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Das Gesicht des Mönchs

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I.

„Nein, Ihr Besuch wird ihn nicht kränken“, gab mir der Arzt zur Antwort. „Und er wird Sie auch sicherlich erkennen. Er ist der geduldigste Patient, der je in meiner Obhut stand, freundlich, höflich, aufmerksam, gebildet und eben doch vollkommen irr. Sie kannten ihn gut, nicht wahr?“

„Er war mein liebster Freund“, sagte ich, „und bevor ich nach Amerika ging, vor etwa drei Jahren, waren wir unzertrennlich. Ich kann es gar nicht fassen, daß er wahnsinnig sein soll, er, Hubert Blair, einer der klügsten und besten Schriftsteller in London, geistreich und strahlend wie er war! Etwas Wildes war in ihm, etwas Leichtsinnig-Liederliches vielleicht, eine seltsame Mischung von Geist und Sinnlichkeit, aber... verrückt?! Das kann ich gar nicht fassen!“

„Auch dann nicht, wenn ich Ihnen sage, daß er mir eines Tages gebracht wurde, schwer erkrankt an religiösem Wahnsinn?“

„Religiöser Wahnsinn? Er? Hubert Blair?“

„Ja. Er wütete gegen sich selbst, sprach sich alle Lebensberechtigung ab, erklärte, daß er Fluch und Verderben bedeute einer anderen unbekannten Persönlichkeit, daß jede seiner eigenen Taten jenem Unbekannten aufgerechnet würde, daß seine eigenen Sünden alle auf jenen Fremden fielen, von dem er verfolgt und heimgesucht würde, immer und überall.“

Die Worte des Arztes erschütterten mich. „Bringen Sie mich zu ihm“, bat ich schließlich. „Und lassen Sie mich dann mit ihm allein.“

Es war ein seltsamer und trauriger Augenblick, als ich den Raum betrat, in dem Hubert Blair sich befand. Ich war bis ins Innerste ergriffen. Er erkannte mich, begrüßte mich warm. Und ich nahm auf einem Stuhl ihm gegenüber Platz.

Wir schwiegen lange. Schließlich blickte Hubert auf:

„Du wunderst dich über mich?“

„Ja.“

„Nun, ich habe mich wohl sehr verändert?!“

„Ja“, sagte ich noch einmal, etwas verlegen und bedrückt. „Und — warum?“ Ich wünschte die Ursache seines Wahnsinns zu kefinen, mich selbst davon zu überzeugen, denn sonst würde ich Hubert auf immer verlieren.

Er antwortete ruhig. „Ich will dir erzählen, was sonst niemand weiß, aber auch du' wirst vielleicht...“, er zögerte, dann fuhr er fort: „Nein, du wirst mir glauben.“

„Gewiß, wenn du mir sagst, daß es die Wahrheit ist.“

„Es i s t wahr!“

„Bernhard, du weißt ja gut genug, wie ich war, damals, als du England verließest, um nach Amerika zu gehen: heiter, frivol und leichtfertig in meinen Vergnügungen, wenngleich ernst und beständig in meinen Arbeiten. Du weißt, wie ich es liebte, die Höhen und Tiefen aller Erlebnisse auszukosten, meine ganze geistige und körper-

liehe Kraft aufzubieten bis zum bitteren oder süßen Ende, wie ich vor keiner Sünde zurückschreckte, wenn sie nur um ein Weniges meine Kenntnis und Erfahrung der Menschen, die mich interessierten, zu bereichern vermochte. Ich lebte ganz aus dem Vollen damals. Bewegte mich in allen nur möglichen Liebeshändeln und Ränkespielen. Ich knüpfte aus Perlen aller sich mir darbietenden Gemütserregungen meinen Rosenkranz und gab ihnen nach, solange es mein Gesundheitszustand erlaubte. Dann jedoch, weißt du auch, wie stark und furchtbar ich unter geistigen Depressionen litt, wie satanisch mir mein Leben erschien, wie mein literarischer Erfolg mir nichts mehr bedeutete. Wie ich mich verachtet und gehaßt glaubte, Stimmen hörte, die mich verhöhnten! Diese Anfälle gingen vorüber und ich lebte wieder, leidenschaftlich wie vorher, ein leidenschaftlich besessener Arbeiter, ein leidenschaftlich besessener Vergnügungssüchtiger, wie es in London keinen zweiten gab.

