6600512-1953_35_07.jpg
Digital In Arbeit

Der unbekannte Weinheber

Werbung
Werbung
Werbung

Josef Weinheber: Sämtliche Werke, I. Band: Gedichte / Erster Teil, Otto Müller Verlag,

Salzburg, 1953 / 669 Seiten, Preis 88 S

Der Streit um Josef Weinheber begann nicht erst nach dem Kriege. Schon als sein Ruhm, gleichsam über Nacht einsetzte, um die Mitte der dreißiger Jahre also, erhoben einige Experten resoluten Einspruch gegen die Wertschätzung dieser Gedichte, der übrigens auch spater, in der sogenannten NS-Zeit, durchaus nicht verstummte: Inneres und äußeres Virtuosentum, Epigonenhaftigkeit, ja glatte Nachahmerei und künstlerische Leichtfertigkeit wurden dem Dichter vorgeworfen. Dem steht nun ein Erfolg gegenüber, wie ihn kein zweiter deutschsprachiger Lyriker in den letzten zwanzig Jahren errungen hat. Jedes der sieben Werke und auch die zwei Auswahlbände („Selbstbildnis“ und „Dokumente des Herzens“), die von 1934 bis 1948 herausgekommen sind, gehören von ihrem Erscheinen bis auf den heutigen Tag zum ständigen Warenrepertoire jeder Buchhandlung. Weinhebers Verse sind die einzigen seit Rilkes Tod, die populär geworden (wenn man von der Gebrauchslyrik eines Erich Kästner oder Eugen Roth absieht) und es auch geblieben sind, allen publizistischen und anderen Anfeindungen zum Trotz. Es läßt sich also nicht leugnen, daß Josef Weinheber heute den vorderhand letzten repräsentativen österreichischen Dichter — im strengen Sinne des Wortes — vorstellt; daher ist es auch wärmstens zu begrüßen, daß sich ein österreichischer Verlag bemüht hat, die Rechte für eine Gesamtausgabe zu erwerben und das Problem einer solchen ersten Zusammenfassung würdig zu lösen. Soweit man das nach dem Studium des ersten Bandes, der aber die weitaus meiste und schwierigste Arbeit gekostet haben dürfte, beurteilen kann, ist die getroffene Lösung als voll gelungen zu bezeichnen. Das ist natürlich vor allem ein Verdienst der Herausgeber Josef Nadler und Hedwig Weinheber. Die Ausgabe wird sich in vier bis fünf Bände gliedern. Der erste Band enthält die frühen Gedichte, der zweite soll die „berühmten Gedichte“ bringen, der dritte die Romane, der vierte die kleine Prosa; Ergänzungen sind einem allfälligen fünften Band vorbehalten.

Mehr als 800 Gedichte stehen in diesem ersten Band, der unbekannte Weinheber sozusagen, alles, was an Versen von 1913 bis 1933 entstanden ist, soweit es nicht in die späteren Sammlungen aufgenommen wurde. Wir finden also die drei frühen Werke wieder, „Der einsame Mensch“ (1920), „Von beiden Ufern“ (1923), „Boot in der Bucht“ (1926) und den riesigen Grundbestand, Zyklen und viele Einzelstücke, eine zwanzig Jahre lange, ununterbrochene, nie erlahmende Bemühung, Wort und Wirklichkeit zu konfrontieren, das flüchtige Dasein in der Form gebundener Rede festzuhalten. Man wäre versucht, angesichts dieses klar überschaubaren Werdeganges von dem viel berufenen „Genie des Fleißes“ zu sprechen — aber dieser beliebte Terminus besagt wenig. Denn nicht die 40 b|s 50 Gedichte, die Weinheber, sagen wir pro Jahr, geschrieben hat (ungefähr gerechnet und geredet), bewirkten seinen künstlerischen Aufstieg, sondern die geheime Denkarbeit zwischen diesen

praktischen Versuchen, das ewige Grübeln um ein Bessermachen und Tieferdringen, und eine von Jahr zu Jahr deutlicher werdende Begabung, die ihn stocken ließ, wo das Geläufige zum Beiläufiges führte, und ihn immer wieder auf den besseren Weg brachte. Dieser Weg war ein sprachlicher Gedankengang. Schon 1913 ist Weinheber stilistisch geschickt, aber er bringt eine Unmenge oft gehörter lyrischer Motive und verbaler Ornamente mit, ästhetischen Ballast, den er erst Stück für Stück erkennen und ablegen mußte. Er begann mit den üblichen Formen von Lyrikerschwermut und Lyrikerseligkeit (Garten der Seele, Sehnsucht, Mai, Mädchen und Einsamkeit), er versucht sich in den damals gerade modernen sozialen Themen (Vorstadtgarten, Kino in einem Arbeiterviertel, Ballade vom Neubau), in einem nachempfundenen religiösen Ueberschwang — aber das kommt alles noch von außen und nicht aus ihm. Allmählich jedoch gelingt ihm jene glückliche Balance zwischen echter Innerlichkeit und der entsprechenden Aeußerung, die das Wesen einer Dichtung ausmacht. Nach etwa fünfzehnjährigem Sinnen und Trachten hat er das Ziel erreicht und weiß von nun an genau, was er will.

*

Das alles erkennt man aus dem übersichtlich geordneten, reichhaltigen ersten Band. Er bezieht seinen Inhalt aus einer größeren Zahl von Notizheften, die nach Ansicht der Herausgeber das lyrische Lebenswerk des Dichters vollständig enthalten. Das vorliegende Material ist auf treffende Weise in zeitliche Abschnitte geteilt, die meisten Gedichte sind datiert, so daß sich eine ungefähr chronologische Reihenfolge herstellen ließ, wobei selbstverständlich vom Dichter gebaute Komplexe beisammengelassen wurden. Gedichte, die schon viel früher geschrieben waren, als sie in so einen Zusammenhang eingereiht wurden, sind an der Stelle ihres Entstehens nur mit dem Titel und einem Hinweis vermerkt, der die Seite oder das Werk angibt, dem sie später zugeteilt worden sind. Unverständlich allerdings, warum die vielen offensichtlichen Verbesserungen (es dürften hunderte sein) nicht berücksichtigt wurden, welche frühe Gedichte erfuhren, ehe Weinheber sie in die Sammlung „Vereinsamtes Herz“ (1935) aufnahm. Nur ganz wenige Stücke folgen dem Wortlaut dieses späteren Abdruckes, wiewohl doch der ausführliche Prospekt angibt, die Texte der Ausgabe hätten sich an die vom Autor jeweils letzt-gewollte Fassung gehalten. Ansonsten wäre noch zu vermerken, daß bei einigen Gedichtanfängen ohne erkennbaren Grund keine Initialen verwendet wurden. Im ganzen aber ist es ein prachtvolles Buch, ergreifend für den Liebhaber Weinheberscher Verskunst, erfreulich ob der sorgfältigen Bearbeitung und liebevollen äußerlichen Betreuung; dabei muß auch der neuartige, schöne Einband erwähnt werden, ein dunkelblauer Plastikwerkstoff, der aussieht und sich greift wie Saffianleder. Hoffentlich werden die Erscheinungstermine der weiteren Bände eingehalten!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung