6634864-1957_08_12.jpg
Digital In Arbeit

Die großen Deutschen

19451960198020002020

Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, herausgegeben von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg. Propyläen-Verlag, Berlin. X. Band 635 Seiten, 2. Band 581 Seiten

19451960198020002020

Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, herausgegeben von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg. Propyläen-Verlag, Berlin. X. Band 635 Seiten, 2. Band 581 Seiten

Werbung
Werbung
Werbung

Die beiden Vorfragen, die sich Herausgeber eines derartigen Sammelwerkes, einer nur die im eigentlichen Wortsinne Merkwürdigsten einbegreifenden Nationalbiographie, zu stellen haben, sind stets die gleichen, doch sie finden die mannigfachste Antwort. Wer ist groß vor der prüfenden Einsicht der Späteren, die, obzwar nicht unbefangen, wenigstens von keiner zeitgenössischen Begrenztheit eingefangen, sich um die richtigen Maße einer geschichtlichen Gestalt bemühen, „teile qu’en elle-mėme enfin l’Eternite la change"? Sodann, wer gehört der Volksgemeinschaft zu, von deren Ruhmwürdigsten berichtet werden soll? Auf die erste Frage gibt Theodor Heuss, selbst einer der Berufenen, in einem Vorwort Bescheid, das wieder einmal den hohen Rang dieses Denkers und Deuters, auch als vollkommener Wortkünstler, bestätigt. Der Erfolg ist für diesen Weisen und Weisenden „kein Ausweis für Größe“. „Es mag sein, daß .Größe' sich einem Leben des Mißerfolges anschließt. Das gilt vor allem dem Schicksal der .Unzeitgemäßen'." Die Wahl der in die Reihe der von Heuss und seinen beiden Mitherausgebern Auserkorenen hat vordringlich den Zweck, „zu zeigen, was... in Einzelpersonen groß und stellvertretend für die fruchtbaren Gaben unseres Volkes erscheint". Wir empfangen also „beispielshafte Lebensläufe", wie deren das klassische Altertum darbot, und zwar Bildnisse großer Deutscher. Wen die Herausgeber als Deutschen betrachten, darüber äußert sich ein knappes Nachwort. Es erklärt, nicht „an den Grenzen festzuhalten, die 1648 und 1866 sozusagen völkerrechtlich bestätigt wurden"; Tirol und Wien seien in solchem Betracht so selbstverständlich als Quellen zumal der deutschen Geistesgeschichte zu sehen wie das Zürich des Gottfried Keller und das Basel des Jacob Burckhardt. Wallenstein und der Prinz Eugen „sind in ihrem Geschichtsauftrag sosehr Kernfiguren des deutschen Schicksals gewesen, mit ihm sich gleichsetzend, daß sie in dieses Werk gehören“.

Zu beiden Thesen, der über die Größe und der anderen über die Abgrenzung des Deutschseins, müssen wir Stellung nehmen. Die erste kann vernünftigerweise in der Theorie nicht bestritten werden. Allerdings gerät man bei ihrer Anwendung auf verkannte, auf gescheiterte Genies oft in Gefahr, sei es der Neigung zu „Rettungen" zu erliegen, sei es jener Entdeckerfreude zu huldigen, die von Mark Twain in einer geistvollen Anekdote verspottet worden ist. Er erzählte von einem Besuch im Himmel, wo er den größten Feldherrn aller Zeiten endgültig feststellen wollte. Ungewiß, ob Alexander, Caesar, Friedrich oder Napoleon die Palme davontragen würde, erkundigte sich der Neugierige, dem das Antlitz des Helden völlig fremd schien. „Ein Hausierer aus dem Mittleren Westen.“ Sprachloses Erstaunen. „Nun ja", meint Petrus, „er ist nur nie dazugekommen, seine Feldherrnbegabung zu zeigen.“ Unbedingt beizupflichten ist der Auffassung, ein Werk, wie das hier vorliegende, habe die Mannig- falt der fruchtbaren Gaben einer Nation an typischen Spitzenleistungen darzutun, die sich in bedeutenden Menschen verkörpern. Schwierigkeit wird sich aber, und unweigerlich, bei der konkreten Auswahl offenbaren.

Wenn es ohneweiters klar ist, daß etwa — um nur einen Blick auf die in zwei Bänden dargestellten achtzig happy few zu werfen — Karl der Große. Friedrich II., Walther von der Vogelweide, Albertus Magnus, Dürer, Luther, Leibniz, Bach, Friedrich der Große, Mozart, Kant, Goethe, Schiller, Beethoven unter die Großen der deutschen Nation zu rechnen sind, so wird umgekehrt nicht jeder der Meinung sein, daß alle die hervorragenden Maler des 15. und 16. Jahrhunderts, die in diesem Sammelwerk aufscheinen, daß Hermann v. Salza, Paul Gerhardt, Grimmelshausen, Fohr, Hahnemann in den engsten obersten Kreis gehören Manche werden Heinrich den Löwen, den großen Mystiker Heinrich Seuse, Kaiser Karl IV. — eine der glänzendsten Herrschergestalten —, Petrus Canisius, Kaunitz, die Brüder Schlegel, den noch bedeutenderen Bruder Wilhelms v. Humboldt, Alexander, vermissen. Viele dürften die Ansicht hegen, auf Kaiser Maximilian L, auf Zwingli, Klopstock, Josef II., Lichtenberg — dessen Platz im deutschen Schrifttum nicht hoch genug zu bezeichnen ist —, auf Fichte und Schleiermacher sei unter keinen Umständen ein Verzicht erlaubt.

