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Die Haltlosen

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Fehlende Hemmung

Jedes Uhrwerk hat eine weise Vorrichtung: die Hemmung. Sie verhindert, daß die gestaute Kraft der Feder sich auf einmal auswirkt. Ist sie beschädigt, dann saust das Uhrwerk, die Zeiger drehen sich wie rasend, der Sekundenzeiger schnellt von seiner Achse, und dann ist alles tot. Die Schleuse vor einem Stausee wirkt ähnlich. Immer ist das Ziel einer Hemmung: eine gestaute Kraft zu sinnvoller Arbeit zu bringen. Der Mensch hat nun viel gestaute Kräfte, er braucht also auch eine Hemmung. Ohne sie gibt er sich bald aus.

Diese Hemmung scheint manchen von Natur aus zu fehlen. Freilich kann auch eine schlechte Erziehung die Ursache sein, aber das ist schließlich gleichgültig. Erlebnisse in früher Kindheit können eine Anlage derart verschütten, daß sie ebenfalls „nicht da” ist.

Das Mühsame ist: hemmungslose Menschen halten ihre Art für natürlich. Das stimmt sogar, es ist ihrer Natur gemäß, sich und das Ihre bis zum letzten auszugeben und das sofort und gleich. Sie behaupten, die anderen, die mehr an sich halten, die haben eben „Hemmungen”. Was ia schließlich auch stimmt, nur der verächtliche Ton dieser Feststellung ist falsch. Nicht aber stimmt, daß Hemmungslosigkeit; nun. die richtige Haltung sei. Aber man mache das einem solchen Augeilblicksmenschen begreiflich! Er findet eine mehr zurückhaltende Art langweilig, öd, steif, spießerlich, albern. Als Kind konnte er nicht verstehen, daß jemand eine Tafel Schokolade monatelang unangeknabbert in der Lade liegen hat, jetzt scheint ihm ein längeres Warten auf die Genüsse des reiferen Lebens ebenso widersinnig. Wozu ist denn schließlich das alles da? Und er fragt herausfordernd, wieso die anderen ihre Art als vorbildlich erklären dürfen. Es sei eben ihre Art und seine Art sei eben seine. Er verlange ja auch nicht, daß alle seine Art annehmen sollten, obwohl diesen braven Bürgern ein Schuß davon recht gut täte.

Nun, jeder Mensch hält zunächst seine Art für richtig und wundert sich über die anderen. Die Frage ist, ob man bei diesem Zustand stehenbleiben darf Ein Zeichen der Reife ist unter anderem, daß der Mensch eine ihm fremde Art nicht von vornherein als unmöglich abtut, sondern sie verstehen und sogar schätzen lernt, wenn sie überhaupt schätzenswert ist.

Sich verschenken können

Sonderbar ist, daß hemmungslose Menschen — wenn ihre Art sich nicht in niedrigen Formen äußert — recht beliebt sind. Sie sind ja auch rasch zur Hilfe bereit, langweilig sind sie selten,, sooft man sie trifft, begrüßen sie einen mit einem neuen Plan und einigen neuen Erlebnissen und Schicksalswendungen. Sie sind lebendig, sehr lebendig, und das hat man immer gern. Doch aus einem viel tieferen Grund sind sie anziehend: sie sind nicht sparsam mit sich selbst, sie können sich verschenken. Und sie nehmen dabei wenig Rücksicht auf sich selbst. Damit aber haben sie einen beneidenswerten Vorzug vor vielen anderen, die allenfalls vom Ihren hergeben, aber sofort zurückweichen, wenn es um sie selbst geht. Da haben sie nämlich eine Hemmung (!), und zwar eine, die wahrlich nicht leicht beseitigt werden kann. Das Ich ist beim Menschen das Letzte, was er hergibt. Ein Wall von Sperren umgibt es, und es braucht viel ehrliche Mühe, bevor das Ich durchbricht und wirklich den Weg zu einem Du findet, sei es nun Gott oder ein Mensch. Diese Sperren sind beim Hemmungslosen eher locker, weil alle Sperren bei ihm locker sind. Er geht leicht aus sich heraus und in den anderen ein. Nur läßt er sich ebenso leicht aus dem anderen wieder herauslocken. Treue ist nicht seine starke Seite. Immerhin: ein Hindernis der Liebe (lieben heißt armen Teufel, der seiner Haltlosigkeit ausgeliefert ist, jede Möglichkeit zum Stehenbleiben aus der Hand zu winden („Das bringst du ja doch nicht fertig”), ihm einzureden, daß er so sein müsse und nie anders werden könne, und ihn so immer gefügig zu erhalten. Ob das im privaten Bereich geschieht, bei Musik und Barbeleuchtung, oder durch Hetzreden bei Aufmärschen, das kommt auf das gleiche heraus. Auf jeden Fall bekommt er einen Tritt tiefer in die Haltlosigkeit hinein.

ja sich verschenken) ist bei ihm von Natur aus nicht stark entwickelt. Ist das nicht ein Vorzug? Wo andere sich mühsam jedes Stückchen ihrer selbst abringen müssen, schenkt er bedenkenlos und rückhaltslos das Ganze, und dies erscheint ihm selbstverständlich.