So lebte ich weiter, auch als du fort warst. Mein Erfolg wuchs. Durch viele selbstbegangene Sünden war es mir gelungen, tief in die menschliche Psyche von Mann und Frau hineinzutauchen. Oft führte ich ganz bewußt Menschen weit hinweg von der Schuldlosigkeit, nur von dem Wunsch beseelt, die allmähliche Umstellung und Entwicklung ihrer Natur zu beobachten. Oft spornte ich sie zu Torheiten an, nur um, festzustellen, wieweit unsere Taten sich auf unseren Gesichtern spiegeln und unsere Seelen verändern. Ich handelte völlig verantwortungslos und hielt mich doch“ dabei noch für gutherzig. Denn du erinnerst dich wohl noch, alle meine Untergebenen liebten mich, und die Menschen fühlten, sich zu mir hingezogen. Manchmal wurde diese meine Lebensführung durch quälende Anfälle einer mir unerklärlichen Melancholie unterbrochen, die mich fast erdrückte. Dann schien meine Seele wie durch einen heftigen und schweren Schlag betäubt. Ich war wie gelähmt. Konnte fast nicht mehr gehen, konnte die Menschen nicht mehr ertragen, nicht mehr sehen. Ich schloß mich ein und versuchte mich mit Vernunft und allem guten Willen wieder zurückzuleben in meine gewohnte Heiterkeit und Leichtfertigkeit. Meine Arbeit wurde beseitegeschoben, mein Klavier verschlossen. Ich versuchte zu lesen, aber auch dieser Trost war mir versagt. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete ich allein auf mich selbst und meinen Zustand. Warum, so sagte ich zu mir selbst, bin ich das Opfer dieser grundlosen Verzweiflung? Was bedeutet diese Depression, die mich sinnlos zu Boden drückt? Woher kommt nur dieses schreckliche Elend, dieser unbegreifliche, grundlose Schrecken vor dem Leben und vor mir selbst? Warum fällt er mich so an...? Natürlich konnte ich nirgends eine Antwort finden auf alle diese Fragen, die ich mir immer wieder stellte. Und diesmal, Bernhard, war dieser Zustand an Dauer und Stärke so viel schwerer als jemals vorher, daß ich von entsetzlicher Angst befallen wurde. Ich dachte an Selbstmord. Dann kam die Krise. Ich wagte nicht länger, allein zu bleiben, ergriff Hut. Mantel und Stock und eilte davon, ohne ein bestimmtes Ziel. Ich wanderte Piccadilly zu, ängstlich die Blicke der Passanjten meidend. Ich bildete mir ein, sie alle könnten meine Pein mir vom Gesicht ablesen. Ich bog in die Bond-Street ein und blieb, einer plötzlichen Eingebung folgend, vor einem Haus stehen. Meine Augen fielen auf ein Messingschild, auf dem die Worte zu lesen waren: Vane, Seelenarzt, Sprechstunden 11 bis 4 Uhr täglich. Ich erinnere mich deutlich, daß ich diese Zeilen mehrmals überlas und sie mir flüsternd wiederholte. Warum? Ich weiß es nicht. Dann wandte ich mich ab und war im Begriff, weiterzugehen. Aber ich vermochte es nicht. Ich hielt an und las nochmals die Worte auf dem Messingschild. Auf der rechten Seite der Tür befand sich eine elektrische Klingel. Ich legte meinen Finger darauf und drückte den Knopf nach innen. Die Tür öffnete sich, und ich wandelte, wie ein Mann im Traum, eine Treppenflucht empor. Oben befand sich eine zweite Tür, vor der ein Mädchen stand.

.Wollen Sie zu Dr. Vane?'

.Bitte kommen Sie herein, ich will nachsehen!'

' Sie führte mich in ein einfaches, spärlich möbliertes Zimmer und brachte mich dann, nach einer kurzen Wartezeit, in ein anderes, in dem ein großer dunkler junger Mann, in einen langen Rock gekleidet, vor mir stand. Er verbeugte sich, und ich dankte schweigend. Nachdem das Mädchen gegangen war, sagte er: .Brauchen Sie meine Hilfe?' Ja', antwortete ich.

