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Das AAeisterrad

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Viele Räder habe ich im Lauf der Jahre in des Wortes wahrstem Sinn besessen. Des getreuen, unverwüstlichen Gefährts, das mir durch den ganzen zweiten Weltkrieg gedient hat, auf Nacht- und Nebeljagden durch die Ruinenfinsternis, auf kühnen Bergungsfahrten über knirschende Glasscherben, auf weiten Hamsterreisen, ja, dieses wackeren gedenke ich mit besonderer Rührung. Ungarische Soldaten nahmen es mit, wer weiß, wo es geblieben ist. Auch des französischen Renners erinnere ich mich gern, den ich später ritt. Er war so leicht, daß man ihn mit einem Finger aufheben konnte, aber die neugierigen Fragen, wo ich das Radi her hätte, nahmen so bedrohliche Formen an, daß ich es in aller Stille wieder in den Keller stellte, aus dem ich es organisiert hatte. Aber heute will ich die Geschichte eines dritten Rades erzählen, auch wenn sie schon weiter zurückliegt — es könnte sie ein Jüngerer nach dem zweiten Weltkrieg genau so erlebt haben, wie ich sie nach dem ersten erlebt habe.

Fahrräder werden fabrikmäßig hergestellt, eines schaut so ziemlich aus wie das andere, ein erfreulicher Zustand, der auch bei den Menschen angestrebt wird. Trotzdem gibt es verschiedene Marken, und jeder Radler schwört auf die seine. In der Liebe möchte ja auch niemand zugeben, daß der Unterschied zwischen den Frauen, im ganzen gesehen, nicht so gar groß ist.

Ob nun seinerzeit, wie gesagt, kurz nach dem ersten Weltkrieg solche Markenräder nicht auf dem Markt waren oder ob ich der schweifenden Lust nachgab, etwas ganz Eigenes zu besitzen, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls überredete mich mein jüngerer, in allen Wassern der Inflation gewaschener Vetter leicht, von einer seltenen Gelegenheit Gebrauch zu machen: er kannte einen Mann, der Räder, nach Maß sozusagen, baute. Es war kein spinniger Erfinder, dieser Mechanikus; niemand soll glauben, es habe sich um ein kettenloses, nabenloses, speichenloses oder sonstwie eigenwilliges Fahrzeug gehandelt. Als ich das fertige Rad abholte, erschien mir sowohl der Mann wie auch das Stahlroß gesund — durchschnittlich; lediglich der Preis war ungewöhnlich; er betrug etwa das Dreifache eines Fabrikrades. Davon erklärte ich mir die Hälfte selbst aus dem Umstand, daß auch Maßschuhe, selbst wenn sie nicht passen, maßlos teurer sind; die andere Hälfte erklärte mir der Mechanikus, indem er auf die zahlreichen Vorzüge und Verbesserungen dieses Wunderrades hinwies; er sprach und erläuterte so überzeugend, daß ich mich mit dem Gefühl überströmender Dankbarkeit in den Sattel schwang und denselben Nachmittag noch meinen Freunden das Wundertier in allen Gangarten, mit drei Schaltungen, drei Bremsen, kurz, mit seiner Uberfülle an technischen Neuerungen vorführte. Es erweckte Neid, Staunen und uneingeschränktes Lob; denn meine Freunde besaßen nur vorweltkriegliche, zusammengefahrene Schleiferskarren.

Für den nächsten freien Tag wurde eine Radfernfahrt beschlossen. Als Fußgänger und Bergsteiger war ich meinen Kameraden immer überlegen gewesen; wie würde ich sie jetzt erst, mit dem

Mozart ist zum Tode verurteilt.

Ich kehrte in mein Abteil zurück, und meine Gedanken gingen mit: diese Leute leiden gar nicht unter ihrem Los. Nicht Nächstenliebe bewegt mich hier. Ich will mich nicht über eine nie verheilende Wunde erbarmen; denn die Menschen, die sie am Leibe tragen, fühlen sie nicht. Aber das Menschliche ist hier beleidigt, nicht der einzelne Mensch. An Mitleid glaube ich nicht, aber ich sehe die Menschen an wie ein Gärtner. Darum quält mich nicht die tiefe Armut, in der man sich schließlich ebensogut zurechtfindet wie in der Faulheit. Generationen von Morgenfandern leben im Schmutz und fühlen sich wohl dabei. Mich quält etwas, was die Volksküchen nicht beseitigen können. Nicht Beulen und Falten und alle Häßlichkeit; mich bedrückt, daß in jedem dieser Menschen etwas von einem ermordeten Mozart steckt.

