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Der Verein zum Schutz der Ehre

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In einer größeren Abendgesellschaft, die sich allwöchentlich im Heim der Frau v. S. zusammenfand, trug sich unlängst folgender Vorfall zu, der mir der Nacherzählung wohl wert erscheint:

Es erhob sich plötzlich inmitten der Unterhaltung ein junger, durchaus sympathischer, tadellos gekleideter Mann, der durch eine große spiegelnde Hornbrille mehr nach innen als nach außen zu schauen schien; er erhob ich und sagte, nachdem er eine Weile gewartet hatte, bis alle Blicke sich auf ihn vereinigten, er sagte förmlich, in ruhiger Überlegung, wie jemand, der eine Meldung vorzubringen hat: „Ich habe festzustellen, daß Fräulein M. nicht anwesend ist.”

Das Gespräch war nämlich, nachdem es sich anfangs mehr um allgemeine Fragen bewegt hatte, immer stärker ins Persönliche gediehen, und da war es besonders die Persönlichkeit des jungen, schönen Fräuleins M. gewesen, mit der man sich, von Feststellung zu Feststellung fortschreitend, mit immer schonungsloserem Offenheit zu befassen begann. Das Ganze war nicht erquicklich, schien aber unvermeidlich, wenn nicht geradezu naturnotwendig zu sein. Irgendein Ruf nach menschlichem Ausgleich, nach dem Gleichgewicht vermeintlicher Gesellschafts werte verlangte da sein Recht, und es vollzog sich dies um so leichter, als es offenbar niemand für angezeigt oder der Mühe wen hielt, mit einer gegenteiligen Meinung hervorzutreten.

Und nun hatte sich plötzlich dieser junge bebrillte Mensch erhoben und hatte festgestellt, daß Fräulein M. nicht anwesend sei!

Der erste Eindruck, den er damit hervorrief, war ein unbestreitbar heiterer. Die Feststellung einer solchen Selbstverständlichkeit nämlich, daß Fräulein M., während über sie abfällig gesprochen wurde, nicht anwesend sei, konnte ja nicht anders als erheiternd wirken. Auf diesem technischen Vorgang, ein allgemein Bekanntes als etwas völlig Neues zu bestätigen, beruht ja, wie wir wissen, eine besondere Sorte von Witzen, und der junge Mann schien offenbar kein übler Humorist zu sein.

So kam es, daß die so rasch um sich greifende gute Laune sich bald in ein befreiendes Gelächter löste, in das einzustimmen nur der Urheber selbst offenbar keine Lust hatte. Er erhob sich vielmehr aufs neue und ließ seine geheimnisvollen Brillengläser nur um so abweisender funkeln.

„Meine Damen und Herren”, begann er, nachdem die von ihm gewünschte Stille wieder eingetreten war, „verzeihen Sie den unliebsamen Auftritt! Ich handelte nach den Satzungen meines Vereines, wozu ich ehrenwörtlich verpflichtet bin.” Er wies dabei auf ein Abzeichen hin, das er im Knopfloch trug, ein kleines, rotemailliertes Herz, worin sich ein goldenes Ausrufungszeichen befand.

„Was ist denn das für ein Verein?” rief ihm jemand aus der Gesellschaft zu.

„Der Verein zum Schutz der Ehre”, gab der junge Mann nicht ohne Feierlichkeit zurück, worauf die Versammlung aufs neue eine kleine Welle von Heiterkeit durchlief.

„Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, mir noch einen Augenblick Gehör zu schenken!” fuhr der Sprecher indessen beharrlich fort. „Ich bin mir der Seltsamkeit meines Benehmens durchaus bewußt, ja ich halte es”, er verbeugte sich entschuldigend vor der Hausfrau, „für geradezu unverzeihlich. Ich mußte aber, da ich die Satzungen meines Vereines anerkannte, auch dessen Forderungen erfüllen.”

„Sie brauchen das nicht so tragisch. zu nehmen”, versuchte ihn jemand zu trösten. „Wir sind im Gegenteil gespannt darauf, Näheres über Ihren Verein zu hören.”

