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"Eine Katze im Ghetto und andere Erzählungen": Alltag als Dauerschrecken

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Die Jahre von 1940 bis 1944 verbrachte Rachmil Bryks im Ghetto von Lodz. Nach dessen Liquidierung wurde er nach Auschwitz deportiert. Seine Lebensaufgabe hatte er darin gefunden, der Nachwelt von seinen schrecklichen Erfahrungen Nachricht zu hinterlassen. Geschrieben hatte er, schon bevor die Nazis das Leben der polnischen Juden zu bestimmen begannen, doch im Ghetto wandelte er sich zum Chronisten der Leiden. Ehe er ins Konzentrationslager gebracht wurde, vergrub er seine Manuskripte, 1946 wurden sie gefunden und werden heute in Warschau aufbewahrt. Nach seiner Befreiung ging er nach Schweden, von wo aus er im Jahr 1949 mit seiner jungen Familie in die USA auswanderte. Sie richtete sich, wie seine Tochter im Nachwort festhält, unter kargen Bedingungen ein. Sein schlechter Gesundheitszustand ließ es nicht zu, dass er einer geregelten Arbeit nachging, und Ansuchen um Zahlungen zur Wiedergutmachung unterließ er, da er „schmutziges Geld“ nicht anrühren wollte.

Nun ist ein Erzählband auf Deutsch erschienen, der das erste Mal 1952 auf Jiddisch veröffentlicht wurde. Es handelt sich um erschreckende Lektüre. Mit einfachen Mitteln schildert Bryks das Leben der Leute im Ghetto und im Konzentrationslager, er bauscht nichts auf, er spekuliert nicht mit Effekten, diese Zurückhaltung hat etwas Zwingendes. An ihr lässt sich die Notwendigkeit erkennen, als Zeuge, nicht als Ankläger in Erscheinung zu treten. Der ganz gewöhnliche Alltag unter einem Regime der Willkür von Kapos und Aufsehern dehnt sich zum Dauerschrecken. Der Tod kommt unerwartet und zufällig, wie es den Launen der Herren und Herrinnen über Leben und Tod gerade entspricht.

Die Perfidie des Dritten Reiches

Wie besiegt man die Angst so weit, dass man überlebensfähig bleibt, wie kommt man zu einem Bissen Essen, der immerhin kurzfristig das Weiterkommen ermöglicht? Um solch elementare Fragen geht es, wobei Bryks besonderes Augenmerk darauf legt, zu zeigen, dass es den Nazis nicht gelungen ist, die Menschlichkeit aus den Geschundenen zu vertreiben. Es gibt nämlich eine Para­llelgesellschaft zu jener der Nazis, in der Leute zusammenhalten, weil sie gemeinsam erfinderisch und kühner sind als allein.

„Alle träumten sie von Kohlrabi-Schalen“, so heruntergeschraubt sind die Erwartungen. Besonders drastisch aber wirken die Erzählungen, wenn der Holocaust auch als Krieg gegen Kinder dingfest gemacht wird. Das zeigt die Perfidie des Dritten Reiches besonders nachdrücklich. Ein notwendiges Buch!

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