Nur der Geist, wenn er den Lehm behaucht, kann den Menschen erschaffen. neuen Rade, durch Sonne und Mond hetzen! Sie drohten mir im voraus, daß sie nicht mehr mit mir radeln würden, wenn ich den Versuch machen wollte, sie abzuhängen. Wir fuhren los. Ich war schon fünf Jahre nicht mehr auf einem Rad gesessen,' die andern waren in der Übung. Ich strampelte, was ich konnte, ich kam gerade noch mit. Die Freunde lobten mich, daß ich beim Radeln offenbar vernünftiger sei als beim Bergsteigen. Und sie priesen auch das schöne Rad, das sich auf schwierigen Wegen so geländegängig zeigte. Ein Stück weit mußte aber das Vehikel doch getragen werden. Ich vergoß Ströme von Schweiß. Ich hatte es wohl seit meiner Bubenzeit vergessen, wie schwer so ein Karren ist. Aber doch — wie stolz durfte ich auf mein Fahrzeug sein: wo wir hinkamen, scharten sich die Buben darum und erklärten es für das pfundigste Radi, das sie jemals gesehen hätten.

Beim Sport ist es nun einmal so: der eine ist Meister im Stabhochsprung, aber deshalb ist noch lange nicht gesagt, daß er im Hürdenlauf auch der Beste sein muß. Ich jedenfalls, so meinten meine Freunde, so dachte ich nach einigen Radausflügen selber, ich war unbestrittener Sieger in allen Fußkämpfenf aber Radler, nein, der geborene Radler war ich offenbar nicht; trotz des großartigen Fahrzeuges! Die ersten paarmal hatte ich mir und den andern vorgeredet, ich sei nicht recht in Form. Aber als ich eines Abends, bei der scharfen Fahrt zum letzten Zug, sogar hinter den Damen eintrudelte, war mein Urteil gesprochen: als ernsthafter Bewerber um den Lorbeer war ich ausgeschieden. Ich bekam noch ab und zu gute Ratschläge, daß ich meinen Stil ändern, mehr mit den Zehen treten solle oder mehr mit dem Mittelfuß; auch wurden Sattel und Lenkstange wiederholt verstellt, aber ich kam über fünfundzwanzig Stundenkilometer nicht hinaus. Ich war zum harmlosen Mitfahrer herabgesunken, der bei einer mäßigen Bummelei nichts verdarb.

So ging das zwei Sommer lang. Mein Rad erwies sich als hochwertig, es war stark und ausdauernd; bei einem Zusammenstoß, der dem Gegner das Schutzblech, die Bremse und zwölf Speichen gekostet hatte, war auch nicht ein Stäbchen verbogen worden, ich war stolz und verliebt in mein Stahlroß, und die Gefährten waren sicherlich der heimlichen Ansicht, daß es schade sei um das starke, feurige Tier unter einem so mittelmäßigen Reiter.

Eines Tages, am Ende dieses zweiten Sommers, kam mein Freund Paul, der einen alten ausgedienten Klepper ritt, auf den verwegenen Gedanken, mich für eine Strecke Wegs zu einem Tausch einzuladen. Er wollte das Hochgefühl doch auch einmal kosten, auf einem so wunderbaren Rad durch die Gegend zu brausen. Ich bestieg ziemlich mißmutig seinen verwahrlosten Drahtesel, gewärtig, bald der letzte des Gefolges zu sein. Aber, welch ein Wunder: es war ein flinkes Eselein, das ich da ritt! Ich trabte ohne Anstrengung an den andern vorbei, und als ich mich dann in Galopp setzte, war ich weit voraus.

Als Nachzügler, leicht bläulich angelaufen, kam mein Freund Paul an. Er erklärte, daß die Kugellager durchgedreht, das Getriebe versandet oder die Bremsen nicht in Ordnung sein müßten. Eingehende fachmännische Untersuchung ergab jedoch dafür keine Anhaltspunkte, und ich selber stellte auf Grund einer kurzen Probefahrt fest, daß das Rad laufe wie immer in all den zwei Jahren.

Nun wird vielleicht der Leser unwillig sagen, daß diese Geschichte — denn sie ist eigentlich schon aus — ein Mist sei; denn warum, wird er sagen, hat dieser Tausch nicht schon in den allerersten Tagen stattgefunden und sofort klargestellt, daß das Meisterrad sicher sehr gut, aber zum Fahren ungeeignet war? Da kann ich ihm nur antworten, daß das Leben so ist und daß fünfaktige Dramen nicht möglich oder nötig wären, wenn im ersten Akt die einfachsten Zusammenhänge schon aufkommen würden.

Jedenfalls habe ich das Rad einem armen Mann geschenkt, einem besonders kräftigen Angehörigen der werktätigen Bevölkerung. In Ansehung der Kosten-losigkeit versprach mir der Brave, den Karren in Gottes Namen noch gar fertigzufahren, bis zu seinem seligen Ende, wenn es auch eine Blutschinderei sei — das habe er nach den ersten paar Tritten schon gemerkt. Ich selber kaufte mir ein ganz gewöhnliches Fabrikrad, mit dem ich ziemlich mühelos, gestärkt durch die zweijährige Ertüchtigung, mich an die Spitze unseres Feldes setzte, dergestalt, daß mein Freund Paul sich bald darauf einen Wagen erwarb und sich vom Radsport überhaupt zurückzog.

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