„Wir sind laut unsren Satzungen verpflichtet”, erklärte der junge Mann, die Ironie des Zwischenrufes überhörend, „im Namen jeder Person, über die in ihrer Abwesenheit Abfälliges gesprochen wird, dagegen zu protestieren, indem wir eben diese ihre Abwesenheit feststellen. Unser Verein entstand aus der Überzeugung heraus, es sei die Ehre jedes einzelnen, sein guter Ruf, ja seine Selbstachtung als ein lebendiges Wesen anzusehen, das ebensowenig geschändet oder gemordet werden darf wie sein körperliches Wesen. Verzeihen Sie diese ungewöhnliche Auffassung, meine Damen und Herren, aber Sie brauchen sich nur vorstellen, welche Empfindungen die betreffende abwesende Person bestürmen müßten, im Falle sie ihrer Verurteilung unsichtbar beiwohnen könnte! Oft werden Menschen in ihrem Ansehen mit wenigen Worten vernichtet, ohne es zu ahnen, vernichtet in der Gestalt, in der sie bisher für uns im Gedächtnis lebendig waren. Und ist dies nicht die eigentliche, die wahre Lebendigkeit? Was ist Ehre anderes als das Spiegelbild unserer Selbstachtung in der Meinung der anderen? Wie ist es möglich, einen Menschen seiner Würde, seines Ansehens zu berauben, nur weil er im Augenblick nicht anwesend ist?”

„Erlauben Sie, Verehrtester”, meldete sich der Zwischenrufer aufs neue, „wie ist es aber dann, wenn gegen den Abwesenden etwas durchaus Richtiges, klar zu Beweisendes vorgebracht wird? Solcherlei Feststellungen müssen doch erlaubt sein, wie Kritik überhaupt erlaubt sein muß!”

„Auf diesen Einwand war ich gefaßt”, erwiderte mit zunehmendem Eifer der junge Mensch. „Er bestätigt nur um so mehr die Berechtigung unseres Vereines. Bedenken Sie es wohl, meine Damen und Herren, daß jede vorgebrachte Anschuldigung, ja jede abfällige Bemerkung zur Verleumdung wird, wenn auch nur ein Zehntel davon nicht wahr ist! Und wer hat je das Wesen eines Menschen ganz überblickt und erfaßt? Um dieses fraglichen Zehntels willen allein müßten abfällige Bemerkungen über Abwesende grundsätzlich unterbleiben, denn etwas Ungewisses als gewiß zu behaupten, kann unser doch nicht würdig sein.”

„Glauben Sie wirklich, daß ein Gespräch auf die Dauer sich formen läßt”, wendete der Zwischenrufer neuerdings ein, „ohne daß wir unsere Meinung über unsere Mitmenschen abgeben? Und wie sollten wir alles Ungünstige dabei unterdrücken? Es gehört ja zum Ganzen.”

„Wir müssen unterscheiden zwischen Kritik und Mißrede”, entgegnete unbeirrt der junge Mensch. „Die Grenzen zwischen beiden sind aber überaus schwer zu ziehen. Daher gehört es zu den Statuten unseres Vereines, jedermann anzuraten, abfällige Bemerkungen über andere, auch wenn sie teilweise begründet sein sollten, in Gesellschaft überhaupt zu unterlassen. Oh, versuchen Sie es nur einmal, meine Damen und Herren, eine solche ungünstige Meinungsabgabe, eine einzige nur, schweigend in Ihnen selbst zu unterdrücken! Sie werden sofort empfinden, wie etwas Gutes, Bejahendes in Ihnen aus diesem unterdrückten Keime entsteht. Die Würde des anderen, die wir schonen, reinigt unser eigenes Daseinsgefühl. Alles Abfällige, das wir über andere äußern, zehrt an uns seihst.” „Doch nun das Wesentlichste”, fuhr der junge Mann immer unbekümmerter fort, „Sie dürfen, meine Damen und Herren, in dem, was wir anstreben, keinerlei Sentimentalität, keinerlei krankhafte Überempfindsamkeit erblicken. Wir zielen mit unserer Absicht tiefer. Wer wollte leugnen, daß wir einzelnen es den Völkern, denen wir angehören, gleichtun, indem wir von Mißtrauen gegeneinander erfüllt sind? Wir streben jetzt bekanntlich den Weltfrieden an, also einen harmonischen Daseinsausgleich untereinander. Wie ist es möglich, diesen Frieden unter den Völkern zu erzielen, wenn der Friede unter den einzelnen nicht getroffen wird? Beginnen wir bei uns selbst, meine Damen und Herren, schaffen wir innere Reinheit, Güte und Klarheit, wodurch wir auch Lebensweisheit gewinnen! Schonen wir unseren Nächsten um unserer selbst willen! Nur wenn wir einzelnen das erreicht haben, wird es auch die wahre Verständigung unter den Völkern geben.”

