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Das Wagnis der Politik (II)

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Zweiter Teil zur Reihe darüber, was Menschen im politischen Bereich bedenken sollten. 

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Zweiter Teil zur Reihe darüber, was Menschen im politischen Bereich bedenken sollten. 

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Jeder Politiker, der einigermaßen bekannt wurde, hat bei Fortschreiten seiner Tätigkeit mit der Reaktion der Öffentlichkeit zu rechnen. Von Gustav L e Bon bis in unsere Tage haben sich Psychologie und Soziologie sehr eingehend um die Erforschung der Reaktion der Masse bemüht. Die Erkenntnisse daraus sind für den Politiker von geradezu entscheidender Bedeutung, aber er wird die praktischen Konsequenzen in einer Gesellschaftsordnung, die chaotische Beeinflussungsmöglichkeiten der Masse bietet, schwer ziehen können. Aus der Erfahrung, daß die öffentliche Meinung sehr bald den Politiker klassifiziert, ihn in ein bestimmtes Schema und Vorstellungsbild einzureihen versucht, ihn also einem bestimmten Typ zuordnet, wird der Schluß zu ziehen sein, daß der Politiker von sich aus an dieser Typenbildung mitzuwirken versuchen muß.

Das beginnt schon bei Äußerlichkeiten. Churchill wäre ohne Zigarre ebensowenig vorstellbar wie de Gaulle bei einer gemütlichen Bierrunde. Nicht mit Unrecht hat man behauptet, daß Mendes-France mit einem Glas Burgunder in der Hand unbesiegbar geblieben wäre, sein Photo mit einer Joghurtflasche aber der Anfang seines Untergangs war. Ein schlecht angezogener Eden war ebenso unvorstellbar wie ein gut angezogener B e v i n. Es gibt dabei gewisse Posen, die sich für einen Politiker immer als nützlich erweisen. Hierher gehört zum Beispiel die Pose des biederen, tugendsamen Familien- und ordentlichen Hausvaters, besonders dann, wenn er um die nötige Publicity besorgt ist. Gefährlich kann die Pose des stets launigen und witzigen Politikers werden. In der Öffentlichkeit und im Parlament erwartet man nämlich, daß der arme Mann dauernd Witze produzieren muß. Geht ihm dann einmal der Stoff aus, so ist die Enttäuschung da, man erklärt, er sei langweilig und befinde sich im Abstieg.

Da ist schon das entgegengesetzte, nämlich betonte Zurückhalten besser. Es bietet nämlich Stoff für alle möglichen Kombinationen und Gerüchte, was einen Politiker interessant macht.

Zwei Untugenden

Vor einer bestimmten Pose muß jedoch gewarnt werden: das ist der Politiker, der mit leidendem Augenaufschlag behauptet, er nehme nur höchst ungern, gleichsam gezwungenermaßen, eine bestimmte Funktion ein, er bringe im Interesse der Öffentlichkeit ein Opfer dar. Diesem bemitleidenswerten Mann wird man stets vor Augen halten können, daß zwar sehr viele Politiker nicht die Position erreichen, die sie gerne haben möchten, kein Politiker aber eine Position einnimmt, die er wirklich nicht haben will, auch wenn er sie nur vorübergehend, vielleicht als Umweg, hinnimmt.

Anderseits muß man auch der Öffentlichkeit einen Vorwurf machen. Es ist nicht einzusehen, warum politischer Ehrgeiz und das Streben, politische Positionen einzunehmen, in der Öffentlichkeit als Akt besonderer Verwerflichkeit gelten soll. Wenn überdies sonst im Leben das Streben nach oben geschätzt und geachtet wird, warum soll es in der Politik anders sein? Man kann ein bestimmtes Konzept, eine bestimmte Idee, nur im Besitz der dazu nötigen Positionen realisieren. Der politische Ehrgeiz ist daher logisch, und jeder Mensch, der die politische Laufbahn begonnen hat, hat ihn, und zwar auch dann, wenn er behauptet, er habe ihn nicht.

Der Prozeß der „Abnützung“

Es ist durchaus natürlich, daß die Öffentlichkeit gerne neue Gesichter in der Politik sieht. Neue Menschen erwecken neue Hoffnungen. Dazu kommt eine gewisse Abnützung, die das Bild eines Politikers im Laufe der Jahre in der Öffentlichkeit unvermeidlich erleidet. Es ist eine Tatsache, daß auch die großen und erfolgreichsten Politiker nach langer Zeit ihres Wirkens unter dieser Unlust zu leiden haben.

Churchill wurde gestürzt, nachdem er für England den zweiten Weltkrieg gewonnen hatte, und bei Adenauer sagten manche gerade aus den Kreisen, denen seine Politik am allermeisten nützte, „sie könnten ihn nicht mehr sehen“. Dem steht allerdings entgegen, daß die breite Masse ein ausgesprochenes Bedürfnis nach einer Persönlichkeit besitzt, zu der sie mit Vertrauen aufblicken kann. Es ist auch eine Tatsache, daß sich der um jeden Preis geschäftige, meist auch vielredende Politiker am ehesten abnützt, hingegen ein Mann ruhiger und überlegener Tatkraft ständig, wenn auch langsam an Boden gewinnt.

Popularität und Beliebtheit werden auf die Dauer nicht genügen. In kritischen Situationen wird die Bevölkerung eher den Mann vorziehen, der den Ruf echter Tatkraft und wirklicher Leistungen besitzt, auch wenn er nicht sympathisch ist. Es ist daher nicht leicht, aus einer Materie, bei der so viele Komponenten mitspielen, noch einige weitere Regeln abzuleiten. Man wird aber sagen können, daß eine Politik der Tatkraft und der Offensive immer dann richtig sein wird, wenn es sich um eine Situation handelt, die offensive Möglichkeiten bietet. Derjenige, der in solchen Lagen die Initiative an sich reißt und sie nicht

aus der Hand gibt, hat von vornherein einen enormen Vorsprung. Die Politik hat viel mit der Strategie gemeinsam: Auch hier gilt der Grundsatz, daß Angriff die beste Verteidigung ist. Wo aber eine Offensive auf Grund der gegebenen Verhältnisse nicht möglich ist, da ist die beste Politik gegenüber den Angriffen des politischen Gegners das konsequente Nein. Aus unerschütterlicher Verneinung und Abwehr, also Defensive, kann schon nach kurzer Zeit eine Möglichkeit zur Offensive entstehen.

Drei Gefahren lauern am Wege

Es gibt gewisse Gefahren, die am Wege eines jeden Politikers lauern. Dazu gehört es, wenn man die Dinge treiben läßt. Ein gewisses Zuwarten kann unter Umständen eine natürliche Auslese bedeuten, manche Schwierigkeiten fallen von selbst weg. Zuwarten bringt auch manche Klärung mit sich. Aber diese wenigen Vorteile wiegen nicht einigermaßen die enorme Gefahr auf, daß man durch Treibenlassen die Kontrolle über die Entwicklung völlig verliert.

Eine weitere Gefahr stellt sich immer denen entgegen, die gute und loyale Demokraten sind und die ihre Meinung niemandem aufdrängen wollen. Sie haben nämlich die Tendenz, alle zu fragen, alle zu Wort kommen zu lassen und alle Argumente zu würdigen. Nachdem bekanntermaßen jedes Argument etwas für sich hat, jeder Standpunkt zu vertreten ist und vor allem jeder in seinem Innersten annimmt, er sei der Mittelpunkt der Welt, gerät der loyale Demokrat in Gefahr, daß er nicht eine geschlossene endgültige Meinung aus all diesen Einflüssen entwickelt, sondern daß er in einem Zickzackkurs einmal dahin, einmal dorthin neigt. Die Gefahr des Vorwurfs, man hätte eigenmächtig gehandelt, ja man sei schließlich bei seinen Entschlüssen ohne breite Rückendeckung, ist viel geringer als die Gefahr, das Opfer zu vieler Antworten, weil zu vieler Fragen zu sein.

Eine weitere große Gefahr ist die Erzeugung eines Vorstellungsbildes in der öffentlichen Meinung, für dessen Realisierung es nicht die nötigen Voraussetzungen gibt. Hierzu gehört auch die Position der Stärke. Während es unbestritten ist, daß man stark sein und stark handeln soll, ist es höchst zweifelhaft, ob es klug ist, auch davon zu reden.

