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Ein Viertelstündchen

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Das Einschlafen, auch Einnicken, Einduseln und so weiter genannt, gehört zu den merkwürdigsten Fähigkeiten des Menschen. Man stelle sich vor, daß ein ausgewachsener Industriekapitän, Chauffeur oder Betriebschemiker, der soeben noch die verzwicktesten Kombinationen von zwei mal zwei ist vier gelöst hat, sich plötzlich auf die Seite legt, aufseufzt, um zusehends den Aspekt eines schnarchenden Sackes Kartoffeln zu gewinnen — man stelle sich das vor, und man wird zugeben, daß hiermit die phantastischesten Stellen eines Mondromans überboten sind. Es wäre anzunehmen, daß hier ein offenbarer Fall von Force majeure vorliegt, wüßte man nicht, daß eben dieser Industriekapitän, Chauffeur usw. die Metamorphose nicht nur widerspruchslos über sich ergehen läßt, sondern oftmals geradezu herbeizwingt, und zwar durch Reiben der Augen, Lektüre von Tatsachenberichten, Zählen von Schäfchen oder Schlucken von garantiert unschädlichen Tabletten. Und das Erstaunlichste ist, daß sie, die doch im wachen Zustand Wert darauf legen, sich durch Gehaltsklasse, Rang, Ruhm, Persönlichkeit oder Bartwuchs von ihren Mitmenschen abzuheben, daß sie also plötzlich darnach gieren, alle in denselben Sack Kartoffeln verwandelt zu werden, der die Devise „Mann ist Mann“ auf vorbildliche Weise erfüllt. Das alles wäre bereits seltsam genug. Kaum glaublich ist jedoch die Tatsache, daß dieser Sack eben damit Fähigkeiten gewinnt, die über jene des Industriekapitäns, Chauffeurs oder Betriebschemikers weit hinausgehen: Er, der Sack, beginnt zu träumen, mehr noch, wird zu einer Antenne des Übernatürlichen, hört Prophetien, wird von Verstorbenen besucht und erblickt Lotterienummern, die zuweilen wirklich als Treffer herauskommen. — Finde sich darin zurecht, wer kann.

Nun wäre das alles recht schön, wenn es nicht einen Haken hätte: daß man nämlich oft dann einschlafen soll, wenn man es nicht kann, und infolgedessen dann muß, wenn man es nicht soll. Denn das Unglück will, daß die meisten öffentlichen Gelegenheiten einen um so mehr zum Schlaf einladen, je weniger sie ihn gestatten: Predigt, Theater, Büro, Gerichtssaal, Parlament — alles ebensoviel herrliche Schlafchancen, überredend wie Ammenmärchen mit rauschendem Geplätscher — und nun der flammende Erzengel vor dem Kartoffelkeller des Unbewußten: du darfst nicht! Man kann sich da die größten Unannehmlichkeiten zuziehen. Der Predigtschlum-mer könnte immerhin noch durch tiefe Andacht camoufliert werden, doch ein Kohlenbergmann roch dabei einst den Weihrauch in der Nase, träumte, er sei die brennende Lunte der Gesteinssprengung, und fuhr mit dem beruflich pflichtgemäßen Schrei „Es brennt!“ in die Höhe — worauf bei der Panik mehrere Menschen zerquetscht wurden und er in Gewahrsam kam. Auch kannte ich einen geistvollen Mann, der bei Bühnenstücken einzuschlafen pflegte, weshalb er nur selten ins Theater ging. Einmal aber ging er doch, weil ihn der Autor sehr gebeten hatte, und als ich den Zuschauerraum betrat, bot sich folgendes Bild: Von der Logenbrüstung hingen kraftlos zwei Arme und ein eingeschla-fener Kopf herab, unten im Parterre dagegen herrschte Aufregung, weil ein fallender Operngucker einen dicken Herren auf die Glatze getroffen hatte. Besonders aufreizend aber wirkt ein Nickerchen im Parlament. Einem englischen Premierminister widerfuhr es, daß das soeben redende Oppositionsmitglied ausrief: „Selbst jetzt, in diesen Gefahren, ist der edle Lord eingeschlafen!“ — „Ich wünschte, ich wäre es“, gab der Premier schläfrig zur Antwort.

