.

Der Legat, ein besonderer Gönner solcher Bruderschaften, weil tief aufgeschlossen für das Werk des Armen von Assisi, das ja auch aus Laienfrömmigkeit hervorgegangen war,äußerte den dringenden Wunsch, dieser ihm noch unbekannten Vereinigung näher zu treten, von der er sich zum zweiten Male — jetzt durch ihren Namen — auf das wunderbarste angesprochen fühlte.

Während der Legat auf die Rückkehr des Boten wartete, den Ugo da Cremona alsbald ausgesandt hatte, nahm er die Gelegenheit wahr, bei der Dame des Hauses, in dem er abgestiegen war, einige nähere Auskünfte zu erbitten. Madonna Francesca, eine würdige Matrone, die es sich nicht nehmen ließ, ihrem hohen Gast mit eigener Hand Erfrischungen aufzutragen, erwies sich sogleich als eine große Verehrerin der Consolata. Der Legat fand durch ihre Erzählungen seine schönsten Erwartungen bestätigt, ja übertroffen. Ursprünglich gegründet zur Übernahme von Bürgschaften für Hilflose, die — sei es durch die öffentliche Gewalt oder wen immer sonst — bedrängt wurden, und deshalb in Abwandlung ihres Namens Consolatrix vom Volke „Consolata" genannt, hatte sich die Bruderschaft in den Tagen des Ansedio zu einer wahren Alltrösterin erhoben. Ihre Mitglieder, an Zahl gering, entsprechend der Hingebung und dem hohen Mut, den ihre Aufgabe verlangte, wurden von dem Vorsteher der Gemeinschaft auf das einzige Gelübde verpflichtet, bei jedem zu erscheinen, der — sei es im Leben oder Sterben — des Trostes bedurfte, und zwar nicht nur ohne alles Ansehen der Person, sondern auch der Würdigkeit. Wie bei den verlassenen Betern vor den Kirchentüren, die das Interdikt geschlossen hatte, wie in den Spitälern, wo sich die Seelen umsonst im Verlangen nach der geistigen Speise verzehrten, so hatte die Consolata auch unter den Fenstern der schrecklichen Gefängnisse des Ansedio ihre Stimme erhoben. Sie hatte den Eingekerkerten Mut zugesprochen, sie hatte die Verbannten zum Stadttore und die Verurteilten zur blutigen Richtstätte begleitet, unter Galgen und Rad, bis zu ihrem letzten Seufzer ausharrend und für sie die Sterbegebete sprechend. Sie hatte die von Mörderhand Bedrohten in ihren einsamen Verstecken besucht und treulich ihre Ängste geteilt, sie hatte die Hinterbliebenen der Ermordeten aufgerichtet. Auch war ihr die Gewohnheit eigen gewesen, abends auf den frischen Trümmerstätten der jeweils zerstörten Häuser einen frommen Gesang anzustimmen, so daß es einem manchmal gewesen sei, als müßten selbst die harten Steine, die dort allein noch hausten, weich werden. Kurz, wo immer die unermeßliche Trostlosigkeit der vergangenen Tage zur Gestalt geworden, da war auch die Gestalt des Trostes, die Consolata, sichtbar gewesen: niemals war ihr ein Hilfeschrei entgangen — wie von Engeln unterrichtet, hatte sie auch den ersticktesten gehört. Niemals war sie vergeblich erwartet worden und niemals — dies war wohl das Erstaunlichste von allem —, niemals hatte ihr jemand zu wehren vermocht oder auch nur zu wehren versucht.

Hier konnte der Legat die staunende Frage nicht unterdrücken, ob das auch vom Bösewicht Ansedio und von seinen Schergen gelte?

Ja, entgegnete Madonna Francesca, das gelte auch vom Bösewicht Ansedio und von seinen Schergen, oder vielmehr vom „Bruder Bösewicht" und von den „Brüdern Schergen“, denn die Consolata sehe, wie der Arme von Assisi, jedermann als Bruder an, und wenn es auch der schändlichste Verbrecher wäre! Freilich, ganz erklären könne man sich diese Haltung des Ansedio damit nicht. Einige behaupteten, daß er die arme Bruderschaft wohl viel zu tief verachtet habe, um sie zu verfolgen, aber wer vermöchte ein Tyrannenherz zu ergründen? Ob der Legat wohl schon davon gehört habe, daß dem Ansedio einst geweissagt worden, er, der Unbarmherzige, werde noch einmal an der Barmherzigkeit zerschellen? Vielleicht habe er sich gefürchtet, an diese Weissagung erinnert zu werden; auf jeden Fall, er sei der Consolata immer ausgewichen.

(Fortsetzung folgt)

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