.Bitte, nehmen Sie Platz!' Er wies auf einen Stuhl neben einem kleinen runden Tisch, setzte sich mir gegenüber und ergriff meine Hand. Nachdem er sie durch eine Lupe genau betrachtet und mir meinen Charakter ziemlich wirklichkeitsgetreu an den Handlinien erläutert hatte, legte er die Lupe beiseite und blickte mich eindringlich an.

,Sie leiden an 6tarken Depressionen?' sagte er.

Jawohl.' Und noch aufmerksamer mich betrachtend, fuhr er fort:

.Wissen Sie, daß jedermann einen Gefährten hat?'

,Wie? Einen Gefährten?'

.Einen, der unaufhörlich um. ihn ist, einen, den er nicht sehen kann.'

,Sie meinen einen Schutzengel?'

,Ich sage nicht, daß diese Begleiter immer Schutzengel sind. Ich sehe Ihren Begleiter jetzt ganz deutlich neben Ihnen. Sein Gesicht ist an Ihrer Schulter.'

Ich fuhr zusammen und sah mich hastig um, aber, natürlich konnte ich nichts entdecken.

.Soll ich ihn Ihnen beschreiben?' Ja, bitte!' sagte ich.

.Sein Gesicht ist dunkel, wie das Ihre. Er hat braune Augen wie Sie. Mund und Kinn sind fest und schmal wie bei Ihnen.'

.Dann muß er mir sehr ähnlich sein.'

,Das ist er auch, aber da ist trotzdem ein bemerkenswerter Unterschied.'

.Und welcher?'

.Sein Haar ist kürzer geschnitten als das Ihre und ein Teil davon ist wegrasiert.' .Dann ist er ein Priester?' ,Er trägt eine Kutte. Er ist ein Mönch.' n.

Als ich Bond-Street an jenem Nachmittag verließ, war ich voll Mißtrauen. Doch, immerhin, ich war für eine halbe Guinee eine Viertelstunde lang von meinem Elend befreit worden. Das war wenigstens etwas, ich bereute meinen Besuch bei diesem Mister Vane, den ich für einen liebenswürdigen Scharlatan hielt, nicht. Für einen Augenblick hatte er mich sogar interessiert und einen Augenblick lang hatte er mir über mich selbst hinweggeholfen, so war ich ihm zu Dank verpflichtet. Und schließlich, wie immer, gewann ich wieder die Hernschaft über mich selbst. Eines Morgens erwachte ich mit der Gewißheit, wieder glücklich zu sein. Warum? Ich wußte es nicht. Aber ich stand auf, schrieb wieder. Ich spielte. Ich fühlte, ich hatte Freunde, der Erfolg lag vor mir. Ich schaute wieder ohne Furcht den Menschen in die Augen. Spürte, daß Geist und Körper in glücklicher Verfassung waren. Ich war wieder ich selbst. So glaubte ich wenigstens. Und doch, .wie die Tage dahingingen, merkte ich, wie meine Gedanken oft um meinen unsichtbaren, vermummten Gefährten mit seiner Tonsur kreisten, den Vane gesehen und den ich nicht sehen konnte. War er wirklich bei mir? Und wenn ja, waren seine Gedanken, heilige Gedanken eines Geistes, der auf die Welt und auf alle ihre irdischen Freuden verzichtet hatte? Verharrte er noch immer in seinem mönchischen Dasein, das zu Hause ist in der Stille und im Gebet, in der Ewigkeit und nicht in der Begrenztheit? Verharrte er immer noch in einsamen Nachtwachen und quälte und geißelte er sich den dornigen Pfad des Glaubens hinauf? Und wenn er es tat, was sagte er dann zu mir? Ich erinnere mich noch genau daran, wie diese Gedanken mich überfielen in einem Hause, in dem ich sündigte und ein Menschenherz verdarb. Und ich erschrak und zitterte in dem Gedanken, daß ein Auge mich anblickte, und eilte davon. Du wirst meinen, daß sei alles auf meine übersteigerte Vorstellungskraft zurückzuführen, der ich nachgab. Aber warte nur ab.