Doch nun zum zweiten Punkt. Zunächst kann es keinen Zweifel dulden, daß jeder, der im deutschen Sprach- und Kulturraum entscheidend gewirkt hat, unter dessen Zierden genannt werden soll. Eine unvermeidbare Nebenwirkung der Tatsache, daß man, verfallen wir nicht in schwerfällige Pedanterie, keine Möglichkeit besitzt, Zugehörigkeit zum deutschen Volk, zur deutschen Kultur und zu einem der deutschen Staaten bzw. zum Deutschen Reich sprachlich, im Ausdruck, voneinander zu sondern: das müssen wir hinnehmen Und so werden eben die Schweizer Euler, Pestalozzi, die Oesterreicher Haydn, Schubert als große Deutsche auftreten; ohne Beisatz, der wenigstens für Oesterreicher vor 1806 oder 1866 unnötig ist. Selbstverständlich sind Händel, Gluck, Herschel, Holbein einzubeziehen, obwohl sie mit ihrer schönsten Schaffenszeit anderen Nationen gedient haben und sogar, zum Teil, fremde Staatsbürgerschaft, ausländische Titel führten. Ebenso unanfechtbar ist es, die Sprossen eingedeutschter Geschlechter wie Dürer, Clemens Brentano oder Ludwig van Beethoven, oder auch Männer, die zumindest zur Hälfte auswärtiger Herkunft waren, wie Kaiser Friedrich 11. und Görres, einzureihen. Verwickelter ist das Problem bei der Arpädentochter Elisabeth von Thüringen. Dachten wir vorhin an Mark Twain, so entsinnen wir uns hier des Schweizer Histörchens Vom Kind, das befragt, ob es ein Fünfrappenstück oder ein Wecklein wolle, sagte: „Den Fünfer und das Wecklein.'' Um berühmte Frauen, die aus ihrem Lande fortheirateten, bewerben sich stets die Nationen ihres Ursprungs und die ihres Gatten. Bei der heiligen Elisabeth handelt es sich freilich um einen Sonderfall, da diese Fürstin, obzwar fast ganz nichtdeutschen Vorfahren entsprossen, mit vier Jahren in die Heimat ihres späteren Gatten kam und in dieser aufwuchs. Bleiben noch Kopernikus, den Deutsche und Polen einander streitig machen, und Wallenstein, der, wie Heuss richtig unterstreicht, aus der deutschen Geschichte nicht hinwegzudenken ist, endlich Prinz Eugen, der sich — wie alle Savoyer und wie die Lothringer — als Reichsfürst fühlte, doch ebensowenig wie diese als Deutscher . ..

Noch schnell ein paar allgemeine Betrachtungen. Es ist für das deutsche — und slawische — im Gegensatz zum romanischen Geschichtsbewußtsein charakteristisch, wie sehr der Schwerpunkt auf den neueren und neuesten Zeiten liegt; und zwar ungeachtet der. im Verhältnis z B. zu Frankreich, weit stärkeren gemüthaften Bindung ans Mittelalter. Von vier geplanten Bänden reicht der erste bereits bis etwa 1680, der zweite bis um 18 30, wobei wiederum auf die Zeit bis nach dem Interregnum knapp zweihundert Seiten entfallen, ebensoviel aber auf den Herbst des Mittelalters, Reformation und Humanismus. ln formaler Hinsicht überrascht unter den Autoren der Lebensläufe die geringe Anzahl hervorragender Schriftsteller, die nicht zur Zunft der Historiker gehören und die imstande waren, wissenschaftlich vollgültige Darstellungen zu geben: Reinhold Schneider, beinahe als fachlich Geschulter zu nehmen, dann Wilhelm v. Scholz und Paul Alverdes sind zu nennen, ihnen zur Seite allerdings wortkünstlerisch befähigte Gelehrte wie Heuss, Sedlmayr und Staiger. Das Gesamtniveau sowohl des bewältigten Inhalts als auch des Stils, ist sehr hoch. Darüber hinaus ragen unseres Erachtens die Kapitel über die heilige Elisabeth (von R. Schneider), Fischer v. Erlach (Sedlmayr), Winckelmann (Ludwig Curtius), Goethe (Staiger), Schiller (Bernhard Guttmann), Novalis (W. v. Scholz) und Hölderlin (Schadewaldt).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung