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CONSOLATA

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(2. Fortsetzung)

Filippo Fontana mußte beim Anblick der Gestalt an einen jener alten Seekönige der Normannen oder Sarazenen denken, von denen die Fischer an den Küsten der Adria erzählen, daß sie zuweilen an gewissen sehr stillen Tagen noch immer auf dem Meeresgrund erblickt werden, wie sie da in ihren längst versunkenen Schiffen sitzen: aufrecht, so, als lauschten sie nur auf den Wind, um sofort wieder die Anker zu lichten. Diese Vorstellung dauerte aber nur einen Augenblick; schon im nächsten war sich der Legat darüber klar, daß er den Tyrannen Ansedio vor sich hatte, der hier, jeder Möglichkeit zur Flucht beraubt, von allen verlassen, in schauerlicher Einsamkeit den Tod erwartete, der draußen vor dem Kastell lagerte. Was bedeutet es, daß man ihn in diesen Saal geführt? Welche Gegenüberstellung! Aus der ersten sprachlosen Betroffenheit erwachend, wollte sich der Legat unwillig an den Bruder wenden, der ihn hergeleitet hatte, allein dieser war spurlos verschwunden. Der Legat sah nur noch Ugo da Cremona, der — immer noch das bloße Schwert in der Hand — spähend in den Hallengang zurückgetreten war.

Unterdessen hatte aber auch der Tyrann den Legaten bemerkt. Er hob ein wenig den Kopf, so daß sein purpurumwundenes Haupt stärker in den Bereich des Kerzenlichtes geriet — Filippo Fontana war durch seine umheimliche Geistigkeit betroffen.

Sekundenlang fühlte er sich von einem Augenpaar gebannt, das ihn in einen Abgrund zu reißen schien. Dann, ruhiger werdend, sah er, wie der andere sich erhob und mit einer Bewegung, die wieder etwas vollendet Großartiges, aber auch zugleich etwas äußerst Unwahrscheinliches hatte, einen auf der Tafel stehenden Pokal ergriff.

„Willkommen mein hoher Gast“, rief er, ihn geigen den Legaten erhebend, „ich bin beglückt, daß Ihr mir die Ehre Eures Besuches erweist. Ihr seht, es fehlt mir gegenwärtig etwas an Gesellschaft. Macht es Euch also an meiner Tafel bequem und erlaubt mir, daß ich Euch einschenke. Wir können alsdann verschiedene Fragen, die uns gleicherweise angehen, in aller Ruhe bereden. Wie ich höre, habt Ihr mich der Wut des Volkes preisgegeben — ein sehr begreiflicher Entschluß, ein äußerst begreiflicher! Ich an Eurer Stelle würde unbedingt den gleichen fassen: wir gehören also in gewissem Sinne zueinander. Und doch — vielleicht erscheint Euch dies ein kleiner Widerspruch — berührt mich Euer Wunsch ein wenig peinlich, natürlich nur um Euretwillen. Denn offen gestanden, so leicht wie Ihr Euch denkt, wird dieser Plan sich nicht erfüllen lassen. Zwar habt Ihr die Gewalt, und ich gestehe, daß ich bis vor kurzem ebenso wie Ihr auf sie allein zu pochen pflegte; jedoch dies war ein ungeheurer Irrtum. Ich habe in den letzten

Tagen die unglaubliche Entdeckung gemacht, daß ich jegliche Gewalt verhöhnen kann. Ah, mein hoher Gast, Ihr dachtet ohne Zweifel, daß ich hier fürchterliche Stunden auszustehen hätte — es waren aber die berauschendsten in meinem Leben! Nie war ich mächtiger als in diesem Augenblick! Dies nämlich ist die wahre Macht: nicht mehr besitzen, was sich noch als Macht bezeichnen ließe und doch unüberwindlich sein — unüberwindlich!" Er wiederholte das letzte Wort mehrere Male.