Dieser mein Entschluß — ich meine dies Abstandnehmen von der Sünde —, dieser erste bewußte Verzicht verhalf jedoch nicht, wie du vielleicht glauben magst, meinem Geist zum Frieden. Im Gegenteil, ich wurde verärgert und beunruhigt durch diese Art Kriegsführung mit meinem eigenen Ich. Ich haßte alle Selbstbeobachtung, alle Beherrschung, allen Selbstzwang. Freiheit war meine Parole. Und nun hatte ich einer vergewaltigenden Uneigennützigkeit, einem falschen Gott, der seine Gefolgsleute bindet und knechtet, ein Opfer angeboten. Ärgerlich und aufgebracht darüber, nahm ich mit verstärkter Leidenschaft mein früheres Leben wieder auf. Doch fühlte ich mich unaufhörlich begleitet von dem unbehaglichen Gefühl eines stillen Verrates, der Augen, während die meinen beobachtend, durch einen, der litt, wenn ich sündigte, der zusammenschrak, wenn es mich dorthin zog, wohin mich meine Wünsche trieben. Das war der Mönch.

Allmählich bildete sich in mir eine ganze feste, scharfumrbsene Vorstellung von ihm. Ich teilte ihm einen bestimmten Charakter, bestimmte Eigenschaften zu. Ich gab ihm nicht nur ein Herz, sondern auch eine Stimme, tief und klangvoll, von einer himmlischen ernsten Schönheit, mit einem Ton, mehr bereit zur Anklage als zum Lob. Sein Gesicht glich meinem eigenen, jedoch mit einem anderen Ausdruck, überirdisch, wenngleich etwas fanatisch und von vornehmer Erhabenheit, mit betenden Augen, während die Meinen beobachtend, und betenden Lippen, während die meinen weltlüstern waren. Seine Gestalt war hager von Enthaltsamkeit, während meine... war ich nicht ausgemergelt durch Zügel-losigkeit? Ja, sein Gesicht war das meine und doch nicht meins. Es war das Gesicht eines großen Heiligen, der ein großer Sünder gewesen sein mochte. Und Bernhard, ein solches Gesicht ist das anziehendste und eindrucksvollste Gesicht, das es in der Welt gibt. So mich an meinen Gefährten gewöhnend, stattete ich ihn schließlich — denn wir Mensdien sind ja nun einmal in das Stoffliche verstrickt — aus mit einem Körper, gab ihm Hände, Füße, ein Gesicht, alles mir ähnlich und doch nicht ich selbst, eine Art heilige Antwort und Ergänzung meiner Sündhaftigkeit. Denn rufen nicht Hände, Füße und Gesicht unsere Taten aus wie der Nachtwächter die Stunden der Nacht?... So, da stand nun dieser Mann vor mir, so deutlich wie du selbst. Da war er, aber nur, wenn ich sündigte. Wenn ich arbeitete und mich um die klare Fassung meiner Gedanken bemühte, die wie oft wieder entschlüpfende glatte Fische tief unten auf dem Grunde meiner Seele tummelten, wenn ich rang um die Schönheit der Form und um die Anmut des Ausdrucks, wenn ich Dichter und Schöpfer war, dann konnte ich ihn nicht sehen. Doch wenn ich der Mann war, der die Geschichten, die ich später schrieb, erlebte, dann war er bei mir. Und sein Gesicht war das eines Menschen, den der Kummer verzehrt. Er kam zu mir, wenn ich sündigte, wie einer, dem ich durch diese Sünden schweres Unrecht antat. Und ich wuchs langsam in die Vorstellung hinein, daß ich tatsächlich mit jeder meiner Sünden seiner Heiligkeit einen schmerzhaften Stoß gab. Das beunruhigte mich mehr und mehr, und ich kam von den Gedanken an ihn nicht mehr los. Wenn meine Freunde davon etwas geahnt hätten, sie würden mich für verrückt erklärt haben, während ich selbst oft davon überzeugt war, daß mich der Gedanke an ihn, meinen Gefährten, viel eher zu einer Gesundung des Geistes führen könnte als meine eigene Haltlosigkeit... Manchmal nahm ich mir vor, mein Leben neu zu gestalten, anders zu werden, als ich jetzt war. Und dann verlachte ich wieder meine eigene Torheit und verfluchte jenen Seelenarzt der Bond-Street, der' sich eine Lebensexistenz gründete, indem er Nutzen zog aus der verborgenen Dummheit der menschlichen Natur. Abef der Wunsch nach Besserung und Lebensänderung tauchte immer wieder auf, und die Vision von des Mönches verhärmtem jungem Gesichtes begleitete mich. Und wenn ich in meinen Wachträumen es erschaute, fühlte ich oft, daß die Zeit nahe sei, da ich beten und weinen würde über die lange Liste meiner vielen Sünden. •