Ganz furchtbar jedoch ist das Schlafen im Büro, denn abgesehen von dem Schaden für die Volkswirtschaft wird man hier doch gerade dafür bezahlt, daß man nicht schläft — und nun klappert das Blei in den Augendeckeln, vor dem Meer von Schläfrigkeit wird der brechende Be-wußtseinsdamm immer wieder notdürftig zugestopft, und endlich sinkt der Oberkörper in kleinen Rucken, wie ein Sekundenzeiger von 12 bis 6, bis der Schnabel auf den Tisch pickt, so daß man wieder hochfährt und das Spiel von neuem anhebt... eine chinesische Marter. Oh, ich kenne das, ich bin selber in'einem Büro gewesen. Dort war einer einmal eingeschlafen, das Kinn klebte fest auf der Konstruktionszeichnung, und eh wir ihn wecken konnten, ging die Tür auf und der Chef mit noch einem großen Tier herein — aber leise, wie Chefs meistens gehen: offenbar wollte er dem großen Tier die Vorzüglichkeit seines Büros demonstrieren. Das Zimmer stand voll Schlaf und atemloser Spannung. Jetzt war er bis zum Schläfer gekommen (gerade ihn hatte er was zu fragen), jetzt faßte er ihn am Arm ... welch ein Erwachen, Plieräugigkeit plus Entsetzen, und nun noch exakte Antworten geben!... Taktvoll verließen die beiden Großen den Raum. Stille. Endlich aus dem Hintergrund eine plärrende Stimme: „Im Büro eingeschlafen, und sich dann noch vom Chef wek-ken lassen!...“ Der pointierteste Satz, den ich je gehört habe.

