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Eyskens beerbt Eyskens

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Belgien durchlebt seit einigen Monaten eine schwere Krise. Seit langem hatten sich die Anzeichen eines aufziehenden Gewitters gezeigt; doch man nahm sie nicht allzu emst. Die Überzeugung, daß sich alles wieder einrenken werde, stützte sich auf die Erfahrung, daß dieses Land immer wieder die ärgsten Prüfungen überstanden hat und daß es aus ihnen stets reicher, glücklicher als zuvor herausgegangen ist. Von sanguinischem Charakter konnte das „große kleine Volk“ — wie ein Schweizer Autor mit leicht iwfcischr.'gefärbter,: liebender Betwaidefung; diai Belgier genannt hat — nie recht glauben, daß die es plagenden Übel von Dauer sein würden. Die Ereignisse schienen derlei Optimismus zu rechtfertigen. Belgien erholte sich unerhört schnell von seinen Kriegswunden; es war das erste in die Weltkatastrophe von 1939 bis 1945 verwickelte Land, das zum Friedenswohlstand zurückkehrte und das sein Daseinsniveau noch über das vor Ausbruch der Feindseligkeiten erhöhte.

Das öffentliche und das private Geschehen waren jedoch durch dreierlei Unheilquellen chronisch bedroht: durch Gegensätze, die nicht beseitigt, wohl aber überbrückt zu werden vermochten; zwischen Wallonen und Flamen niederländischer Sprache, zwischen Gläubigen — hier faktisch nur Katholiken — und Ungläubigen, zwischen Unternehmern und sonstigen Kapitalisten einerseits, Angestellten und Arbeitern anderseits. Dazu gesellte sich, neue böse Gabe aus einer belgischen Pandorabüchse, als viertes die Königsfrage. Belgien hat alle diese Gefährdungen des inneren Friedens und des Wiederaufbaues erstaunlich schnell überwunden. Der nationale Streit ist nach Kriegsende nicht mehr mit der Heftigkeit der zwanziger und dreißiger Jahre aufgeflammt. Die sozialen Gegensätze waren bis über die Mitte deT fünfziger Jahre kaum zu spüren; der Kommunismus, unmittelbar nach 1945 zu einer kurzen Scheinblüte gelangt, sank zur Bedeutungslosigkeit herab. Das zeitweilig als unlösbar geltende Schulproblem, an dem sich der Streit zwischen Katholiken und Freidenkern entzündete, wurde durch ein Kompromiß geregelt. Die Königskrise um Leopold III. wurde im Moment, da bürgerkriegsähnliche Zustände befürchtet wurden, durch die Abdankung des Herrschers aus der Welt geschafft. So meinten denn die Belgier, auch in der „Kolonie“, im Kongo, müsse alles zuletzt in Minne geordnet werden.

Als sich die Entwicklung im Kongo überstürzte und einem nirgends vorausgesehenen tragischen Chaos zustrebte, wurden gegen die Belgier drei Hauptvorwürfe erhoben: sie hätten das riesige afrika..'jche Gebiet gemäß dem Kolonialsystem behandelt, das -heißt ausgebeutet; sie wären zu spät bereit gewesen, dieses Regime zu ändern; endlich, sie seien dann zu schnell aus allen ihren Positionen geschieden, ehe die Dinge zu einem derartigen Rückzug reif waren. Zuletzt lastete man den Belgiern noch an, sie seien bei ihrem eiligen Abgang doch zu langsam gewesen und sie versuchten, sich irgendwie an eine verlorene Stellung zu klammern.

