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Der zweiie Brennpunkt

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Jahrhundertelang stand die amerikanische Lyrik im Schatten der englischen. Was jenseits des Atlantik an Gedichten entstand, hatte kein eigenes Gesicht, bezog seine Substanz noch aus der Tradition des Mutterlandes. Erst mit Walt Whitman wurde die amerikanische Dichtung großjährig und eigenständig, fand sie zu eigenem Gehalt und eigener Gestalt. Ist es schon an sich nicht leicht, die Entwicklung der Dichtung eines Landes isoliert zu betrachten, so ist eine solche Betrachtung im Falle der amerikanischen, die ja immer Teil der englischsprachigen bleibt, besonders schwierig. So selbständig die amerikanische Lyrik geworden ist, hat sie sich doch nur von peripherer Bedeutung zu einem Gegenpol der englischen entwickelt, zu einem zweiten Brennpunkt, und dadurch den „englischen Literaturkreis“ zu einer „Literaturellipse“ umgestaltet. Schon in Fragen personeller Abgrenzung ergeben sich Schwierigkeiten: Ist Eliot noch — als Lyriker — Amerikaner? Und Auden noch Engländer? Die wechselseitigen Einflüsse sind groß. Es gibt keine Parallele zu Dylan Thomas in Amerika, und England hat keinen Ezra Pound. Doch beider Wirksamkeit ist, da wie dort in gleicher Weise nachzuweisen ...

Die moderne amerikanische Lyrik beginnt im Jahre 1912. Zwei Ereignisse waren es, die eine neue Periode einleiteten, die die Abkehr von nur beschreibender und reflektierender Lyrik brachten und die zu neuen Einsichten und unmittelbaren AusdrucksmöglichkeLen führten. Das eine war die Gründung der Zeitschrift „Poetry — A Magazin for Verse“ durch Harriet Monroe in Chikago. Das zweite war der Beginn des „Imagismus“, einer poetischen Bewegung, die bald ein reinigendes Gewitter auslösen sollte. Mit beiden Ereignissen ist der Name Ezra Pound verbunden.

„Poetry“ — das übrigens noch heute als Monatsschrift erscheint —, war die erste einer Reihe von Zeitschriften, die bald beiderseits des Ozeans aus dem Boden schössen: Es begann die Zeit der „kleinen Magazine“. Diese literarischen Magazine erfreuten sich großer Beliebtheit, sie wurden gelesen und gekauft. Fragen der Dichtung begannen breitere Kreise zu interessieren. Die Kritik ging auf sie ein, in den Spalten der Zeitungen erhielten sie ebensoviel Raum wie die Besprechungen von Romanen oder Novellen. Man sprach von einer „amerikanischen Renaissance“. Dies alles wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht gleichzeitig mit der Entfaltung der „kleinen Magazine“ eine Revolution stattgefunden hätte: Eine Revolution, die, wie Eliot sagt, von Zeit zu Zeit nötig wird, wenn sich die dichterische Sprache zu sehr von der Umgangssprache entfernt hat. Man hört hier eine Forderung Pounds heraus, der schon um 1910 forderte, daß Gedichte stilistisch wenigstens so gut geschrieben sein sollten wie Prosa.

Die erste Welle dieser Bewegung war der „Imagismus“. Von dem Gedanken ausgehend, daß es die Aufgabe jedes Gedichtes sei, ein konkretes Bild zu präsentieren — daher der Name — stellte man eine Reihe von Forderungen auf; so Gebrauch der Alltagssprache, Verwendung neuer, freier Rhythmen, absolute Freiheit in der Wahl des Gegenstandes und klarer, bestimmter Ausdruck. Das erste Manifest des „Imagismus“ wurde von Ezra Pound verfaßt und 191,3 in „Poetry“ veröffentlicht. Pound, dem die Durchsetzung dieser ästhetischen Prinzipien in erster Linie zu danken ist, lebte damals als „auswärtiger Redakteur“ mehrerer Zeitschriften wie „Poetry“ in London.

Ueberhaupt kann die Bedeutung Pounds für die neuere — und nicht nur englischsprachige — Literatur nicht hoch genug geschätzt werden. Ja, man sprach bereits in den dreißiger Jahren von einer „Ezra-Pound-Periode“ der neueren amerikanischen Literatur. Einzig und allein ihm verdankt T. S. Eliot seine ersten Publikationen; um seiner Stimme Gehör zu verschaffen, gab er 1915 eine „Anthologie katholischer Dichtung“ heraus. Er übersetzte die französischen Impressionisten und Symbolisten. Pound, der am Anfang seiner Laufbahn Universitätslektor war, hat nie aufgehört zu dozieren, Kreise um sich zu sammeln, anzuregen, zu fördern. Mäzene ausfindig zu machen, Erkenntnisse zu vermitteln. Seine inspirierenden Essays machten schon um 1912 Schule. Sein dichterisches Hauptwerk, die „Cantos“, mit dem er 1917 begann, ist heute noch unvollendet. Die Cantos sollen, der Struktur der „Divina Commedia“ folgend, die Zahl von 101 erreichen. Gegenwärtig sind 85 in Buchform erschienen, die letzten die berühmt gewordenen „Pisan Cantos“. Sie enthalten sein Weltbild — &h auf den ersten Blick wirr erscheinendes Bild, unübersichtlich, von Zitaten und intellektuellen Pointen strotzend, detaillierte Kenntnisse der antiken und orientalischen Literatur voraussetzend, stellenweise voll sprachlicher Schönheiten, dann wieder von nervöser Besessenheit zerrissen. W. B. Yeats charakterisierte die „Cantos“ einmal als die Uebersetzung eines fehlenden griechischen Meisterwerkes. Wenn wir von der Jahrhundertmitte aus die Entwicklung der amerikanischen Lyrik betrachten, so erscheinen uns — neben den „Cantos“ — vor allem zwei längere Gedichte bedeutsam. Es sind dies „The Waste Land“ und „The Four Quartets“ von Thomas Stearns Eliot. Das erstere, das 1922 in einer von Pound redigierten Fassung erschien, ist dichter, bildhafter. Es war so sehr Ausdruck der Zeit, daß man von den „Waste Land Writers“ zu sprechen begann, zu denen man auch Hemingway und F. Scott Fitzgerald zählte. „The Four Quartets', auf der Höhe seiner Schaffenskraft entstanden, sind reifer, philosophisch klarer als die fünf Abschnitte des „Waste Land“. Jahre liegen dazwischen, in denen Eliot zum katholischen Glauben konvertierte und englischer Staatsbürger wurde. Seine religiösen Tendenzen haben nun in den vier Quartetten ihren klaren Niederschlag gefunden.

