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Ein Wort für die moderne Musik

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Mit Bedauern habe ich festgestellt, daß die meisten Menschen Musik als eine Art Couch benützen: sie möchten weich gebettet, entspannt und ob der Mühsale des Alltags getrösjt werden. Ernste Musik aber sollte niemals als Baldrian dienen, sondern den Hörer wachrütteln, anregen, aufstacheln, ja möglicherweise sogar erschöpfen. Wenn man um der Erschütterung willen bereit ist, ins Theater zu gehen oder ein Buch zu lesen, warum verlangt man gerade von der Musik, daß sie eine Ausnahme mache?

Was will der Komponist? Es geht ihm darum, Gedanken, Gefühle oder überhaupt einen gewissen inneren Zustand auszudrücken, mitzuteilen und in bleibende Form zu bringen. Diese Gedanken bilden sich in deT Berührung der Persönlichkeit des Künstlers mft der Umwelt Das so entstandene Kunstwerk müßte den Menschen der Zeit unmittelbar ansprechen, unmittelbarer als deT künstlerische Ausdruck früherer Epochen.

Meine Liebe zu Chopin und Mozart ist nicht geringer als die anderer Musikfreunde. Aber sie hilft mir wenig, wenn ich mich hinsetze, um zu komponieren. Denn ihre Welt ist nicht die meine, und ihre Sprache ist eine andere als unsere. Die Prinzipien, die ihrer Musik zugrunde liegen, sind heute zwar noch genau so gültig wie damals. Aber das Entscheidende ist, daß man mit diesen selben Prinzipien in einer anderen Zeit notwendigerweise zu ganz anderen Ergebnissen gelangt.

Wenn man ein anspruchvollerss Musikwerk unserer Tage kennenlernen will, muß man sich zunächst über die Absichten des Komponisten im klaren sein. Ferner muß man bereit sein, sich mit einer durchaus neuartigen Behandlung der Elemente — Harmonie, Melodie, Timbre und Aufbau — auseinanderzusetzen. Es gehört zum Wesen der westlichen Musikgeschichte, daß unser Gehör dauernd seine Fähigkeit erweitert, Akkorde als wohtönend zu empfinden, die früher einmal als schmerzhaft dissonant galten. Harmonien, die zu Zeiten Monteverdis als ungewöhnlich und bizarr empfunden wurden, akzeptierten die Musikfreunde späterer Epochen als selbstverständlich. Unsere Zeit hat diesen Vorgang allerdings beschleunigt. Heute darf jeder Akkord genommen werden, vorausgesetzt, daß er dem Zusammenhang der Komposition entspricht. Wenn jemand die neue Musik wegen ihrer „Dissonanzen“ abstoßend findet, so beweist er damit, daß er einer gewissen Schulung bedarf, die durch unvoreingenommenes Hören leicht gewonnen werden kann.

Ist es wahr, daß die modernen Komponisten der Melodik weniger Beachtung schenken? Nein, dies ist keineswegs richtig. Freilich muß man berücksichtigen, daß die Vorstellung von Melodik sich ein wenig geändert hat. Der Begriff „Melodie“ ist beim Durchschnittsmenschen zumeist eng begrenzt. Melodie ist jedoch nicht nur das, was jeder gleich summen kann. Unter Umständen kann sie dafür viel zu kompliziert sein, zu verschlungen, zu vielfältig oder zu fragmentarisch. Sie kann auch weit über den

Umfang der menschlichen Stimme hinausgehen.

Ein großer Teil der Schwierigkeiten beim Abhören moderner Musik kann auf harmonische Probleme zurückgeführt werden. Viele Zuhörer verlieren sich im Gewebe der ihnen noch nicht vertrauten Klänge, so daß sie die einzelnen Melodien überhaupt nicht aufnehmen. In der ernsten Musik unserer Tage überwiegt der Kontrapunkt, der die volles Aufmerksamkeit des Hörers beansprucht. Manche Komponisten — übrigens nicht nur Zeitgenossen — haben zweifellos in dieser Richtung etwas zu viel verlangt.

Und schließlich wird immer wieder gesagt, daß die moderne Musik nur vom Verstand her bestimmt und ohne Gefühl sei. Wer diese Meinung vertritt, wendet Maßstäbe an, die wirklich nicht passen. Die meisten Musikfreunde sind sich nicht darüber klar, in welchem Maße sie dem Zauber der Romantik verfallen 9ind. Unser breites Konzertpublikum ist so weit, daß es die Musik des 19. Jahrhunderts mit Kunst überhaupt gleichsetzt. Man übersieht vielfach die Tatsache, daß auch schon einige Jahrhunderte vorher große Musik geschrieben worden ist. Und ein wesentlicher Teil der gegenwärtigen Musik hat gerade an die vorklassische und vorromantische Musik eine sehr viel engere Bindung. Sie ist also auch nicht so ganz ohne Tradition.

Der heutige Leser erwartet von Gide oder Eliot keineswegs, daß sie ihre Gefühle und Gedanken in der Sprache Victor Hugos oder Walter Scotts zum

Ausdruck bringen. Warum verlangt man also von Bela Bartok oder von Milhaud, daß sie mit Schumans oder Tschaikowskys Stimme singen? Wenn ein zeitgenössischer; Musikstück den Hörer trocken und zerebral anmutet, so besteht ein berechtigter Grund zu der Annahme, daß dieser Hörer nicht willens ist, mit seiner eigenen Zeit zu leben. Zumindest was l;e Musik angeht.

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