Filippo Fontana fühlte sich bei dieser Rede wie erstarrt vor Grauen. Dabei hatte er aber die geradezu überklare Erkenntnis, daß sie nicht die geringste Beziehung zur Wirklichkeit besaß. Er sah die tief herabgebrannten Kerzen des Armleuchters, von denen eine jetzt bereits erloschen war. Er bemerkte an der gegenüberliegenden Seite des Saales eine zweite, offenbar nicht fest geschlossene Tür, hinter der das drohende Gemurmel des Volkes sich deutlich vernehmen ließ. Auch war ihm jetzt klar ge- worden, daß die königliche Purpurbinde auf der Stirne des Tyrannen in Wahrheit ein blutgetränkter Verband war, der scheinbar eine tiefe, vielleicht tödliche Wunde bedeckte: er sagte sich, daß dieses „Unüberwindlich“ ein Äußerstes an Selbstbetrug, ja geradezu der nackte Wahnsinn sei. Und trotzdem war es ihm, als komme im Gewand der Lüge und das Irrsinns eine fürchterliche Wahrheit auf ihn zu!

Unterdessen betrachtet» ihn der Tyrann aus seinen großen, abgründigen Augen mit majestätischer Gelassenheit. „Aber, bitte, mein hoher Gast“, nahm er nun wieder das Wort, „wollt Ihr nun nicht endlich Platz nehmen? Oder haben meine Worte Euch nicht überzeugt? Fürchtet Ihr vielleicht, daß unsere Tafelfreuden durch Eure Pläne gegen mich gestört werden könnten? Ich bemerke nämlich, daß Ihr von Zeit zu Zeit nach jener Tür dort lauscht — sie ist nur angelehnt, ich hielt es nicht für nötig, sie zu schließen. Gewiß, das Volk — ich höre es so gut wie Ihr — wird sie benützen. Ich bin fest überzeugt, daß es den kindischen Versuch unternehmen wird, in das Kastell einzudringen, wahrscheinlich sogar bis in diesen Saal. Allein das hat nicht das geringste zu bedeuten: nichts kommt der Ohnmacht dieses Volkes gleich, außer der Euren! Faßt also Mut, mein armer Freund, und setzt Euch nieder. Ich gehe jede Wette mit Euch ein, daß Ihr gänzlich ungestört durch Blut und Greuel die Nacht mit mir durchzechen könnt! Was sage ich — nur diese eine Nacht? Ich denke hier unendlich viele Nächte auszuharren — unendliche —“, er wiederholte auch dieses Wort mehrere Male. Dabei nahm sein Gesicht den Ausdruck eines trunkenen Selbstgenusses an, der etwas vom Bewußtsein einer blasphemischen Gottähnlichkeit besaß.

Filippo Fontana hatte jetzt geradezu das Gefühl, daß der Tyrann schon gar nicht mehr auf seinen Füßen stehe, sondern buchstäblich und körperlich im völlig Leeren schwebe, eben in jenem schauerlichen Schon-nicht-mehr-vorhanden-sein, darinnen dieses ganze Kastell versunken und verschollen war — er selber, der Legat, miteinbegriffen: er fühlte, wie ihn das versunkene Schiff mit in die Tiefen riß! Er, der eben noch gesprochen hatte: „Ich gehe einher in der Kraft des Herrn“, er fühlte sich ganz einfach in der Hand des Ansodio, so als sei er, mit den bösen Mächten seiner Vaterstadt kämpfend, diesen unversehens selbst anheimgefallen. Er war fest überzeugt, daß ihn Ansedio zwingen könne, wirklich hier an seiner Tafel Platz zu nehmen und mit ihm gemeinsam diese Nacht zu durchzechen, nein, unendlich viele Nächste — unendliche — bis an den Jüngsten Tag: die Vorstellung von diesem, blitzartig vor dem Geist des Legaten auftauchend, zerriß die Kette des Unendlichen, brachte dessen unaufhaltsames Strömen zum Stehen — der Jüngste Tag, das war der Tag des Gerichtes, aber nicht mehr des einen, sondern der des ewigen Richters. Filippo Fontana war es, als sei er plötzlich selbst zum Angeklagten geworden.