Dann kam der Tag, Bernhard, an dem ich England verließ. Ich sehnte mich danach, zu reisen. Ich war des Geredes der literarischen Kreise und des Geschwätzes über einen nutzlosen Parasiten, der Modernität hieß, müde geworden. Erfolg bedeutete mir nichts mehr. Ich hatte das sorgenlose, heitere Dasein satt. Es schien mir, als ob London alle Möglichkeiten erstickte, meinen Ausblick . verengte und das wirkliche Leben von mir abschloß mit seinen Stimmungen und Modekrankheiten, seinen kurzlebigen Idolen, seinen Tageshelden, die schon die nächste Nacht verraten. Und so ging ich.

Und jetzt komme ich zu dem Teil meiner Geschichte, der dir zu glauben schwer fallen wird. Doch ist er wahr.

Eines Tages kam ich auf meiner Wanderung zu einem Kloster. Ich erinnere mich des Tages ganz genau. Es war ein Nachmittag im frühen Winter, und ich war unterwegs zu einem wärmeren Klima. Aber, um dorthin zu gelangen, und meiner Natur getreu in Gegensätzen zu leben, entschloß ich mich zum Wege durch einen düsteren und einsam wilden Paß, überhangen von schweren mächtigen Felsblöcken. Ich ritt auf einem Maultier, begleitet nur von einem Diener und meinem schweigsamen Führer, der einen Packesel an der Leine vor sich hertrieb. Langsam wanden wir uns auf den schmalen Pfaden durch die Klippen und Febspitzen, die überall ihre Nasen hervorstreckten und uns bedrohten mit ihren toten Gesichtern und ihren mächtigen Gestalten, zur Höhe hinauf. Diese grauen Steingestalten bedrückten meine Seele. Das Schnaufen der Maulesel erweckte ein gelegentliches Echo, ein Echo, das mir verhaßt war, denn die großartige Stille der Landschaft hatte etwas Gebieterisches, und ich wünschte in ihr zu versinken. Als die Abenddämmerung hereinbrach, fing es an zu schneien, der erste Schnee des Jahres. Ich schaute dem Fall der weißen Flocken zu, die sich auf das Grau der Felsen lagerten, und dachte, daß dieser Pfad, den ich mir erwählt hatte und der mich dem Sommer entgegenführen sollte, wie ein Pfad war, auf welchem heilige Männer langsam zum Paradiese gelangen, wenn sie alle schwierigen Wege des Lebens hinter sich gelassen haben, um schließlich die ewig blühenden Rosen zu erreichen, die jenseits des Graflits und Schnees erblühen

Immer weiter ging es hinauf in die Wolken und in die Nacht, in den Schleier der Welt, in die eisige Dunkelheit der Höhen. Ein Adler, wie ein schwarzer Schatten in die graue Düsternis gelegt, kreiste über meinem Haupt. Dieses fliegende Leben war das einzige Leben in der Steinwüste. Bald darauf setzte mein Maultier, immer nahe am Abgrund vorbeiziehend wie der Mensch an seinem Schicksal, die Hufe in den Schnee. Wir hatten die Schneegrenze erreicht. Auf dem Schnee lagen Spuren eines gelben Lichtscheins. Sie strahlten aus den Dachfenstern eines Klosters, das jeden Gipfel eines Passes krönt.

III.