Belgien dankt den Kongo nicht seiner eigenen Initiative, sondern der des Königs Leopold IL, eines genialen, doch im Bereich des Politischen wie in dem des Menschlichen (und manche behaupten, des Unmenschlichen) skrupellosen Monarchen. Er hat die im Zustand ursprünglicher Wildheit befindlichen zentralafrikanischen Territorien-im Zeitalter der Hochblüte des Kolonialismus und des• raffgierigen“'Graßkapitalismuss-fcir worben; mit ähnlichen Mitteln und in ähnlicher Gesinnung wie das Briten, Franzosen, Deutsche, Niederländer und vordem Spanier und Portugiesen getan haben. Durch sein Testament schenkte er den Kongostaat, dessen Souverän er war, Belgien, das nun eine Kolonie erhielt. Sie wurde durch die belgischen Kapitalisten mit reichstem Gewinn ausgebeutet, doch nicht in ärgerer Weise als ähnliches anderwärts durch den weißen Mann geschah.

Über diese egoistischen Prinzipien hinaus schwang sich der opferwillige Idealismus einzelner Verwaltungsbeamter, Ärzte, Lehrer und vor allem der Missionäre, der Klosterschwestern, die das Land und seine Kinder liebgewannen und die mit edler Hingabe sich der Besserung des geistigen und leiblichen Wohlergehens der Eingeborenen widmeten. Es war nun töricht und kurzsichtig, wie heute rückschauend einmütig erklärt wird, sich auf das eben geschilderte Minimum zu beschränken und nicht — wie das die Briten und die Franzosen taten — sei es die einheimische Aristokratie der Stammeshäuptlinge, sei es eine an europäische Hochschulen entsandte Elite von gebildeten Intellektuellen oder beide zu künftigen Machthabern heranzuzüch-ten. Diese hätten, wie die Beispiele Indien, Pakistan, Senegal, Französisch-Kongo erhärten, nach der Loslösung aus der politischen, völkerrechtlichen Unterordnung unter die Kolonialmacht dennoch deren Kultur in sich getragen, und sie wären verstandesgemäß wie gefühlsmäßig mit ihr verbunden geblieben. Sie hätten Interesse daran gehabt, die entsetzlichen Ausschreitungen zu verhindern, von denen das Ende der belgischen Herrschaft im Kongo begleitet wurde.

Unzutreffend ist sodann die Ansicht, man habe zu rasch die Flinte ins Korn geworfen, als der Sturm mit voller Wucht heranbrauste. Da war eben nichts mehr zu holen. Mit den militärischen Machtmitteln, über die Belgien verfügte, und in der wirtschaftlichen Lage, in die es hineinschlitterte, war unter den gegenwärtigen internationalen Verhältnissen kein Widerstand gegen die Geister der Zerstörung möglich. Man kann es den Belgiern wahrhaft nicht verargen, daß sie es unterließen, sich ein zweites Algerien aufzuhalsen. Zudem war die Haltung der USA ähnlich wie.bei der Suezkrise 1956. Sie ist ähnlich geblieben, als es sich darum handelte, die verzweifelten und begreiflichen Bemühungen zu durchkreuzen, in Katanga und sonst auf Umwegen und durch Hintertüren etwas vom belgischen (und europäischen) Kapital zu retten, vor allem aber das Chaos zu mildern und die Reste der Aussaat christlicher Gesittung, humaner Kultur zu beschützen. Der unbefangene Beobachter ist gezwungen, die kongolesische Tragödie als schicksalhaft und unvermeidbar zu erschauen. Unvermeidbar, im Hinblick auf die belgischen Sonderbedingungen und vor allem auf die Weltlage: das einsatzfreudige Machtpotential des kommunistischen' Blocks und die zurückweichende, den Zusammenstoß fürchtende Fried-samkeit des Westens, der für seine Uneinigkeit und seine Schwäche die Belgier als Sündenböcke vorschiebt.