Die Position der Stärke kann nur dann in der Öffentlichkeit eingenommen werden, wenn nach menschlichem Ermessen alle Voraussetzungen zur Erfüllung der gestellten Aufgaben gegeben sind. Da dies aber im politischen Leben nie sicher ist, wird es wohl besser sein, nicht die Stärke von Anfang an zu verkünden, sondern eher aus den vollzogenen Leistungen schlußfolgern zu lassen. Allzu prägnante Vorstellungsbilder (besonders stark, besonders wendig, außerordentlich geschickt, ein kluger Taktiker) schlagen bei dem kleinsten und meist unvermeidlichen Mißerfolg in Enttäuschung und in den Vorwurf des Gegenteils um. Bedenkt man die Relativität aller Machtpositionen in den modernen Demokratien, so muß man sich breitesten Spielraum für die Verhandlungen sichern, darf man sich nie die Hände binden und muß ständig bemüht sein, fruchtbare Alternativen anzubieten. Eine jahrhundertealte Erfahrung in Politik und Diplomatie beweist, daß der Begriff der ausweglosen Situation nicht existiert. Die Dinge bleiben nie gleich, und es kommt nur darauf an, wer die unausweichliche Evolution beeinflußt.

Vom Parteipolitiker zum Staatsmann

Jeder erfolgreiche Politiker sieht sich über kurz oder lang einer der schwersten Entscheidungen seiner Karriere gegenüber: dem Übergang vom Parteipolitiker zum Staatsmann. Ein solcher Übergang setzt die Erkenntnis von dem relativen Wert aller Parteidoktrinen vor dem Hintergrund der Geschichte voraus. Diese weltanschauliche Reifung, dieses Über-den-Dingen-Stehen, bedeutet in der Praxis meistens den Abschied von den bisherigen Weggefährten und eine beginnende Vereinsamung.

Wird dieser Übergang zu früh vollzogen, so fehlt es an parteipolitischer Unterstützung noch zu einer Zeit, in der sie notwendig wäre; der zu früh objektiv gewordene Politiker verliert an Boden und scheidet aus. Erfolgt aber die Erkenntnis zu spät, so wird aus dem Parteipolitiker nie ein Staatsmann, er sinkt in den alten Rahmen zurück. Daß es nur so wenige Staatsmänner gab, beweist die Schwierigkeit der Wahl des rechten Augenblicks.

Die launische Honorierung

All das ergibt wenigstens für den Außenstehenden ein keineswegs anziehendes Bild. Der Kräfteeinsatz in der Politik, auch der seelische Einsatz, steht eigentlich in keinem Verhältnis zum Resultat. Die Politik ist nicht gerecht, und oft ist sie das reinste Spiegelbild der menschlichen Schwächen und Fehler. Größter Einsatz, echteste Aufopferung, reinstes Wollen und gewaltige Leistungen werden manchmal nicht belohnt, ja

mit bitterem Unrecht bezahlt. Da sollte viele abschrecken, die glauben, für diese Tätigkeit berufen zu sein. Aber der Mißerfolg oder die Ungerechtigkeit sind anderseits auch keine Regel. Man kann viel eher sagen, daß Politik ein Wagnis um ganz große Werte mit ungewissem Ausgang ist. In diesem Sinn gleicht die Politik dem Fatum der Antike. Da die Welt wesensmäßig unvollkommen ist, sind auch alle Bemühungen, sie vollkommen zu machen, unvollkommen. Nur in ganz großen Linien können wir einen Fortschritt in der geschichtlichen Betrachtung der politischen Entwicklung feststellen. Aus dem unübersichtlichen Wirrsal politischer Strömungen formt sich ein sinnvoller geschichtlicher Zug. Gleich den Regeln der Wahrscheinlichkeitsmathematik und Statistik kann man ein bestimmtes Ergebnis in seinem allgemeinen Effekt voraussagen. Aber man kann nicht sagen, wer die Träger dieser Entwicklung sein werden und wie sich das in Einzelheiten vollziehen wird.

In dem Bestreben, Ausdruck und Schöpfer dieser historischen Entwicklung zu sein, wird es immer Politiker geben. Die meisten von ihnen werden das Schicksal erleben, daß die Gegenwart ihr Werk mißachtet oder verkennt und erst die Geschichte ihre Leistungen belohnt.

' Vgl. „Die Furche“ vom 13. April 1963.

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