Es ließ sich nicht leugnen, der junge Mann zielte hoch, und seine Darlegungen hatten etwas Überzeugendes, schwer zu Leugnendes an sich. Man lächelte nicht mehr und wußte auch nichts zu erwidern. Es entstand in der Gesellschaft ein kleines, peinliches Schweigen, sie fühlte sich irgendwie in ihrem Bestände bedroht.

Doch da meldete sich ein anwesender, seines spöttelnden Witzes wegen sehr gefürchteter Schriftsteller und suchte in seiner Weise für die Gesellschaft zu retten, was zu retten war. „Wissen Sie, Verehrtester”, wandte er sich an den jungen Mann, „daß ich Ihnen möglicherweise einen gar nicht üblen Lustspielstoff verdanke? Für einen gut ausgewachsenen Einakter reicht es jedenfalls. Stellen Sie sich vor: eine Gesellschaft —ich bitte die Anwesenden, das nicht auf sich selbst zu beziehen — ist eben damit beschäftigt, sich über abwesende Bekannte zu unterhalten. Es geschieht natürlich in dem Sinne, wie er eben getadelt wurde. Nun treten Sie selbst, Verehrtester, auf den Plan und stellen Ihre moralische Forderung. Die Gesellschaft ist zerknirscht und beschließt, sich zu bessern. Und zwar will man damit sofort beginnen. Da nun aber jeder Tadel über Abwesende verpönt ist, sucht man sich damit zu unterhalten, daß man sich ununterbrochen lobt. Und da ist es nun ganz entsetzlich, zu hören, was sich da am faulem Lob zusammentut. Harmlose Menschen, die mehr oder weniger ahnungslos zwischen Gut und Böse dahinpendelten, schweben plötzlich, zu Tugendengeln aufgeblasen, ambrosisch durch den Raum. Alles liebt sich, alles schätzt sich, keinem wird ein Haar gekrümmt. Das geht so eine Weile fort, den Anwesenden wird dabei immer schwüler, sie blasen und blasen in die Wohlmeinungstrompete, bis die Spannung am Ende unerträglich wird und alle plötzlich über einander herfallen, Luft! Luft! rufen und sich unbekümmert die fürchterlichsten Wahrheiten ins Gesicht schleudern.”

Man lachte und war dem Schriftsteller dankbar, daß er sozusagen die Situation der Gesellschaft gerettet. Nur der junge Mann vermochte nicht mitzulachen, er. war auf diese literarisch schwebende Behandlung seiner heiligsten Überzeugung offenbar nicht eingestellt oder er hielt es vielleicht für taktisch besser, darauf nicht näher einzugehen.

Indessen wurde der Tee aufgetragen, man fand sich wieder gesellig zusammen, und es war nun jedermann bemüht, dem jungen Mann nicht fühlen zu lassen, wie unmöglich er sich eigentlich benommen hatte. Er schien das durchaus einzusehen, benützte aber die nächste Gelegenheit, sich unauffällig zu empfehlen.

Es war mir willkommen, mich ihm anzuschließen, da meine Zeit gleichfalls schon abgelaufen war.

„Ich möchte Ihrem Verein als Mitglied beitreten”, sagte ich auf der Straße zu ihm. „Ich sehe in Ihnen den Menschen der Zukunft. Man wird es einmal für tief unwürdig halten, über einen Abwesenden etwas Nachteiliges vorzubringen; um der eigenen Selbstachtung willen wird man so empfinden. Ich für meinen Teil glaube noch an das Gute im Menschen. Gerade jetzt, da wir an äußeren Gütern immer mehr verarmen, scheint es mir angezeigt, den Reichtum der inneren Güter wieder aufzubauen. Und dazu gehört vor allem, daß wir die Achtung, die wir für uns selbst verlangen, auch dem lieben Nächsten darzubringen beredt sind. Dann wird Friede werden in uns selbst, und es ist dies der einzige Weg, auch der Menschheit Frieden zu bringen.”

Idi wollte, nachdem ich so gesprochen, dem jungen Manne meine Hand hinreichen, da sah ich, daß er verschwunden war. Und ich hörte nur aus traumhafter Ferne noch seine Stimme: „Mein lieber Herr Dichter, was soll diese Geste der Wirklichkeit? Mein Verein besteht ja noch gar nicht, so wie ich selbst nicht bestehe! Ich bin ja nur ein Gebilde ihrer Phantasie! Doch bin ich trotzdem gern bereit, Sie als erstes Mitglied aufzunehmen. Mögen Ihnen noch viele, mögen Ihnen Unzählige folgen.”

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