Aber an wen?

Nun ist aber das Verhängnis: wenn wir in einen Menschen eingehen, so nehmen wir immer ein Stück von ihm an und behalten es. Es ist nicht immer nur ein Abfärben, es geht oft genug in die Tiefe. Wer sich hemmungslos an viele verschenkt, trägt von jedem etwas in sich. Das ist an sich schon ungut. Die Menschen sind verschieden, und so trägt er auch viel Entgegengesetztes und einander Widersprechendes in sich. So kommt er doch zu Hemmungen, aber zu ungesunden: sie lassen nicht leicht eine klare Lebenslinie zustande kommen. Aber das Aergere ist: wer gibt Gewähr, daß er immer an wertvolle Menschen gerät? Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die nach dem Sündenfall der Stammeltern gilt, wird eher das Gegenteil der Fall sein. Hemmungslose sind gut zu gebrauchen, sie überlegen ja nie lange und gehen auch auf bedenkliche Ziele ohne viel Bedenken ein: welche Werkzeuge für Leute mit bedenklichen Zielen! Mögen es nun politische Abenteuer sein, dunkle Geschäfte, Verbrechen, Vergehen oder billige Vergnügungen: ¿er Hemmungslose gibt leicht den Partner ab, verliert an diesen Dingen ein Stück des Guten, das in ihm ist, und trägt überdies eine üble Prägung davon. Den Ausnützern seiner Art ist ferner viel daran gelegen, daß er sie ja nicht verliere, sie haben ja etwas davon. Deshalb bestärken sie ihn natürlich in ihr. Es gibt nicht leicht etwas, das widerlicher wäre als dieses Bestreben: einem

Hoffnungslosigkeit und Hoffnung

Viele Hemmungslose verteidigen ihre Art verbittert, aber mehr aus Trotz. Nach einigen üblen Erfahrungen wissen sie ja doch, daß es mit ihnen aufwärtsgeht. Und dann kommt eine furchtbare Zeit für sie. Sie wollen stehenbleiben, aber es gelingt ihnen nicht. Sie mühen sich wohl, aber was hilft das, wenn nach einiger erfolgreicher Zeit regelmäßig ein schwerer Rückschlag kommt und alles Hoffen wieder zerschlägt? Womöglich kommen dann weise Ratgeber und sagen: Du mußt nur wollen, dann geht es schon. Schön gesagt, aber sie haben ja gewollt, und es ist nicht gegangen. Daran liegt es ja, daß sie nicht recht wollen können.

Aber vielleicht könnten sie doch! Es kommt sehr oft nur darauf an, daß sie den richtigen Beweggrund zum Wollen finden. Wenn sie einmal von einem Ziel in Besitz genommen werden, dann kann dieses Ziel so stark wirken, daß es jedes Nebenziel ausschließt, und damit ist schon eine Fülle von Hemmungen gewonnen. Wer aber könnte sich einer Aufgabe, einem Ziel so vorbehaltlos hingeben wie gerade der Hemmungslose? Es ist ja seine Art, daß er nichts zurückbehält. .

Die Schwierigkeit liegt hier vor allem darin, das Ziel, das persönliche Lebensziel, zu finden. Und die zweite: kann er diesem Ziel auch nachgehen, ist es ihm nicht aus äußeren Gründen unmöglich?

Das gilt für den natürlichen Bereich. Eine Gnade ist es, wenn er den findet, der jeden Menschen ausfüllen kann: Gott. Wer Gott „hemmungslos” dient, der kann groß werden im Reiche Gottes. Vielleicht gehörte die heilige Maria Magdalena zu diesen Menschen. Vielleicht war ihr Leben als öffentliche Sünderin ein hemmungsloses Suchen nach Erfüllung? Als sie in Christus diese Erfüllung gefunden hatte, kannte sie in dieser neuen, guten Richtung auch keinen Rückhalt. Als Jesus bei dem Pharisäer Simon zu Gast war und man absichtlich die Pflichten der Gastfreundschaft — Friedenskuß, Fußwaschung und Salbung — unerfüllt gelassen hatte (Simon hatte wohl Hemmungen), kam sie herein, ohne Rücksicht darauf, daß sie als Frau in dieser Gesellschaft von Schriftgelehrten und Pharisäern nichts zu suchen hatte, ohne Rücksicht darauf, daß sie als Fremde und schon gar als Sünderin sicher nicht berufen war, die Verfehlung gegen die Gastlichkeit gutzumachen. Sie bekannte sich hemmungslos zu Jesus, und das war nicht ungefährlich. Aber darnach fragte sie nicht (Lk. 7, 36 ff.).