In der Tat, das neuere Leben mit seiner vielfachen Beanspruchung, die sich etwa in der Devise „Schlaf schneller, Genosse!“ ausspricht und in ihrer Wirkung zuweilen dem Stich d-r Tsetsefliege gleichkommt, kann einen Zustand hervorbringen, den man als gestraffte Somno-lenz bezeichnen darf. Zum Beispiel mußte jemand dringend ein Filmehepaar sprechen: Er fragt am Morgen an — die Herrschaften sind auf dem Tennisturnier; am Abend — im Theater; um Mitternacht — wieder auf der Probe. Da erkundigt er sich: „Wann schlafen denn die Herrschaften?“ Der Portier: „Eigentlich immer.“ Vielleicht bewirkt dieser Zustand das interessante Phänomen des Aus-dem-Schlaf-Redens. Dem gewöhnlichen Aus-dem-Schlaf-Reden verdanken Ehehälften bekanntlich die wertvollsten Aufschlüsse, weil da zuweilen eine Liesi genannt wird, die in wachem Zustand gar nicht vorkommt. Etwas Ähnliches kann nun auch im Schrifttum passieren. So gab es vor Jahrzehnten ein Erpresserblatt, dessen Chef aber bereits das Gefängnis drohte. Die Leitartikel waren noch sehr triumphierend geschrieben, doch die Metaphern, die Bilder, die darin gebraucht wurden, sie kreisten bereits alle um die Gefängnissphäre: immerfort wurden Kerkerluft, Kreuzverhöre und Ratten zum Vergleich herangezogen ... das nennt man dann aus dem Schlaf reden. Aber der Mensch ist so verderbt, daß er auch künstlich aus dem Schlaf redet, weil dieser Immunität verleiht. So gab es vor Jahren in Livland eine Schule, deren unbeliebter Leiter nachts die Schlafsäle inspizierte. Da taten die Jungen folgendes: Wenn er mit der Kerze hereinkam, so mimten sie „unruhigen Schlaf“. Trat er nun ans Bett, so wurden die wirr geflüsterten Worte deutlicher: „... dieser Schuft... dieser (jetzt kam sein eigener Name)... der hat ja dreißig Ohrfeigen verdient... dreißig sonore Backpfeifen ...“ usw. Weckte er sie aber wütend auf, so wußten sie von nichts, und er konnte nichts tun. Wenn man aber schlafen soll und nicht kann, so heißt es, sich einschläfern. Das ist der einzige schöne Selbstmord, wie Jean Paul sagt, der süße Eintagstod. Die unschuldigsten Mittel sind das Betthupferl, das Zahlenzählen, Brom, Ammenmärchen und Lektüre. Der Mensch würde sich für einen Gott halten, wenn er nicht schliefe, doch eben darum windet er sich in Schlaflosigkeit wie ein Wurm und bettelt um Nichtsein. Auf Adam aber ließ der Herr einen tiefen Schlaf fallen, als er ihm das nahm, was dieser seitdem suchen sollte: den schönen Mangel. Es war die erste Operation unter Narkose und zugleich, wie behauptet wird, des Mannes letzter ruhiger Schlaf. Man will sich ins Schneckenhaus des Schlafes zurückziehen, man nimmt instinktiv die Stellung des Kindes im Mutterleib oder des Skeletts im Hockergrab ein, man fleht um Pflanzendasein als nirwanalechzender Buddhist — aber das hilft alles niehts, denn entweder ist man zu müde, um einzu schlafen (das gibt es), oder zu wach, und die Lebenskerze bleibe an beiden Enden angezündet... Das ist, im Gegensatz zur afrikanischen Schlafkrankheit, die europäische Wachkrankheit: ein wundes LI-Boot müht sich vergebens, unter den Bewußtseinsspiegel zu tauchen. Hier ein unschädliches Mittelchen, das ich bei Karl Kraus gefunden habe: „Man zeichne die Figuren in die Luft, die der Schlaf am liebsten hat; ohne das absurdeste Spielzeug steigt er nicht ins Bett: ein Kalb mit acht Füßen, ein Gesicht, dem die Zunge bei der Stirn heraushängt, oder der Erlkönig mit Krön und Schweif. Man stelle die Unordnung her, die der Schlaf braucht, ehe er sich überhaupt mit unsereinem einläßt... Nichts imponiert dem Schlaf mehr. Ich habe das Experiment oft bei wachstem Bewußtsein unternommen, und es gelang so vollständig, daß ich mir das Gelingen nicht mehr bestätigen konnte.“

Doch wer weiß, vielleicht genügt dem Leser auch schon die Lektüre des vorliegenden Artikelchens; Schreiber dieses spürt jedenfalls, daß er selbst bereits anfängt, wunderbar schläfrig zu werden... die Welt versinkt — die Uhr tickt — das Kopfkissen ist zurechtmodelliert --und ich wünsche Ihnen allen angenehme Ruhe.'

Andreas Gryphius

UBER DIE GEBURT CHRISTI

Nacht, mehr denn lichte Nacht und lichter als der Tag! Nacht, heller als die Sonn', in der das Licht geboren, Das Gott, der Licht in Licht wohnhaffig, ihm erkoren!

O Nacht, die alle Nächte und Tage trotzen mag!

O freudenreiche Nacht, in welcher Ach und Klag' Und Finsternis, und was sich auf der Welt verschworen, Und Furcht und Höllenangst und Schrecken war verloren!

Der Himmel bricht, doch fällt nunmehr kein Donnerschlag. Der Zeit und Nächte schuf, ist diese Nacht ankommen Und hat das Recht der Zeit und Fleisch an sich genommen

Und unser Fleisch und Zeit der Ewigkeit vermacht. Der Jammer trübe Nacht, die schwarze Nacht der Sünden, Des Grabes Dunkelheit mufj durch die Nacht verschwinden.

Nacht, lichter als der Tagl Nacht, mehr denn lichte Nacht!

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