In diesem Kloster sollte ich die Nacht verbringen. Die guten Mönche nehmen alle Wanderer auf, und während des Sommers sind sie von einer verschwenderisdien Gastfreundschaft. Doch im Winter sind der Wanderer wenige, und die heiligen Männer können ungestört ihrer Einsamkeit leben. Mein Maultier ruhte auf einem steinigen Plateau au6 vor dem Tor des grauen Gebäudes. Der Führer klopfte an das harte Holz. Nach einer Weile wurden wir von einer Gestalt in langem Mantel eingelassen, freundlich begrüßt und bewillkommt. Die Halle war einfach ausgestattet und von peinlichster Sauberkeit. Ich wurde durch lange, breite und eiskalte Gänge in ein großes Zimmer geführt, wo ich die Nacht verbringen konnte. Im Räume standen vier breite Betten mit weißen Vorhängen verkleidet. Ein Bett war für mich besimmt, ein zweites für meinen Diener. Die übrigen blieben unbenutzt. In jener Nacht bat ich, bevor ich mich in mein Zimmer mit den vier Betten zurückzog, um die Erlaubnis, die Kapelle des Klosters betreten zu dürfen. Meine Bitte wurde gewährt. Ich werde nie das seltsame Gefühl vergessen, das mich überkam, als mein Führer mich einige Treppen hinunter, an einem kleinen merkwürdigen alten Fenster vorbei, zur Kapelle geleitete. Daß hier ein Gotteshaus stand, daß die tiefen Töne einer Orgel hier mitten in Wolken und Felsen erklingen sollten, daß hier die Hostie ausgesetzt und der Weihrauchkessel geschwungen, Litanei und Messen im ewigen Schnee gelesen werden sollten, das alles bewegte mich tief. Als wir die Kapelle erreichten, bat ich meinen freundlichen Führer, mich eine Weile allein zu lassen. Ich sehnte mich nach Alleinsein, Er verließ mich und ich sank in die Knie. Ich konnte den Wind draußen pfeifen hören. Ein schwaches Licht glomm am Altar und in einem der eichenen Betstühle sah ich eine gebeugte betende Gestalt. Ich kniete lange, aber ich betete nicht. Zuerst dachte ich nicht einmal. Ich nahm nur einfach in mein Herz den seltsamen vollen Eindruck dieses herrlichen Ortes auf. Während ich kniete, weilte mein Blick auf der dunklen betenden Gestalt in meiner Nähe. Allmählich spürte ich, wie eine Welle von Zuneigung von ihr zu mir getragen wurde, daß in dieses Mönches Ergebenheit mein Name nicht vergessen war. Was für tolle Streiche uns doch unsere Phantasien spielen können', wirst du vielleicht sagen. — Ich fing an, mir vorzustellen, daß dieser Mönch für mich betete, dort in dem schwachen Licht der hohen Fackel. Was für Segnungen bat er wohl auf mich herab? Ich wußte es nicht, doch wünschte ich, sie möchten gewährt werden. Und dann, schließlich, ridi-tete er sich auf, hob das Gesicht aus den Händen, stand auf. Irgend etwas an ihm kam mir bekannt vor, so merkwürdig bekannt, und es überfiel mich eine tiefe Sehnsucht, dies Gesicht zu sehen.

Er schien im Begriff, sich durch eine Seitentür nahe des Altars zurückzuziehen. Dann hielt er ein, und kam zögernd auf mich zu. Wie er näher kam — ich weiß nicht warum —, verbarg ich mein Gesicht tief in meinen Händen in dem furchtbaren Gefühl einer mich tief überwältigenden Schuld, die mir das Blut in die Wangen trieb. Ich zitterte vor Angst. Da fühlte Ich eine sanfte Berührung an meiner Schulter. Ich schaute auf in sein Gesicht, und, Bernhard, es war das Gesicht meines Mönches, meines unsichtbaren Gefährten, es war mein eigenes Gesicht. Der Mönch sah mir forschend in die Augen und prallte zurück: ,Mon demon!' flüsterte er auf französisch, ,mon demon!' Einen Augenblick lang stand er wie gelähmt. Dann drehte er sich um und verließ die Kapelle. Ich sprang auf, ihm zu folgen, doch irgend etwas hielt mich zurück. So ließ ich ihn gehen, ihm nachlauschend, ob sein Schritt auf dem Boden der Kapelle wie der eines menschlichen Fußschrittes erklang, ob sein Kleid beim Gehen raschelte. Ja, er war wirklich ein lebendiger Mensch, und eine menschliche Stimme hatte mein Ohr erreicht. Er lebte wirklich, mein Doppelgänger, dieses Gegenstück meiner Seele, dieses Wesen, das midi Dämon nannte, das vor mir floh, mich zweifellos haßte. Es war ein lebendiger Mensch.