Gott will diese volle Hingabe an Ihn. Wer sie leistet, dem ist schon damit verziehen, daß er sich vorher an anderes und andere verschenkt hat. „Deine Sünden sind dir vergeben, dein Glaube hat dir geholfen, geh hin in Frieden.” Das ist der Weg, der Hemmungslose zur Heiligkeit führen kann: zum Glauben zu finden, zum wirklichen, persönlichen Glauben an den persönlichen Gott. Menschen dieser Art ist mit Gedanken nicht viel gedient. Sie müssen Gott finden, nicht einen Gottesbegriff, schon gar nicht ein moralisches System. Hemmungslose sind immer tief entmutigt. Hält man ihnen das harte Gesetz entgegen, dann werden sie noch mutloser und noch hemmungsloser. Wenn sie über’ Gott wirklich “finden, vor allem Gott, der sich in Christus gezeigt hat, dann kann diese Begegnung alle anderen auslöschen. Und durch ihre Hingabekraft können sie dann die kargen, gehemmten Christen weit übertreffen.

Geduldige Hilfe

Es ist eine ¿roße Tat, mitzuhelfen, daß aus einer öffentlichen Sünderin eine Heilige wird. Leicht ist es freilich nicht Dieses Volk ist so schrecklich lebendig Wer nur für einen regelrechten Aufbau begabt ist, der soll sich mit Hemmungslosen lieber nicht abgeben. Es ist schwer zu ertragen, wenn immer wieder das mühsam Aufgebaute zusammenrumpelt. Und es ist schwer, dann nicht an bösen Willen zu glauben. Der ist aber oft wirklich nicht da, es sieht nur so aus. Ein Mensch mit einigem Rückgrat kann freilich nicht verstehen, daß ein anderer haltlos hin und her wankt und gleich wieder umfällt, wenn er auf die Füße gestellt worden ist. Und er wird vielleicht zornig und fährt den anderen an: So bleib doch endlich einmal stehen! Ja, wenn er es nur könnte! Es bleibt also nichts anderes übrig, als ihn immer wieder aufzuklauben in unbesiegbarer Geduld. Es sieht fast so aus, als müßte der Helfer am eigenen Leib die fehlenden Hemmungen des anderen ersetzen und überersetzen. Ungutes kann eben nur durch Gutes aufgewogen werden. So aber kann die Mühe mit solchen armen Menschen dem Helfer selbst helfen. Er lernt Geduld, er lernt Enttäuschungen ertragen, er lernt eine fremde Art kennen. Er muß aus sich selbst und seiner Art heraus und sich in eine ihm fremde hineindenken lernen. Das tut dem Menschen immer recht gut. Er verliert eine gewisse seelische Sprödigkeit und wird beweglich. Der Hemmungslose -duldet kein bürokratisches Vorgehen. So zwingt er den anderen, seine seelische Bürokratie (man nennt das auch Pharisäismus) oder die Neigung dazu aufzugeben.

Aussichtsloser Kampf

Der Hemmungslose selbst hat freilich eine schwere sittliche Leistung zu vollziehen. Er muß es von vornherein aufgeben, mit Erfolgen zu rechnen. Die lassen nämlich gewöhnlich lange auf sich warten. Doch ist schon ein - tändiges Bemühen um Erfolge, trotz aller Rück schlage und Entmutigungen, eine sittliche Hochleistung erster Art. Es ist schließlich keine große Kunst, etwas anzustreben, wenn man Abend für Abend die Fortschritte buchen kann. Aber Abend für Abend mit einem Fehlbetrag abzuschließen und es dennoch nicht aufzugeben, das ist dann reiner Gehorsam. Der Mensch selbst hat ja gar nichts davon, nicht einmal das Bewußtsein, vor sich selbst gut dazustehen, im Gegenteil. Aber die Ersten werden die Letzten und die Letzten die Ersten sein. Es kann sein, daß ein Haltloser nach außen ein fürchterliches Leben führt. Dieses Leben sieht man. Man sieht aber nicht, daß er sich dieses Lebens und seiner Art schämt, daß er ehrlich dagegen kämpft, daß er Gott treu bleiben möchte, es aber nicht fertigbringt. Unmittelbar an den Vorsatz schließt sich die Sünde an. Es gehört viel guter Wille dazu, dennoch den Vorsatz zu erneuern. Viel guter Wille: ist das nicht alles?

Beim Hemmungslosen kommt alles darauf än, daß er ehrlich vorgeht und sich nicht selbst etwas vormacht. Kann er vor Gott bezeugen: Herr, Du weißt (und vielleicht nur Du weißt es), daß ich mich ehrlich bemühe —, dann schaut Gott nur auf diesen guten Willen und nicht auf die Mißerfolge. Diesen Blick sollte aber der Hemmungslose von Gott lernen. Wenn er sich nämlich immer wieder seine Mißerfolge vor Augen hält: die sind wahrlich kein Antrieb, anders zu werden. Dieser Blick entmutigt ihn noch mehr. Der gute Wille, wenn er sich auch nicht recht durchsetzen kann, ist immerhin etwas Festes in seiner Seele. An diesem festen Punkt wird sich allmählich auch alles andere festigen.

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