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Der Mibrauchte

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Alle liebten Johannes XXIII., alle trauerten um ihn, als er starb; nicht nur Katholiken, auch Andersgläubige, selbst Atheisten. Vielsagende Anekdoten erhellen seine Gestalt, wie sie den Zeitgenossen erschien. Am bekanntesten ist wohl die, daß er, um Sinn und Zweck des von ihm einberufenen Konzils befragt, einfach ein Fenster geöffnet habe: „Frische Luft hereinlassen!“ Gerühmt werden seine Einfachheit, seine Güte, seine Überlegenheit, seine Geradlinigkeit. Der Nachfolger hingegen gilt als ein Zauderer, der einen Schritt vor und zwei zurück tut.

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Alle liebten Johannes XXIII., alle trauerten um ihn, als er starb; nicht nur Katholiken, auch Andersgläubige, selbst Atheisten. Vielsagende Anekdoten erhellen seine Gestalt, wie sie den Zeitgenossen erschien. Am bekanntesten ist wohl die, daß er, um Sinn und Zweck des von ihm einberufenen Konzils befragt, einfach ein Fenster geöffnet habe: „Frische Luft hereinlassen!“ Gerühmt werden seine Einfachheit, seine Güte, seine Überlegenheit, seine Geradlinigkeit. Der Nachfolger hingegen gilt als ein Zauderer, der einen Schritt vor und zwei zurück tut.

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Johtoes hatte alle die ihm zugeschriebenen Eigenschaften in ungewöhnlichem Ausmaß. Das „falsche Image“ entsteht durch die Vorstellungen, welche die meisten Zeitgenossen mit den Worten Güte, Einfachheit, Überlegenheit und Zielstrebigkeit verbinden. Güte setzt Wohlwollen voraus und Nachsicht, aber nicht Kritiklosigkeit; Geltenlassen anderer Auffassungen, aber nicht Relativierung der Werte. Selbstlosen Dienst, aber nicht Flucht aus der Verantwortung. — Einfachheit ist mit Natürlichkeit und Brüderlichkeit gleichzusetzen, aber nicht mit einer naiven Simplifiaierung schwieriger Fragen. Überlegen war dieser Bischof und Papst, weil er aus einer fundierten sittlichen Überzeugung sachliche Gesichtspunkte ebenso berücksichtigte, wie er menschliche Schwächen zu schonen strebte und mit ihnen rechnete; manche aber meinen heute, geistige Überlegenheit bestehe in einer Toleranz, der alle Dogmen untergeordnet werden müßten!

Wenn Zielstrebigkeit heute von manchen Katholiken mit Progres-sismus, einem „Fortschritt“ um jeden Preis, verwechselt wind, so bieten die Aufzeichnungen, aber auch die Taten Johannes' XXIII. keinerlei Anlaß zu diesem Mißverständnis. Sein Ziel war die Erneuerung der“ Kirche durch eine Besinnung auf das Wesentliche, das sie immer gelehrt, aber nicht immer praktiziert hat; keineswegs war es seine Absicht, das Gebäude der Kirche abzureißen und auf den Grundmauern — etwa dem „Urchristentum“ — ein neues zu errichten!

