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Die lersäutnnisse des Augenblicks

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Eine Kurzgeschichte des FURCHE-Lesern bekannten Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Erich Wolfgang Skwara

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Eine Kurzgeschichte des FURCHE-Lesern bekannten Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Erich Wolfgang Skwara

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Vor etwas mehr als einem Jahr war er in Rio de Janeiro bei einem Kongress gewesen. Es war seine erste Reise nach Brasilien und überhaupt nach Lateinamerika und in die südliche Hemispähre gewesen, er hatte sich acht Tage in einem Hotel am Strand der Copacabana aufgehalten und man hatte ihn gewarnt, allzu leichtsinnig aus dem Hotelgebäude zu gehen. Doch der Kongress hatte ihm für eigene Unternehmungen auch kaum Zeit gelassen.

Aber einmal, an einem Nachmittag, nachdem er, denn er hatte sich von den Warnungen beeindrucken lassen, seine Wertsachen, auch seine Armbanduhr und seinen Ring im Hotelsafe hinterlegt hatte, war er dann doch erst den Strand entlang und später in die Stadt gegangen. Er hatte sich unter den Menschenmengen. die an ihm vorbeigelaufen waren, sogleich wohl gefühlt, er hätte sie gern besser kennengelernt, aber natürlich sprach er mit niemandem. Er aß in einem volkstümlichen Gasthaus zu Abend, auch da wurde er weder beäugt noch belästigt, er durfte sich einbilden, er gehöre dazu. Die Menschen waren in der Mehrheit angenehm, sie waren nicht schön, oder genauer: Jede Schönheit hatte ihren groben Zug mit dabei, aber sie erregten ihn nicht. Er begehrte viele, er wollte sie alle haben, was immer das heißen mochte.

Aber er war schließlich allein ins Hotel zurückgekehrt und der Kongress fraß die restlichen Tage und dann brachte ihn eine Limousine - von gewöhnlichen Taxis hatte man ihm schon wieder abgeraten - zum Flughafen und er bestieg die Maschine und flog davon. Es war Nacht. Am nächsten Morgen war er wieder in seinem Norden in einem gewohnten Land. Er gab sich dem Alltag hin.

Und jetzt, plötzlich, und ohne äußeren Anlaß, möchte er heulen vor Schmerz über jene versäumten Menschen an jenem Nachmittag und Abend. Er will sie kennenlernen, aber wenn er auch mit dem nächsten Flugzeug nach Rio fliegen und sich auf die gleichen Straßen jenes Nachmittagsbummel und ins gleiche Gasthaus seines Abendessens begegben würde, so könnte er doch niemals wieder denselben Menschen begegnen. Er weiß das, aber er findet sich nicht ab damit. Er möchte verzweifeln vor Bedauern, er wird schwer von Schuld, er muß sein Verbrechen wieder gutmachen, sein Verbrechen, das darin besteht, daß er damals nur geschaut und nicht teilgenommen hat.

Aber was bedeutet und worin besteht Teilnahme? Er weiß keine Antwort darauf. Seinem Verbrechen fehlt das Fleisch, doch er ahnt, daß es nur um das Fleisch geht, und er hat nicht im Geistigen versagt, sondern im Körperlichen, und er möchte wissen, was es bedeutet, wenn in alten Schriften zu lesen steht: Einer zerriß sein Gewand und raufte sich das Haar vor Schmerz. Er wüßte nicht einmal, wie er das anpacken sollte, sein Schmerz ist zu unsichtbar für die Welt, in der er lebt, und seine Kleidung zu unzerreißbar für ihn, den Schuldigen.

Er will die Menschen jener Straßen jenes Nachmittags wiederhaben, nichts anderes will er und kein Ersatz kann ihn trösten. Er will jene Stunde zurück erhalten, aber hätte er sie, auch das weiß er, würden jene Passanten mit ihm nichts gemein haben wollen. Sein Wunsch ist unvernünftig und unerfüllbar und sein Versäumnis ist dennoch die einzige Wirklichkeit, die ihn aus- füllt. Wie kann er weiterleben? Er kann es nicht, aber er lebt, leben wird er, der nicht weiterleben kann.

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