Aber noch ehe er sich über diesen erschütternden Vorgang in seinem Innern Rechenschaft ablegen konnte, öffnete sich hinter ihm die Tür. Der Bruder, der Fontana hergeleitet hatte, erschien wieder und ließ eine kleine, wohlbekannte Schar von Männern eintreten. Sie näherten sich dem Tyrannen, der sie in seinem rauschhaften Selbstgenuß zunächst gar nicht bemerkte. Erst als sie schon ganz nahe an ihn herangekommen waren, blickte er auf, zuckte flüchtig zusammen, um aber sofort wieder in seine gottähnliche Gelassenheit zurückzukehren.

„Ah, meine Herren Mörder“, sagte er mit unbeschreiblicher Verachtung, „endlich habt Ihr es gewagt, hier einzudringen! Laßt euch doch einmal anschauen: mich dünkt, daß Ihr ein wenig zittert. Auch sehe ich, Ihr tragt Kapuzen — recht so, vermummt euch nur, Ihr würdet meinen Anblick sonst wohl nicht ertragen. Ihr also wollt midi töten — Ihr! Armselige, wißt Ihr denn nicht, daß ich für Euresgleichen zu den Unsterblichen gehöre — den Unsterblichen!" Der Legat unterschied nicht mehr, wiederholte der Tyrann auch dieses wahnwitzige Wort, oder hauchte es ihm seine eigene Seele zitternd zu, er wußte nur, es war Gericht: Unsterblichkeit, das hieß entweder ewige Verdammnis oder ewiges Erbarmen.

Unterdessen hatten sich die Brüder, unbekümmert um den Hohn des Tyrannen, im Saale aufgestellt. Der Legat vernahm den wohlbekannten psalmodierenden Tonfall ihrer Wechselrufe:

„Um deines Namens willen, Herr sei gnädig,

Siehe an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden.

Wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit,

Denn mein Herz hat mich verlassen."

Der Legat, vom Bewußtsein seiner Ohnmacht tief durchdrungen, war vollkommen überzeugt, daß diese Wechselrufe ihm galten. Wieder, wie bei seinem Einzug in die Stadt, schien die Consolata seine Lage erraten zu haben, wieder schien sie willens, ihn bei ihrem Zuspruch aufzurichten und zu trösten; wieder sprach er innerlich die letzten Worte mit. Dabei überkam ihn die Gewißheit, daß eine außerordentliche Veränderung im Saale vor ich gehe, eine Macht, nein, eine Übermacht der Wirklichkeit darinnen anwesend sei, die seine eigene Ohnmacht gleicherweise aufhob wie die Scheinmacht jenes Vermessenen dort an der Tafel — dieser Vermessene war ja plötzlich gar nicht mehr vorhanden, sondern vorhanden war der, den die Consolata angesprochen hatte, vorhanden war eine armselige Kreatur, die wie alle anderen sterben und verderben kann, ein zum Tode Verurteilter, der inne geworden ist, daß er nichts mehr bedeutet als einen Gegenstand des letzten Erbarmens. Der Legat sah, wie der eben noch in seiner gottähnlichen Gelassenheit Dastehende zu zittern begann, einem Baum gleich, dem man die Axt an die Wurzel gelegt hat — ein lautloser Sturz schien stattzufinden, ein ungeheurer Spuk war ganz einfach zu Ende. (Fortsetzung folgt)

Wir weiden von der Verfasserin der Erzählung „Consolata" aufmerksam gemacht, daß das Büchlein nur als Lizenzausgabe im Züricher Arche-Verlag erschienen ist. Das Eigentumsrecht besitzt nach wie vor der Insel-Verlag, Leipzig.

,„Die Furche"

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