Ich konnte jene Nacht nicht schlafen. Diese Begegnung beunruhigte und quälte mich. Ich erkannte, daß sich für mich irgendein tiefer Sinn dahinter verbarg, den ich entdecken mußte, daß es kein Zufall war, der mich veranlaßt hatte, diese kalte, düstere Gebirgsgegend aufzusuchen, statt sogleich der Sonne zuzustreben. An einem unsichtbaren Faden gebunden, war ich in die winterlichen Wolken geleitet worden, wo ich — oder wenigstens dieses Wesen, dem ich glich — vielleicht schon viele Jahre lang hauste. Ich hatte meinem eigenen Geist gegenübergestanden, und mein Geist hatte mich Dämon genannt. Wie konnte ich da schlafen?

Sehr früh am Morgen stand ich auf. Es war bitter kalt, doch hatte es aufgehört zu schneien. Eine leichte Eisdecke überzog den kleinen See. Wie herrlich war diese Morgendämmerung. Das langsam zunehmende Licht fiel auf die Felsen, auf den Schnee, auf das Eis des Sees, auf die Schiefermauern des Klosters mit einer so zarten Reinheit und Erhabenheit, wie ich es nie gesehen. Es schien, als sei die Natur selbst gereinigt durch ewige Gebete heiliger Männer, denn auch sie, die Natur, kennt Freude und heiße Leidenschaften und die Kampfeslust. Sie auch, wie die Menschen, kann geläutert und begnadet sein.

Ich zog mich am Fenster an und ging hinaus, um den Tag zu beginnen. Niemand war zu sehen. So mußte ich mich allein zurechtfinden. Als ich das Refektorium erreichte, sah ich einen Mönch an der Türe stehen. Es war mein Geist, der auf mich wartete. Schweigend schritt er mir voran zu dem großen Ausgangstor, öffnete es und wir traten hinaus auf das Felsplateau, auf dem jetzt ein dicker Schneeteppich lag. Er schloß das Tor wieder und bedeutete mir, ihm zu den Felsen zu folgen. Als das Kloster außer Sicht war, hielt er an. Wir standen einander gegenüber, schweigend, eingehüllt in das trübe winterliche Morgenlicht.

Und dann schließlich sprach er. Er sprach französisch mit der wundervollen Stimme, die ich kannte.

.Woher bist du gekommen?'

,Von England, Bruder!'

,Von England? So lebst du? Lebst? Bist ein Mensch wie ich? Ich glaubte, du seiest ein Geist, mein eigener Geist, der sich meiner Aufsicht entzogen hat, der meine Gebete mit Schreien unterbricht, meinen Schlaf mit seinen eigenen Wünschen! So bist du ein Mensch wie ich?!“

Er streckte mir seine Hand entgegen, berührte die meine: Ja, so ist es wirklich.'

,Und du', antwortete ich, ,auch du bist kein Geist, wie ich glaubte, der meine Sünden mit Kummer betrachtete, der meine Freuden mit Gebeten unterbrach. Ich habe dich gesehen in meiner Vorstellungskraft, und jetzt erfahre ich, daß du wirklich lebst. Was bedeutet das? Wir sind eins und doch nicht eins!'

,Wir sind wie zwei Hälften eines seltsam zusammengesetzten Ganzen', erwiderte er. .Weißt du, was du mir angetan hast?' ,Nein, Bruder!'

,Höre', sagte er: ,A!s ich ein Knabe war, widmete ich mich Gott. Früh tat ich es, damit ich niemals eine Sünde begehen könnte. Denn ich hatte mir sagen lassen,

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