Belgien sieht sich in gewisser Hinsicht einer Schicksalstragödie gegenüber, die der gleicht, von der die Niederlande nach Ende des zweiten Weltkrieges heimgesucht wurden, als sie Indonesien, den größten Teil der dort investierten Kapitalien und die gesamten, aus den südostasiatischen Kolonien herrührenden Einkünfte verloren. Brüsseler Beschwichtigungshofräte trachten, ihren Mitbürgern den ganzen Umfang der wirtschaftlichen Einbußen zu verhüllen und die volle Wahrheit nur allmählich, in Dosen, durchblicken zu lassen. Manche Äußerungen belgischer Verantwortlicher erinnern an das berüchtigte „Alles gerettet“ der Wiener Polizei nach dem furchtbaren Brand des Ringtheatefs, der viele hundert Tote forderte, oder an die Überschrift „Am Abgrund vorbei“, mit der eine führende österreichische Zeitung jenen Zusammenbruch der Creditanstalt ankündigte, der erst den Anfang der finanziellen Weltkrise brachte und die Pforten zum Abgrund öffnete. Es ist jetzt nötig, dem Lande mit schonungsloser Ehrlichkeit zu sagen, daß sieb die gesamte belgische Wirtschaft, voran der Staatshaushalt, umstellen muß; daß keine Schicht der Bevölkerung dabei verschont werden kann und daß große Opfer gebracht werden müssen. Daß nur dann, doch da ohne Zweifel, ein Land mit noch immer sehr ansehnlichen Kapitalien, mit erprobten Wirtschaftsführern, ausgezeichneten Technikern und einer vortrefflichen Arbeiterschaft, mit hochentwickelter Landwirtschaft und mit einem besonderen Talent zur schnellen Anpassung an jede Situation sogar den Ausfall der wichtigsten Quelle se;r>es Reichtums wiedergutmachen wird.

Die entscheidende Frage ist nun. wer den

ihr Portefeuille eifersüchtig hütenden Belgier zuzuziehen, wenn er eine eiserne Sparsamkeit durchsetzt und den bisherigen vergnüglichen Lebensstil um einige Grade hinabschraubt, wenigstens während einiger Jahre. Das Wer bezieht sich dabei nicht nur und nicht einmal vornehmlich auf eine oder mehrere Personen an der Spitze, sondern auch und vor allem auf die Kreise, auf die Parteien, die der Regierung des unvermeidbaren Umbruchs bei deren schwierigem Werk Hilfe und Gefolgschaft leisten werden. Alle, die derlei undankbare Aufgabe zu erfüllen gewillt sind, haben damit zu rechnen, daß sie unter dem Ingrimm der sehr reizbaren Massen wie unter dem der in bezug auf ihre wirtschaftliche Position sehr sensiblen einzelnen Interessentengruppen sehr zu leiden haben werden.

Es wäre freilich verfehlt, in der Auseinandersetzung, die durch die Kongoereignisse in Fluß geraten ist, einzig jenen „coffre-fort“, die symbolische Geldkasse, als Streitobjekt zu betrachten. Sehr vielerlei ist wieder aktuell geworden, das geraume Frist den Leidenschaften entrückt geschienen hatte: der Gegensatz der Flamen und Wallonen, der Kampf der Geister um Religion und Freidenkertum. Vor allem aber steht das Regierungssystem neuerlich auf der Tagesordnung: reine Parlamentsdemokratie oder etwas anderes, das man sich hütet, als das zu bezeichnen, was es wäre. Nicht zuletzt wird auch über die Außenpolitik debattiert. Die Anhänger der NATO sind enttäuscht, „im Stich gelassen“ worden zu sein. Man empfindet die Militärausgaben als überflüssig. So lange hat man vernommen, es heiße nur, stark bewaffnet zu sein, um sich dann der Kriegsmittel nicht bedienen zu müssen. Den Abzug aus dem Kongo hätte Belgien, so glaubt der Durchschnittsbürger, auch weniger kostspielig haben können als um den Preis der Zugehörigkeit zur militärischen Westallianz.

Pessimismus ist gleichwohl nicht am Platz. Belgien besitzt genug innere Kraft, um mit den ihm jetzt, verhängten Prüfungen ebenso fertig zu werden w?e mit den Folgen zweier Weltkriege nach 1918 und nach 1945. Seiner Bevölkerung eignet die unschätzbare Gabe, <.war schnell in Hitze zu geraten, doch auch bald zur nüchternen Ruhe zurückzufinden.

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