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Der deutsche Hausschatz wächst

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KLASSISCHE DEUTSCHE DICHTUNG. Herausgegeben von Frlti Martini und Waller Müller-Seidel unter Mitwirkung von Benno von Wiese. Band 4, 6, s und 13, 14, IS. Verlag Herder, Frelburg-Basel-Wlen. Preis je Band 16.80 DM,

Als der Herder-Verlag vor einigen Jahren den Grundriß seines Unternehmens einer Anthologie deutscher Dichtung vorlegte, war man im Urteil noch etwas unsicher. Man konnte das Auswahlprinzip trotz der skizzierten Titel noch nicht recht erkennen. Hermann Hesse, dem einmal aufgetragen worden war, in einem einzigen Reclambändchen eine Bibliothek der Weltliteratur zusammenzustellen, hatte damals die Frage aufgeworfen, welcher Besitz den für den Gebildeten wichtiger sei, der des Gilgamesch-Epos oder der des „Maler Nolten“. Die Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben, daß heißt in der Praxis durch die meisten deutschsprachigen Bücherbesitzer zugunsten des „Weder-noch“ entschieden worden. Der Sammlung „Klassische deutsche Dichtung“, die im Lauf des letzten Jahres sechs neue Bände herausbrachte, ist der Versuch einer methodischen Antwort gelungen. Sie nimmt das literargeschichtlich Wichtige, aber für den heutigen Leser Spröde und schwer Zugängliche ganz einfach „in die Mitte“ und stellt es zwischen Texte, die ihre unveränderte Anziehungskraft entweder dem landläufigen Bekanntsein oder dem sich unmittelbar eröffnenden Reiz verdanken. Die drei Bände erzählender Prosa (vier, fünf und sechs der Reihe) sind geradezu ein Musterbeispiel dieser Systematik. Sie stellen — für sich genommen — eine Entwicklung der deutschen Prosa in einem ihrer wichtigsten Abschnitte dar. Fritz Martini, dem die vielleicht stellenweise zu wortreich geratenen Epiloge zu danken sind (sie erzählen zuviel über die Werke, deren Reiz ja durch die Lektüre selbst vermittelt werden soll), hat die Einteilung meisterhaft getroffen. Er beginnt mit Brentano. Neben der „Chronika eines fahrenden Schülers“ steht hier die „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“, die auch für den heutigen Illustriertenleser noch durchaus spannungsreich ist. Die Spätromantiker Eichendorff, Hauff und Chamisso werden zu Recht in den ersten Erzählband vorgezogen. Das Wunderbare und Märchenhafte, bei Brentano noch als eigentliche Wirklichkeitskategorie anerkannt, wird bei Eichendorff mit der Stilebene des Alltäglichen kontrapunktiert, bei Hauff zum bewußt gekennzeichneten Märchen distanziert und im „Peter Schlemihl“ in die Tatsachen-

wirklichkeit einbezogen. Der Übergang zur Moderne, zu dem, was man heute „magischen Realismus“ nennt, könnte in keinem germanistischen Seminar sinnfälliger dargestellt werden. Und doch wird dem naiven, eben interessierten Leser durchaus an Entwicklungsgeschichten nicht Genüge getan. Er erhält seinen „Taugenichts“ und wird dadurch verführt, den viel wichtigeren Roman „Ahnung und Gegenwart“ wenigstens anzulesen. Er blättert im „Peter Schlemihl“ und findet wahrscheinlich nach einigen Seiten, daß der Einbruch des Magischen in die Realität hier ein Jahrhundert vor Kafka bereits vorweggenommen ist.

Die nächstfolgenden Bände folgen ähnlichen, inneren Formprinzipien. Besonders gut ist das bei Band sechs gelungen. Nur fragt man sich, warum Mörikes „Mozart auf der Reise nach Prag“ am Ende — nach Hebbel und der Droste steht. Vielleicht als Belohnung für den, der alle drei Hebbel-Geschichten durchgehalten hat? Er wäre belohnt: dem Rezensenten ist Mörikes Novelle, seit er sie kennt, eine Quelle geradezu körperlich spürbarer Beglückung. Daß im Band fünf fast alle Kleist-Novellen samt den Anekdoten aufscheinen, ist zu begrüßen. Davon kann man gar nicht genug bekommen, von Kleist kann jeder, der schreibt, niemals genug lernen. Dreimal Arnim, dreimal E. T. A Hoffmann ... sei's drum. Man wüßte nicht, auf was man verzichten wollte.

Bei den Dramenbänden sind die beiden literarischen Längsschnitte überzeugend gelungen. Die Facetten des Geschichtlichen von Goethe bis Hebbel — unter berechtigter Einbeziehung der „Natürlichen Tochter“ — repräsentieren ein Stück deutscher Geistesgeschichte. Vom Individualismus des „Götz“ über die Dialektik von „Mensch und Masse“ bei Grabbe und Büchner zum historischen Fatalismus der „Agnes Bernauer“ — gut und wesentlich kommentiert durch Benno von Wiese. Ebenso überzeugend der von Walter Müller-Seidel präsentierte Band der gesellschaftlichen Dramen von Lessing bis Brecht. Der Schiller-Band (Benno von Wiese) kann nicht vollständig sein. Hätte man nicht doch den fragmentarischen Akt des „Demetrius“ noch unterbringen können?

Den nächsten Bänden kann man mit Erwartung entgegensehen.

DAS SALZBURG-BUCH (Festungs-Verlag, Salzburg, 19<S Seiten;, redigiert und eingeleitet von Max Kamdl-Hönig, sammelt in seiner dritten Folge „Stimmen, Zeichen, Kräfte“ von Salzburg, über Salzburg, für Salzburg. Georg Trakl, dessen Todestag sich im November 1964 zum fünfzigsten Male jährt, ist der Generalbaß für ein publizistisches Hofkonzert, in dem die Instrumente der Historie, der Architektur, des öffentlichen Lebens und der Pädagogik mitwirken. Der Herausgeber wußte sich einen hervorragenden Mitarbeiterstab zu sichern. Ludwig von Fickers Brief — ein Schwanengesang! — neben in die Zukunft weisenden Gedanken zur Salzburger Universität von Richard Neutra, Friedrich Heer und Hans Floretta. Der Kustos des „Hauses der Natur“, Eduard Paul Tratz, erzählt über den Tierpark zu Hellbrunn, Friedrich Achleitner resümiert Forderungen für „Natur und Technik als Werte in der Planung alpiner Seilbahnen“. Abraham Horodisch ruft zur Gründung einer Alfred-Kubin-Gesellschaft in Salzburg auf, und Adalbert Schmidt untersucht den Beitrag Hermann Bahrs zur Salzburger Festspielidee. Der Almanach bietet wesentlich mehr und Gründlicheres als die oft dem Fremdenverkehr zugedachten, teuer ausgestatteten sommerlichen Salzburgpublikationen. Der Umschlag von Helga Mauer ist nicht gerade glücklich. Dem Bildteil entnahmen wir eine Reproduktion des Stiches von Carl Schneeweiß (um 1800), darstellend das Schlößchen Waldembs in Hellbrunn. Edward C. Heinisch

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