Das formal Bedeutsame an diesen beiden Gedichten ist, daß sie das „lange Gedicht“ in unserem Jahrhundert aufs neue ermöglicht haben. (Die Duineser Elegien sind nicht als einheitliches langes Gedicht in diesem Sinne anzusehen.) Durch die Abwechslung lyrischer und prosaischer, dichter und aufgelockerter Stellen, Wechselung des Rhythmus, Gegenüberstellung reimloser und gereimter Abschnitte, Abschnitte in dichterischer und nachlässiger Sprache schuf Eliot eine Gliederung, die das lange Gedicht wieder lesbar machte. Eine Gliederung, die mit dem Aufbau einer Symphonie in Sätze oder eines Dramas in Akte verglichen werden kann. Eine andere Neuerung, die Eliot zu danken ist, ist die konsequente Ersetzung üblicher Verstandeslogik in Gedichten durch eine lyrisch adaptierte „Gefühlslogik“. Für alle diese Einsichten, für sein Werk, das der Durchsetzung moderner Dichtung gedient hat, hat Eliot im Jahre 1948 den Nobelpreis für Literatur erhalten.

Gemeinsam mit Eliot rechnet man Marianne Moore, Wallace Stevens und die beiden Südstaatler John Crowe Ransom und Allen Täte zu den „metaphysischen“ Dichtern der Gegenwart. Die „Metaphysics“, denen es um die Darstellung von Ideen geht, schließen an eine rationalistische Strömung des 17. Jahrhunderts an, der unter anderen auch John Donne angehörte. Sie stehen in bewußtem Gegensatz zu den „Symbolists“, einer schwächer vertretenen Gruppe, die mehr in den dunklen Gefilden der Romantik beheimatet ist. Abseits dieser Gruppen stehen Außenseiter: der Arzt William Carlos Williams, der sich als reiner „Objektivist“ bezeichnet. Ihm geht es nicht um Wertung, sondern um das Lebendigmachen von Objekten. „Kunst ist notwendigerweise objektiv“, sagt er. „Sie -klärt und ereifert sich nicht — sie präsentiert.“

Zu den interessantesten Experimenten innerhalb der Entwicklung der amerikanischen Lyrik gehören die Gedichte von E. E. Cummings. Schon .ihr optischer Eindruck ist frappierend: Eigenwillige Satzzeichensetzung, oft mitten im Wort, willkürliche Rechtschreibung sollen das Druckbild einer Zeile so gestalten, daß es dem Leser zu einem optischen Eindruck der geschilderten Sache verhilft. Dabei versucht Cummings, auf die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung Rücksicht nehmend, verschiedene Eindrücke nebeneinander wiederzugeben, indem er Worte trennt und ineinanderstellt... So entsteht typographisch möglicherweise ein ähnliches Bild, wie es der erste Eindruck vermittelte — aber es kann wohl nicht Aufgabe des Dichters sein, Impressionen mit offenbar expressionistischen Mitteln wiederzugeben. Denn indem er Sätze und Worte „atomisiert“, drückt er, ohne Kommentar, gar nichts mehr aus. Gleichviel hat Cummings bedeutendes Aufsehen erregt und Nachahmung gefunden. Sein Einfluß auf die Prosa des Nobelpreisträgers William Faulkner wäre eine eigene Untersuchung wert.

Abseits steht auch — trotz aller Popularität — Carl Sandburg. Seine mehr oder weniger formlosen Gedichte sind so sehr Spiegelbild und Manifestation amerikanischen Lebens und amerikanischer Lebenshaltung, daß sie aus der modernen amerikanischen Lyrik nicht mehr wegzudenken sind. Sandburg begann, gleichzeitig mit Pound eine Art „free verse“ zu kreieren, wobei er aber auf jede intellektuelle Kontrolle verzichtete. Aus diesem Grunde sind seine Gedichte bei aller Prägnanz letztlich doch nur als unmittelbarer Ausdruck des Lebens anzusehen.

Alle Strömungen, die in der amerikanischen Lyrik vor vierzig Jahren zum Durchbruch kamen, haben sich geläutert und geklärt. Ihre Tendenzen sind nicht ohne Einfluß auf die europäische Lyrik unserer Tage geblieben. Sie haben zu vielen Experimenten und einigen sehr schönen Gedichten geführt. So steht nun die Lyrik um die Jahrhundertmitte — auch wenn leider der Pound-Eliot-Generation keine zweite, gleich begabte zu folgen scheint — vor neuen Abenteuern.

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