Hannah Arendt fragt sich im Nachwort (der Taschenbuchausgabe des Geistlichen Tagebuches im Herder-Verlag; neuerdings meinen offenbar katholische Verleger, und selbst „Kirchenzeitungen“, die Glaubwürdigkeit ihrer Autoren zu erhöhen, wenn sie eine Zustimmung von Nichtebristen gleich mitabdrucken können!) — Hanna Arendt fragt sich also, wann Johannes wohl aufhörte, in Protestanten „arme Unglückliche außerhalb der Kirche“ zu sehen, und zu der Überzeugung gelangte, daß alle, ob getauft oder nicht, „Jesus rechtmäßig gehören“. Vielleicht aber vertragen sich diese beiden Aussagen sehr gut miteinander und es war gar keine Sinnesänderung nötig? Denn „Kirche“ definieren als Gemeinschaft aller menschlichen Wesen heißt den Begriff der Kirche aufheben und ihre Existenzberechtigung faktisch in Frage stellen! Daß aber alle Menschen Jesus „gehören“, weil Er für alle gestorben ist, das ist keine neue Entdeckung, sondern steht in der Heiligen Schrift. f Der Dreißigjährige erkennt den „sensus fidei“ und das „sentire cum ecclesia“ als wichtigste, unbedingt notwendige Grundlage jedes apostolischen Wirkens; und er hat dieser Erkenntnis als alter Mann, als Papst nichts hinzugefügt (Während er an anderen Stellen manches erklärende oder erweiternde Wort nötig fand.) Ungekürzt und unkommentiert bleibt auch der Satz: .....daß der Wind des Modernismus recht kräftig weht und weiter greift, als es auf den ersten Blick scheint; es kann ganz leicht geschehen, daß er auch denen ins Gesicht fährt und sie betäubt, die anfangs nur von dem Wunsch getrieben waren, die alten christlichen Tugenden den modernen Bedürfnissen anzupassen.“ Und dann setzt er fort: „Ich muß mich stets daran erinnern, daß die Kirche in sich die ewige Jugend der Wahrheit und Christi birgt, daß sie über allen Zeiten ist; die Kirche muß ihrerseits die Völker und Zeiten umwandeln, nicht umgekehrt.“ Keine einzige Stelle des Tagebuches berechtigt zu der Auffassung, Johannes habe später seine Meinung hierüber geändert. Was er schon früh erkannt hatte und später bei allen Entschlüssen beherzigte, war die Tatsache, daß Verbote allein meist fruchtlos sind; besonders, da ja ihre Respektierung von einer rein geistigen Autorität niemals erzwungen werden kann, und so stiften sie oft mehr Schaden als Nutzen. Vielleicht ist es gerade das große Mißverständnis der geistigen Struktur seines Vorgängers, das Paul VI. zu mancher Klarstellung zwingt; sie sieht dann scheinbar wie ein Abweichen vom Wege von Johannes XXIII. aus. Mögen die vielen, die sich auf Johannes berufen, um die Verdienste des Nachfolgers zu schmälern, wenn nicht zu leugnen, zur Kenntnis nehmen, daß der Sechzig jährige, damals Nuntius in Frankreich, 1945 folgende Worte gesprochen hat:,

„Auf der Verbundenheit mit Petrus, der in seinen Nachfolgern weiterlebt, ruht der eine Gehorsam. Es muß ein geistlicher Gehorsam sein, dessen Übung jene Zuversicht verleiht, die die schönsten Tröstungen des Lebens vermittelt. Der erste und größte Trost des Gehorsams aber ist der des Friedens.“

Und anläßlich der Seligsprechung Pius' X., 1951. sagte er: „Inmitten der Verwirrung des modfernen Denkens war dieser Lehrer für alle aufrechten Seelen ein sicheres Licht, das ihnen den rechten Weg wies. Jene, die sich anmaßten, klüger zu sein als er, verloren den rechten Pfad oder ernteten Sturm!“ Und 1961 bekannte der achtzigjährige Papst: „Die treue Einhaltung meiner religiösen Übungen beglückt mich: Brevier, Gebet und Betrachtung des dreifachen Rosenkranzes, ständige Vereinigung mit Gott und) den geistlichen Dingen. Meine Ansprachen, die gehaltvoll und kein leeres Gerede sein sollen, geben mir den Wunsch ein, mich an das anzulehnen, was die großen Päpste des Altertums geschrieben haben. In diesen Monaten wenden mir der heilige Leo der Große und Innozenz III. wieder vertraut. Leider beschäftigen sich nur wenige Geistliche mit ihnen, obwohl sie so reich sind an theologischen und pastoralen Lehren.“ Bedarf es noch anderer Beweis, daß Johannes XXIII. die Kirche erneuern, aber nicht bis auf die Grundmauern abtragen wollte und daß er „zu der geheimnisvollen Bedeutung der Riten zurückkehren und sie dem christlichen Volk vertraut machen“ wollte, wie er 1940 schrieb?

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